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Granny May saß in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda. Die Hügel lagen goldbestäubt von der Herbstsonne da. Bald würden aschehafte violette Flecken auftauchen, die blutigen Stichwunden des Rotahorns. Die Farben würden an Intensität zunehmen, das Gelb sich in flüchtiges Gold verwandeln – die vielen Kronen, die majestätisch und zahlreich zur Sonne zeigten –, bevor die Blätter schließlich braun verfärbt und raschelnd zur Erde fielen.

Das war die beste Jahreszeit für die Wurzelsuche, für das Ausgraben von Rohstoffen, aus denen sie ihre Medizin machte. Die Tees und Tinkturen, Arzneien und Umschläge. Im Sommer brauchten die Pflanzen ihre Energie dafür, Blätter, Blüten und Früchte zu produzieren. Im Herbst versenkten sie ihre Nährstoffe in der Erde, verankerten sich dort, um die harten Wintermonate zu überstehen. Wenn sie durch den Wald ging, war sie von Freunden umgeben. Von Nachbarn. Sie kannte mehr als ihre Namen, kannte die Form ihrer Blätter, winzige Wimpel oder Messer oder Herzen, und die Größe ihrer Knollen, Beeren und Früchte. Sie kannte die dunklen Schluchten, in denen sich manche von ihnen gern versteckten, und die lichten Waldränder, wo sich andere der Sonne entgegenstreckten. Sie kannte den Geruch ihrer Blätter und Wurzeln, rieb sie zwischen den Fingern und schnupperte daran. Es gab Pflanzen, die das Herz oder die Lunge, die Haut, den Darm oder das Blut heilen konnten. Pflanzen, die den Körper reizen oder besänftigen, den Geist anregen oder dämpfen konnten. Es gab Wurzeln, die einem halfen, sich von sich selbst zu lösen oder sich dem Geisterreich zu nähern, und welche, die einen wurzeltief erdeten. Es gab Pflanzen, die töten konnten.

Es gab das Salomonssiegel, das wirbelsäulenförmig in die Erde wuchs, mit perfekten kreisförmigen Wirbeln, für jedes Jahr einen. Es konnte den Magen beruhigen, die Lungen reinigen und eine starke Regelblutung eindämmen. Man konnte es mit der Hand ausreißen. Dann gab es den Sassafrasbaum, dessen Blätter häufig wie Fäustlinge aussahen, den Wasserschierling, der einen grausamen Tod voller Anfälle und Krämpfe verursachte – anders als der Gefleckte Schierling aus Europa, der Philosophen sanft ins Dunkel befördert hatte. Es gab diese und viele andere, ein Wunder an Kräutern und Pflanzen, die über den Berg verstreut und bereit waren, gepflückt zu werden, und dann noch jene, die sie heimlich unter Bäumen züchtete und deren Rauch Schmerzen des Körpers und des Geistes linderte, die Zeit auf Kriechgeschwindigkeit verlangsamte und selbst dem Hartherzigsten ein Kichern entlocken konnte.

An diesem Morgen hatte sie eine siebenblättrige mehrjährige Staude geerntet, die als Hasenklee oder Gemeiner Tarweed bekannt war, wobei sie unter gutem Zureden ihre Pfahlwurzel aus dem feuchten Ufer eines trockenen Flusses ausgegraben hatte, wo ein Bett aus grün bemoosten Steinen den Hang bedeckte. Sie mischte die Wurzel mit Honig und stellte daraus Hustensaft her – um diese Jahreszeit stark nachgefragt – und bewahrte die von Honig umhüllten Wurzelstückchen als Bonbons gegen raue Hälse auf. Sie hatte die feuchte Bergerde von den Wurzeln abgewaschen, und jetzt lagen sie auf einem Holzbrett zum Trocknen in der Sonne, und ihre blassen Arme rollten sich ein wie die Tentakel eines Jungkraken.

Granny lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück, stopfte ihre Pfeife und ließ den Blick über das Hochland, das ihr Zuhause war, gleiten. Ihre Vorfahren waren schon vor langer Zeit in diese Berge gekommen, vor fast zweihundert Jahren. Ihre Familie hatte mit Äxten und Schrotsägen Holz bearbeitet, hatte Hütten nicht größer als Bärenhöhlen gebaut. Sie hatten Hausschweine gezüchtet, die sie frei laufen ließen, damit sie sich an den herabgefallenen Nüssen im Wald satt fraßen, und hatten »Whiskeybäume« – Getreide – angebaut und mit handgemachten Kellen die Maische in riesigen Kupferkesseln umgerührt. Sie hatten in jedem Krieg einer noch jungen Nation gekämpft, sich auf die Seite der Union geschlagen, als der Staat sich abgespaltet hatte, und sie hatten Wurzeln gesammelt und alle Arten von Tieren gejagt, indem sie an den Berghängen gezahnte Fangeisen ausgelegt hatten. Sie hatten getan, was sie konnten, um zu überleben, das Gleiche, was auch sie getan hatte, aber sie waren gestorben wie die Fliegen. Sie waren an Grippe oder im Kindbett gestorben. Sie waren von Totholzästen erschlagen oder von Eseln getreten worden oder hatten sich bei Unfällen mit dem Destilliergerät verbrannt. Ein paar verschwanden in den Wäldern und kehrten nie zurück. Nur wenige starben an Altersschwäche.

Sicher, sie wurde langsam älter. Ihre Schritte waren schwerer als früher, ihre Füße platter, ihre Gelenke bei Wetterumschwüngen empfindlicher. Ihr Haar, das einst schwarz wie eine Krähenschwinge gewesen war – angeblich der Einfluss von Cherokeeblut –, hatte sich zu einem gräulichen Eichenton aufgehellt. Doch ihre hohen Wangenknochen – vielleicht ein weiteres Geschenk ihrer gemischten Herkunft – sanken nicht herab. Und ihr Verstand funktionierte einwandfrei. Zum Teufel mit ihr, wenn sie den je verlieren sollte.

Immer um diese Jahreszeit ertappte sie sich dabei, wie sie an Anson, ihren Mann, dachte, der vor langer Zeit in Frankreich gefallen war. Sie hatte ihn kurz vor dem ersten Frost kennengelernt. Es war eins der Erntedankfeste am westlichen Ende des Countys gewesen, und sie war zusammen mit ein paar Nachbarmädchen hingegangen, wobei einer der älteren Brüder die Kutsche gefahren hatte. Sie war gerade mal vierzehn gewesen. Die Scheune, die im Dunkeln blau wirkte, war im Innern von warmem Licht erfüllt, das wie goldener Whiskey durch Türritzen und kaputte Verkleidung quoll. Fiedler hatten stampfend auf ihren Instrumenten gesägt, ihre Lieder quicklebendig und nur von einer flüchtigen Trauer erfüllt.

Sie trug ein Kleid mit rot-weißem Vichy-Muster, das ihre Mutter ihr genäht hatte, und ihr Haar war schwarz wie die Nacht und mit Nadeln hochgesteckt gewesen. Ihre Mutter hatte Stunden damit zugebracht, es hochzustecken, es irgendwie zu befestigen – eine Frau, die ihr Haar höchstens zu einem Dutt gebunden getragen hatte. Jetzt, nach Jahren, wusste Granny, weshalb. Damals war sie zur Frau geworden, ihre Brüste waren angeschwollen und zwischen ihren Schenkeln schimmernde schwarze Locken gesprossen. Ihre Regel hatte eingesetzt. Und ihr Vater, diese nichtsnutzige Ausgeburt einer alten, hartgesottenen Linie von Bergbewohnern, hatte sie, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte, merkwürdig angesehen. Ihre Mutter wollte sie aus dem Haus haben. Wollte, dass ihre Tochter einen Mann fand.

Es gab Jungs, die draußen vor der Scheune im Dunkeln auf Nagelfässern lümmelten, während sie an etwas nippten, das sie zum Kichern brachte, das sie aber versteckten. Eustace Uptree war der Stärkste von ihnen. Der Anführer. Sie hatte ihm keine Beachtung geschenkt. Keinem von ihnen. Anson gehörte nicht dazu. Sie kannte ihn bereits von einer Tanzveranstaltung im Sommer, und sie hielt Ausschau nach ihm.

Er tanzte so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wie sie es sich erhofft hatte. Er war in ihrem Alter, schmal gebaut, aber groß, mit langen Beinen in eng geschnittenen Hosen und glänzenden Stiefeln. Er trug ein Hemd aus Chambray, das bis zum Hals zugeknöpft war, und seine hellen Haare in einem saloppen Wuschel. Er hatte ein breites Lächeln aufgesetzt, das er die ganze Zeit beibehielt. Die Tanzenden drehten sich in einem einzigen großen Kreis und hielten sich dabei an den Händen, teilten sich dann in vier Gruppen zu jeweils vier auf, wobei sie sich immer weiter drehten, und Anson gab in den Armen seiner Partnerinnen Eulenschreie von sich, während er seine langen Beine beugte und spreizte, mit den Hackeneisen auf den Dielenboden stampfte und sein Lächeln so breit wie ein quer liegender Halbmond war.

Nachdem das Lied vorbei war, ging sie geradewegs zu ihm hin. Sie kannte keine Angst, außerdem war sie die Hübscheste von allen. Er blickte lächelnd zu ihr hinunter.

»Kenne ich dich?«, fragte er.

»Nein.« Sie legte den Kopf schräg und zeigte ihre gebogene Halslinie. »Aber das solltest du.«

Sein Lächeln wurde noch breiter, falls das überhaupt möglich war.

Himmel, konnte sie tanzen. Die ganze Nacht, wenn sie wollte, und das taten sie auch. Die Musik setzte ihre Füße in Bewegung und brachte ihre Augen zum Strahlen. Seine ebenfalls, und seine Hände waren groß und trocken und warm, sein Körper stark und straff, als er sie berührte. Danach traten sie hinaus unter den Klingenmond, um im Schutz der Scheune zu schmusen. Ihr Blut wallte heiß. Sie wollte ihn erklettern wie einen Baum und sich in seinen Ästen wiegen.

Als andere Paare herauskamen, um das Gleiche zu tun, zogen sie sich in den Wald zurück. Der Boden war kalt, aber das kümmerte sie nicht. Es war ihr erstes Mal. Er war wie ein Pfannengriff. Er biss sie ins Ohr, als er in sie hineinstieß, und er fühlte sich an wie etwas, das man rot glühend aus den Kohlen geholt hatte. Es tat weh und gleichzeitig nicht. Ein Jahr später waren sie verheiratet, und Bonni war unterwegs, und dann wurde er gemeinsam mit den anderen Jungs nach Frankreich geschickt und in einer Kiste aus Fichtenholz wieder zurückgebracht. Es gab nicht viele Möglichkeiten, sich als Alleinstehende in den Bergen den Lebensunterhalt zu verdienen, und sie hatte für ihre Tochter getan, was sie tun musste. War in eins der Bordelle in Boone und dann ins Vorland nach Gumtree gezogen, als Firmen aus dem Norden damit anfingen, ihre Textil- und Möbelfabriken zu bauen und billige Arbeitskräfte aus den Bergen anlockten. Es gab eine Menge einsamer Männer mit ein bisschen Bargeld in der Tasche.

Sie seufzte. Diese Zeit hatte ihr nicht so sehr missfallen, wie sie es hätte sollen. Einen dicken Packen Bargeld in der Tasche und ein scharfes Rasiermesser zwischen den Brüsten. Und eine Schlange mit Männern, die beim Anblick ihres weichen Körpers hart wurden. Dann war das mit Bonni passiert, weshalb sie der Welt außerhalb der Berge ein für alle Mal abgeschworen hatte. Manchmal fragte sie sich, wie sie ein so wunderschönes und gütiges Geschöpf hatte zur Welt bringen können. So voller Licht. Warum es ihr nicht gelungen war, dieses Geschöpf vor den Übeln der Welt dort unten zu beschützen. Sie hatte die Männer nie gefunden, die es getan hatten, hatte sie nicht mit ihren Kehlen oder Herzen dafür bezahlen lassen. Seit damals war ihre Welt aus dem Lot und glich einem eiernden Kreisel. Trotz weiblicher Waffen und Zauberkräfte war es ihr nicht gelungen, die Balance wiederherzustellen. Und jetzt war ihr Enkel mit dem Krieg im Blut nach Hause gekommen, und sie fragte sich, wohin ihn das womöglich trieb. Auf welche Straßen, die längst in der Flut versunken waren. Sie fragte sich, welche Schmerzen und welche Schuld womöglich kommen würden und sich heimlich in seinem Herzen einnisteten. Sie kannte sie nur zu gut.

Granny schüttelte den Kopf, während sie fest an ihrer Pfeife zog und ihre Lungen mit Rauch füllte, um anschließend den blauen Schwall gemeinsam mit den Sorgen auszustoßen. Die Medizin tat ihre Wirkung, und sie ließ sich in den Schaukelstuhl zurücksinken. Die steifen Spindelstäbe im Rücken, die Füße schwer auf den harten Bodendielen. Der Berg, unerschütterlich wie eine Armee hinter ihr. Sie war hier. Jetzt. Sie war Blut und Knochen.

Sie beobachtete eine Wolfsspinne dabei, wie sie durch einen schrägen Lichtstreifen am Rand der Veranda kroch, und sie konnte beinahe das leise Kratzen ihrer Beine auf den Dielen hören. Sie hörte das Flattern von Moorhühnern, von irgendeinem Jäger aufgeschreckt, deren Flügel knatterten, als sie sich im Schwarm von den Bäumen erhoben. Ganz in ihrer Nähe sangen leise die Flaschen an den Zweigen der goldenen Kastanie, eine wandernde Lichtkaskade, während die Brise sie in Schwingungen versetzte. Darunter kauerte das alte Schmugglercoupé, das mit seiner geöffneten Motorhaube, die einem riesigen Maul glich, böse und gemein aussah. Das große Herz des Wagens glänzte in der Sonne, voller Kammern und Ventile.

Die Jungs kletterten zwischendurch auf das Auto, ohne Hemd und bis zu den Ellbogen voller Schmiere und Öl. Lappen hingen ihnen aus den Gesäßtaschen, und Schraubenschlüssel waren in die Schlaufen ihrer Jeans eingehängt. Wenn sie atmeten, zogen sich ihre Bäuche zu einem Muster aus winkligen Flächen zusammen, und ihre Haut glänzte in der sinkenden Sonne.

Gütiger Himmel, wenn sie doch nur zwanzig Jahre jünger wäre.

Eli hatte sich zu Rory über den Ford gebeugt. Er trug einen langen Bart, der buschig war wie der Schwanz eines Eichhörnchens und ein Eigenleben zu führen schien. In der Hand hielt er einen Flachmann mit etwas, das aussah wie Wasser, aber keins war.

»Deine Großmutter hat mich schon wieder angeglotzt«, sagte er. Er blickte über die Schulter und leckte sich die Lippen. »Das ist nicht gesund.«

Rory trat von dem Motor weg und blickte ihn an.

»Vielleicht solltest du ihr geben, was sie will.«

Eli umfasste sanft seinen Bart, als wollte er ein Haustier streicheln. Er warf einen Blick zur Veranda.

»Scheiße«, sagte er. »Diese alte Päderastin?«

Rory streckte die Hand aus.

»Gib mir die Kerzen da.«

Eli rülpste abgelenkt durch die Zähne und reichte ihm eine Pappschachtel, die neben ihm auf dem Stuhl stand. Er war noch keine dreißig, aber seine Hände waren alt, rau und knotig und verdreckt wie die Wurzeln einer Eiche. Sie waren in die Eingeweide beinahe sämtlicher Fahrzeuge eingetaucht, die diese Berge heraufgekeucht waren. Er hielt eine Flotte Whiskeyautos am Laufen, aufgebockte Coupés, die stotterten und bebten wie tickende Bomben, die kraftvoll explodierten, wenn sie gezündet wurden. Der 1940er Ford – Maybelline – war die Königin seiner Flotte. Angetrieben von einem 5,4-Liter-Krankenwagenmotor.

Er sah dabei zu, wie Rory den Schraubenschlüssel um die erste Kerze legte.

»Hab gehört, Cooley Muldoon war Sonntagfrüh hier.«

Rory blickte nicht auf.

»Wo hast du das denn her?«

»Ach, du weißt schon, so was spricht sich rum.«

»Ach ja?«

»Hab gehört, du hast seinen Johannes angezündet.«

Rory schraubte die Zündkerze in den Motor.

»Das hat er sich selbst zuzuschreiben.«

»Du warst ’ne Weile weg. Die Muldoon-Jungs lassen so was nicht durchgehen. Heute jedenfalls nicht mehr.«

Rory blickte auf das v-förmige Gebilde unter seinen Händen. Es hatte acht Kammern, die schwarz waren und deren Melodien durch die rostfreien Orgelpfeifen des Auspuffs strömten. Dieser Motor hatte ihn ein ums andere Mal gerettet, war verlässlicher als jede Kirche.

»Zum Teufel mit den Muldoons«, sagte er.

Eli drückte seinen Bart zusammen und entkorkte erneut den Flachmann.

»Vielleicht bist du nicht mehr so schnell, wie du glaubst«, sagte er. »Und die Regierung soll angeblich einen Steuereintreiber aus Washington schicken, der sich nicht scheut, von seiner Waffe Gebrauch zu machen.«

Rory zuckte mit den Achseln.

»Besser als ’n Knüppel«, sagte er. »Oder ’ne Schaufel.«

Eli legte den Kopf schräg.

»Was ist?«

Rory schüttelte sich, als hätte ihn ein Schauer überlaufen, und beugte sich erneut über den Motor.

»Nichts«, sagte er.

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