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Sie verhielten sich wie wilde, unbändige Tiere.

Sie machten vor nichts halt, ihre Wut war rasend. Sie metzelten jeden Mann, jede Frau und jedes noch so kleine Kind nieder, ohne einen einzigen Funken Mitleid in ihren unkontrollierten Körpern zu spüren. Sie hatten völlig die Kontrolle verloren. Das Böse war mit ihnen durchgegangen. In ihren Augen war nichts Menschliches zu erkennen, nur ein unheimliches Glühen. Dieses Glühen ließ sich nicht löschen. Es würde erst verlöschen, wenn sie ihre Wut gestillt hatten und alles Leben, das sie fanden, ausgelöscht hatten.

Was waren das für Wesen?

Aus den Menschen waren Bestien geworden.

„Was geht in ihren Seelen vor?“, fragte Caspar.

Er wandte seinen Kopf von den furchtbaren Bildern ab, die ihm der steinerne Torbogen zeigte und sogleich wich ihnen ein wolkenverhangener, blauer Himmel.

Sie sind schwarz und nackt, antwortete Daya.

Ihre Augen waren noch immer auf das Tor gerichtet. Ausdruckslos blickte sie hinein, als sähe sie mehr, als die vorbei ziehenden Wolken vor dem blassen Blau.

Ihre Gefühle sind eingefroren. Nichts regt sich. Ihre Seelen sterben.

Daya sah traurig aus. Sie legte die Hände auf den Bauch und verzog das Gesicht, als habe sie schmerzhafte Krämpfe.

Goldblonde Locken fielen ihr über den Rücken und reichten ihr bis zur Hüfte. Sie trug ein bodenlanges Kleid von der Farbe einer zarten rosa Rose. Sie war so feinfühlig und fragil, dass Caspar Angst hatte, sie könnte innerlich wie äußerlich zerbrechen.

Ihre Gedanken verdeckte sie vor ihm. Was immer sie bewegte, und er wusste, es war eine ganze Menge, wollte sie nicht mit ihm teilen. Sie schwieg, wie sie es so oft tat. Gesprächig war sie nicht. Es machte ihr nichts aus, keine Stimme zu haben, hatte sie ihm einmal erzählt und auch, warum sie nicht gern ihre Gedanken in Worten teilte. Worte waren leere Hüllen. Die wahre Bedeutung lag in der Seele. Sie konnte sie lesen. Das war ihre Gabe.

In diesem Moment hätte er sich für sie gewünscht, dass sie es nicht konnte, denn es setzte ihr mächtig zu. Er konnte es kaum ertragen sie so leiden zu sehen.

„Mein Kind.“, murmelte er.

Er wollte ihr beistehen, doch direkt, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er ihr am wenigsten mit Worten helfen konnte. Sie schätze sie nicht.

Also stellte er sich vor seine junge, schöne Tochter und nahm ihre Hände in seine. Sie waren kalt und seine waren warm. Sie sah ihn aus traurigen, hellgrünen Augen an.

Sie verletzen sie, dachte er, die Menschen richten bei ihr tiefe Wunden an.

Er konnte das nicht länger zulassen. Er konnte nicht mit ansehen, wie sein geliebtes Kind mit jedem Tag stiller und trauriger wurde.

Er führte sie ins Schloss.

Sie gingen in sein Wohnzimmer, ein großer, aber gemütlicher Raum, und setzten sich gemeinsam auf das Sofa.

„Was kann ich tun, um dich glücklicher zu machen?“

Er sah sie an, doch sie erwiderte seinen Blick nicht und schüttelte den Kopf.

Du kannst nichts tun.

„Ich sehe, was es dir antut. Ich mache mir schon um Dilara große Sorgen, nun habe ich ebenfalls Bedenken um dich. Sag mir, was ich tun kann. Bitte. Mein Kind.“

Sie blieb still und er dachte, sie würde nicht mehr antworten. Dann sah sie auf und lächelte. Es war ein leichtes, schwaches Lächeln, doch ihm wurde sofort leichter ums Herz. Sie lächelte so selten.

Es ehrt mich und ich weiß deine Sorgen zu schätzen. Doch sie sind unbegründet. Mir geht es gut.

Die Erleichterung fiel von ihm ab, als er merkte, dass ihr Lächeln nicht echt war, sondern nur dazu diente, ihm seine Bedenken zu nehmen. Er mochte es nicht, wenn man ihm etwas vor spielte.

Er stand impulsiv auf und Daya erschrak.

Schnellen Schrittes verließ er den Raum, durchquerte den langen Flur und trat in ein anderes Zimmer ein. Es war beleuchtet durch abertausende Kerzen, deren Flammen flackerten und Schatten auf den Boden warfen. Er schloss die Türflügel leise hinter sich.

„Mord, grausamer Mord.“, murmelte Caspar.

Er dachte an das Tor, das ihm die Erde gezeigt hatte. Es artete aus. Die Menschen hatten sich verändert. Was war aus ihnen geworden? Er erkannte die einst guten Seelen nicht wieder.

Es musste aufhören, das gegenseitige rücksichtslose Niedermetzeln durfte nicht weiter gehen. So viele Leben wurden schon gelassen. Er hatte traurig mitansehen müssen, wie sich die Erde entwickelt hatte. Wie einzelne die Macht ergriffen hatten und sich die Menschen zu Untertanen machten. Wie die große Kluft zwischen Reichtum und Armut entstand und die Menschen immer rücksichtsloser und egoistischer wurden. Eigennützige Werte überwogen, Gier und Verführbarkeit machte sie schwach. Ihre Seelen verkümmerten, wurden immer schwärzer und kälter.

Es war etwas geschehen, das er niemals in Erwägung gezogen hatte, ein Szenario war entstanden, das er sich nie ausgemalt hatte. Lange hatte er tatenlos zugesehen, in dem Glauben, es würde nicht noch schlimmer kommen und sich wieder zum Guten wenden.

Er hatte gedacht, dass die Krankheit, die seine Tochter befiel, nur vorübergehend wäre. Dilara wurde schwächer, je grausamer die Menschen wurden. Die Liebe, die aus ihren Herzen entschwand, war die Lebensenergie, die ihrem Körper entwich. Ihre Tage waren gezählt.

Caspar würde sie nicht gehen lassen. Nicht, weil die Menschen das Lieben verlernten. Dilara sagte, das wäre unmöglich, doch er glaubte, dass nun auch sie die Hoffnung aufgegeben hatte. Ihr Leben hing am seidenen Faden.

Er betrachtete die Flammen, manche waren groß und hell, andere klein und am Verglühen. Ein Licht erlosch. Die Spitze des Dochts wurde schwarz und krümmte sich.

Caspar fuhr mit der Hand über den brennenden Kerzen her. Durch den leichten Windhauch, den er durch seine Bewegung erzeugte, beugten sich die Flammen alle in eine Richtung.

Er kontrollierte sie. Holte er einmal kräftig Luft und blies, konnte er sie mit einem Mal löschen.

Alle.

Er konnte seine Tochter und die Menschenseelen vor dem Tod schützen. Er hatte es in der Hand, musste nur einmal Luft holen...

Er wandte sich ab und verließ den Raum, ohne sich noch einmal zu den brennenden Kerzen umzudrehen.

Im Gemeinschaftsraum trafen sich Caspar und seine Kinder, wenn sie nicht mit ihren Aufgaben beschäftigt waren. Caspar trat ein und setzte sich zu einem schwarzhaarigen Mann, der schweigend da saß und ein Schachspiel zwischen seinen Brüdern verfolgte. Er schenkte sich Saft in ein Glas und setzte es an die Lippen.

Deine Gedanken machen mir Kopfschmerzen., dachte Farouk.

Er warf seinem Vater einen kurzen Blick zu, dann sah er wieder zum Schachbrett, auf dem Arwan seinen Springer versetzt hatte.

Entschuldige mich., erwiderte Caspar.

Er verschloss sich vor Farouks Gabe, die er selbst auch besaß, denn er wusste, wie anstrengend es war, nicht nur das Ausgesprochene hören zu müssen. Er machte ihm seine Gedanken unzugänglich.

Dann beobachtete er auch die Schachpartie und schloss schnell, dass Arwan gerade einen Zug gemacht hatte, der ihn ins Matt setzte.

Asher lachte freudig auf.

„Verloren, Bruder.“, sagte er triumphierend.

Arwan sah ihn verwirrt an, kontrollierte seinen Zug und seufzte verärgert auf.

„Gut gespielt.“

Er streckte seinem Bruder die Hand hin und schüttelte sie. Seine schlechte Stimmung verflog so schnell, wie sie gekommen war und wich einem Lächeln.

Asher war es möglich, ganz einfach Aufzuheitern. Er musste bloß Lachen und dies tat er fast ununterbrochen.

Es herrschte ausgelassene Stimmung im Raum, bis auf Caspar machte sich keiner Sorgen oder grübelte.

Sitara sang leise ein Schlaflied vor sich hin. Sie war die jüngste von allen und hatte das Aussehen eines jungen Mädchens, Haare, schwarz wie die Nacht und ein dunkelblaues Kleid an, durchzogenen von silbernen Fäden, die wie winzige Sterne funkelten.

Danish, dessen Kopf dagegen lichtblondes Haar schmückte, das völlig zerzaust zu allen Seiten ab stand, spielte mit einem Stift in der Hand und starrte in die Luft. Hinter seinem Ohr klemmte ein weiterer Stift, damit ging er sicher, immer einen dabei zu haben. In der anderen Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch.

Als ihm etwas einfiel, schrieb er es in Windeseile auf und setzte den Stift erst ab, als die Seite voll war. Er schrieb all sein Wissen in Bücher. Er besaß eine riesige Bibliothek. Die bis zur Decke reichenden Regale waren mit Büchern bestellt und es wurden immer mehr. Danishs Wissen war endlos. Er saß auf der Sofalehne neben Sitara und ließ sich von ihrem Gesang nicht ablenken.

Während einige sich im Schloss versammelt hatten, lief Aviram um das Anwesen seine achte Runde. Er war groß und kräftig und war die meiste Zeit damit beschäftigt, seinen Körper in Form zu halten. In letzter Zeit musste er so viel laufen, dass er gar nicht mehr hinter her kam. Seine Muskeln schwanden, wie sehr er sich auch anstrengte.

Er wusste, warum es so war.

Er war der Hüter der Willenskraft und diese wurde bei den Menschen auf der Erde immer schwächer.

Er verbrachte so gut wie den ganzen Tag nur noch mit dem Laufen, erlaubte sich kaum Pausen, nur zum Essen und Schlafen, und hatte auch nicht das Gefühl, dass sich daran etwas ändern würde.

Das Schlimmste war, dass er keine Erschöpfung verspürte, die seinem Körper signalisierte, dass er aufhören sollte. Somit fühlte er sich verpflichtet weiter zu laufen.

Er lief an den Beeten vorbei, auf denen alles Erdenkliche wuchs. Blumen und Sträucher, Bäume und Obst- und Gemüsepflanzen blühten und trugen ewig. Nie wurde eine Pflanze krank und verdorrte unter Raphaelas Pflege.

Sie stand mitten in einem Blumenbeet, auf dem blaue Kornblumen wuchsen, und goss sie. Sie trug ein Kleid in verschiedenen Grüntönen, ihre Haare waren erdig braun.

Als sie Avirams Schritte hörte, sah sie auf.

Ihr Blick wurde sofort besorgt. Er war nun schon viel zu oft hier vorbei gekommen. Sie verbrachte den ganzen Tag im Garten und jeden Tag hatte sie das Gefühl, ihn öfter zu sehen. Er lief mehr und schneller, umrundete das Schloss mit jedem Tag häufiger. Sie machte sich Gedanken um seine Gesundheit, auch, wenn es sich bei ihm nicht äußerte durch Symptome der Schwäche. Dennoch glaubte sie, dass er irgendwann zusammen brechen würde. Sein Körper war eine Maschine, funktionierte auch unter schwerer, dauerhafter Belastung, doch vielleicht schon bald würde sie anfangen kaputt zu gehen.

Sie konnte solch einen Schaden nicht beheben. Es war ein Angriff auf seine Existenz. Denn er verkörperte mentale Stärke und es war nicht anders als bei Dilara, nicht zu reparieren durch Heilung, sondern nur durch Veränderung, die auf der Erde in den Menschen geschehen musste. Sonst zerstörten sie die Hüter, einen nach dem anderen.

„Warte.“, sagte Raphaela zu ihrem Bruder.

Er rang mit sich, ob er es sich tatsächlich erlauben konnte, stehen zu bleiben. Er beschloss, auf sie zu hören, es wäre unhöflich gewesen, einfach weiterzulaufen. Aber er joggte auf der Stelle weiter.

„Du schwächst dich selbst noch mehr, als sie es schon tun.“

Raphaela stellte die Gießkanne ab und stemmte die Hände in die Hüften. Sie sah ihn streng an.

Er lächelte matt. Dachte sie wirklich, sie könnte ihn zum Aufhören überreden?

„Es ist meine Aufgabe. Würdest du deine Pflanzen verkümmern lassen?“, entgegnete er.

Er kannte die Antwort und sie brauchte sie nicht auszusprechen. Er hatte recht. Dennoch bedeutete es seinen Ruin. Sie seufzte und ließ die Arme sinken.

„Es ist nicht aufzuhalten, richtig?“, sagte sie.

„Caspar ist der Einzige, der jetzt noch etwas tun kann. Ich weiß nicht, wie er sich entscheiden wird. Aber ich bin mir sicher, dass es bald geschehen wird. Er ist besorgt um uns alle. Seine Augen verlieren den Glanz der Freude und der Hoffnung.“

„Gibt es denn noch Hoffnung in die Menschen?“

Aviram blieb stehen.

Es war eine Erleichterung, seine Muskeln der Belastung zu entziehen und ihnen wenigstens eine kleine Weile zur Regeneration zu geben. Er spürte plötzliche Erschöpfung und den Drang, sich auf den Boden zu setzen. Doch er biss die Zähne zusammen und blieb stehen. Das konnte er sich nicht erlauben. Er war stark. Er war ausdauernd. Er gab niemals auf.

Raphaela merkte, was in ihm vorging. Sie hatte ein gutes Gespür für das Befinden eines anderen. Sie erkannte Avirams Zerrissenheit.

„Ich glaube an Hoffnung, solange Vater sie noch hat.“, sagte er.

„Auch der Glauben schwindet.“

„Und Imani denkt, dass sie Schuld daran ist.“

„Dann wären wir alle schuldig. Jeder für seinen Teil. Ich für die Opfer durch Krankheiten, du für die Schwäche der Menschen.“

Aviram schüttelte den Kopf.

„Ich weiß, wir können nichts dafür. Trotzdem kann ihr niemand ihre Schuldgefühle ausreden.“

Kaneschka stand mit verschränkten Händen hinter dem Rücken und einem sorgenvollen Ausdruck im Gesicht, das von kurzen, blonden Haaren umrandet war, mitten im Raum und beobachtete Imani, die mit erhobenen Händen vor ihr stand und mit geschlossenen Augen versuchte, die Menschen auf der Erde zu erreichen, um zu ihnen zu sprechen.

Sie trug ein gelbes Kleid mit einer Schleppe, die sich hinter ihr auf dem Boden zwei Meter entlangzog. Über ihren Rücken wallte langes, dunkelbraunes Haar.

Um sie herum schwebten kleine Wolken. Es waren winzige Gewitterwolken, in denen Stürme tobten und Blitze grell aufleuchteten. Zwischen den grauen Wolken schwebten vereinzelte, die weiß waren und in denen die Sonne ein wenig schien. Doch Kaneschka konnte nur eine Wolke zwischen den vielen erkennen, in der wunderbares Wetter herrschte, ein fast blendender Sonnenschein. Imani öffnete die Augen.

Sie streckte die Hände nach dieser einen Wolke aus, die auch schon ihrer Schwester aufgefallen war und nahm sie in beide Hände.

„Ich spüre einen starken Glauben, so mächtig, als könnte er von niemandem gebrochen werden.“

Sie drehte sich zu Kaneschka um, die sie gespannt an sah.

„Es ist ein Wunder.“, murmelte Imani.

Sie schaute lächelnd in ihre Hände, als bewundere sie ihr eigenes, neugeborenes Kind. Doch diese Wolke existierte tatsächlich schon viel länger und der Sonnenschein ließ sich nicht trüben. Sie hatte schon ein paar solcher Wolken bestaunt, denn so selten fand sie eine zwischen all den Gewitterwolken, doch diese hier war noch viel faszinierender und machte ihr Hoffnung, dass doch nicht alles verloren war.

Es muss nur einen geben, der an seinem Glauben festhält und ihn zurück bringt, dachte sie stolz.

Wenn die Menschen wieder glauben würden, würden sie sich an ihre guten Vorsätze erinnern und aufhören, sich so grausam zu verhalten. Die schlimmen Ereignisse konnten gestoppt werden. Es war nicht alles verloren.

Sie musste sich noch keine Vorwürfe machen, gescheitert zu sein. Es war noch nicht zu spät. Diese Wolke war mit dem stärksten Glauben erfüllt, der ihr jemals begegnet war. Diese eine konnte die Rettung sein.

„Ich bin so froh, dass es dir besser geht.“, sagte Kaneschka.

„Danke.“

Imani ließ die Wolke von ihren Hände in den Raum zurück schweben, wo sie sich unter die anderen mischte und zwischen ihnen verschwand.

„Wir können Hoffnung haben.“

Kaneschka nickte. Dann erinnerte sie sich wieder, warum sie her gekommen war.

„Ich möchte dich bitten, mit Vater zu sprechen. Ich sehe ihm an, dass er seinen Glauben verliert. Es macht mich traurig, nichts tun zu können, doch ich denke, du kannst etwas tun.“

Sie war sehr emphatisch und sobald es jemandem schlecht ging, empfand sie genauso. Sie versuchte dann alles, um ihre Familienmitglieder wieder aufzubauen. Es war ihre Aufgabe, immer für andere dazu sein. Sie war altruistisch, das Wohl der anderen lag ihr am Herzen. Dennoch achtete sie sich selbst und war keine Dienerin oder Ähnliches. Auch von den anderen wurde sie hoch geschätzt für ihre Hilfe, Empathie und Bescheidenheit.

Wer meinte, es sei ein Hindernis, altruistisch zu sein, kannte das wahre Geheimnis nicht. Es machte glücklich.

Die Menschen hatte verlernt bescheiden zu sein. Sie waren furchtbar eigennützig und kannten das Geheimnis nicht. Sie machten sich überhaupt nicht die Mühe, darüber nachzudenken. Denn sie glaubten materielle Dinge würden ihnen ein glückliches Leben bescheren.

Imani überlegte nicht lange. Selten bat Kaneschka jemanden um etwas. Es musste ihr wirklich wichtig sein.

„Natürlich. Ich rede mit ihm.“, sagte sie.

Danial schüttete geschmolzenes Gold in den steinernen Topf. Die Waage kam wieder ins Gleichgewicht. Er stellte den leeren Behälter ab und sah zu, wie Gold und Pech in den zwei Töpfen versickerten. In dem Topf, in dem das Gold gewesen war, saß auf einmal ein Vogelküken. Ein winziges, wunderschönes Geschöpf, das die verklebten Augen aufschlug und sich aufplusterte. Sein Gefieder war golden. Er war aus Vergebung geboren und gereinigt worden.

Es war eine Seele eines gestorbenen Körpers. Danial hatte die Seele gut gemacht. Der Vogel schoss aus dem Topf in den Himmel. Dort oben breitete er seine Schwingen aus, die auf einmal gewachsen waren. Sein ganzer Körper war gewachsen. Er erstrahlte in hellem, weißen Licht. Die Seelen waren das Schönste, was es gab. Doch nur, weil sie rein und schuldfrei waren. Er befreite sie von all ihrer Schuld, die sie auf der Erde gesammelt hatten.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er Daya.

Er wusste nicht, wie lange sie schon dort stand, aber auch sie schaute in den Himmel und betrachtete ihre angekommene Seele. Der Vogel glitt durch die Luft auf sie zu. Sie streckte ihm ihren Unterarm hin, auf dem er sanft landete. Sie schauten sich in die Augen.

Daya lächelte ihn liebevoll an. Sie hob die andere Hand und strich dem leuchtenden Vogel über den Kopf. Sein Gefieder schimmerte von Näherem betrachtet in hellen Pastelltönen. Dann hob sie den Arm und übertrug ihm ihre Gedanken, sagte ihm, wohin er fliegen sollte und von nun an hin gehörte.

Der Vogel flog davon, stieg immer höher in den Himmel auf, bis er nicht mehr zu sehen war.

Nur noch ihre Sonne, die ein angenehmes, nicht blendendes und harmloses Licht abstrahlte, war am blauen Himmel ohne eine einzige Wolke zu erkennen. Hier gab es nie schlechtes Wetter. Kein Regen, kein Sturm, keine tristen, grauen Tage.

Gerne hätte Danial Daya gefragt, wohin die Vögel flogen und auch sie flog, wenn sie sich verwandelte und zum prächtigsten, größten aller Vögel wurde, aber sie konnte nicht sprechen.

Sie kam auf ihn zu, lächelte mild und trat an die Waage.

In den Töpfen sammelte sich neue Flüssigkeit und stieg an. Es war halb so viel Gold wie Pech. Die Waage kippte zur einen Seite. Daya verzog das Gesicht.

„Nicht bei einer Seele überwiegt das Gute.“, sagte Danial.

Er sah sie von der Seite an und konnte die Enttäuschung von ihrem Gesicht ablesen.

Er ging zur Goldschmelze, ein großer Kessel, dessen Boden ein glühend heißer Draht erhitzte. Er beugte sich darüber und sah sein eigenes Spiegelbild in dem flüssigen Gold. Seine braunen Haare waren zu einem Zopf zusammen gebunden, sein Mantel hatte die Farbe des Goldes.

Er schöpfte einen Becher aus dem Kessel und trug ihn zu der Waage. Als er den Schöpfbehälter über den Topf hielt und ihn darüber entleeren wollte, löste sich Dayas Gestalt auf einmal neben ihm auf und die Umrisse ihrer menschlichen Gestalt veränderten sich zu denen eines Vogels. Sie flog noch während ihrer Verwandlung in den Himmel, stieg höher und höher und verschwand aus Danials Blickfeld. Er sah ihr hinterher, einem leuchtenden Vogel aus weißem Licht. Sie konnte ihren Körper auflösen und dann war von ihr nur noch ihre Seele übrig, ihre wahre Erscheinungsform. Der Körper, an den sie zeitweise gebunden war, war nur eine Hülle. Ihr Wesen lag in dem Körper des Vogels.

Nach der Schachpartie setzten sich Asher und Arwan zu Caspar und Farouk. Sie redeten eine Weile, bis Farouk das Gespräch unterbrach.

„Caspar, du tust es wieder.“

Caspar sah ihn an, noch in Gedanken versunken, bis er verstand, was sein Sohn meinte, schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken abschütteln und entschuldigte sich.

„Lasst uns teilhaben.“, bat Arwan.

„Es ist nichts Wichtiges, das ihr wissen solltet.“, sagte Caspar.

Farouk sah ihn scharf an. Er hatte die Lüge erkannt.

Ich brauche Bedenkzeit. Sie werden meinen Entschluss erfahren, doch jetzt will ich sie damit nicht belasten, formulierte Caspar seine Gedanken für Farouk.

Farouk gab sich damit zufrieden. Caspar räusperte sich.

„Ich habe das Gefühl, dass sich die Lage verschärft und immer weiter zuspitzt. Erzählt mir, was ihr mit euren Gaben empfindet.“

„Das Licht wird schwächer.“, sagte Arwan.

Caspar runzelte die Stirn und goss sich Saft in ein Glas ein.

Arwan war ebenso groß wie sein Zwilling Aviram, nur deutlich schmaler. Durch ihre Gesichter waren sie nicht zu unterscheiden. Ihre Augen hatten einen warmen Braunton und die Farbe ihrer Haare war von einem hellen Nussbraun.

Aviram war stark, Arwan furchtlos.

Der Mut der Menschen war sein Licht, in einem Raum des Schlosses, der immer dunkler wurde. Das Licht schwand.

Die vier Männer merkten auf einmal den Stimmungsumschwung, den es gegeben hatte. Ashers Gesichtsausdruck war ernst geworden. Um seine Mundwinkel zuckte kein Muskel. Sein langes Hemd hatte die Farbe gewechselt. Es war nun nicht mehr strahlend gelb, sondern grau, als hätten sich Wolken vor die Sonne geschoben.

Bevor die Sonne ganz verschwindet, dachte Caspar, muss ich etwas unternehmen.

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