Читать книгу WHO I AM NOT. Von Lügen und anderen Wahrheiten - Ted Staunton - Страница 8
ОглавлениеEs ist einfacher, wenn ich euch erzähle, wer ich nicht bin. Ich bin weder Kerry Ludwig noch Sean Callahan. Ich bin weder David Alvierez noch Peter McLeod oder Frank Rolfe. David Alvierez wäre ich gern gewesen. Ich sehe zwar nicht aus wie ein Latino, aber der Name klingt exotisch. All diese Jungs bin ich einmal gewesen, aber keiner von ihnen war ich.
Und Danny Dellomondo bin ich auch nicht, egal, was ich gesagt habe. Wäre ich Danny, würde ich das jetzt nicht erzählen, oder? Ich meine, dann könnte ich es nicht erzählen.
Ich bin nur deshalb er geworden, weil Harley gestorben ist.
Wir waren gerade dabei, eine Nummer in einem teuren Einkaufszentrum in Tucson abzuziehen. Harley tauschte Lesegeräte für Bankkarten aus, zwei in schicken Boutiquen und eines, von dem er sagte, es sei der Jackpot in einem Fitnessstudio für Manager. Ich spielte den Lockvogel. Die Geräte hatte er vor einem Monat mitgehen lassen und gegen andere ausgetauscht, die er von einem Typ namens Dennis bekommen hatte. Der Plan war, dass die Geräte von diesem Dennis einen ganzen Monat lang PIN-Nummern und sonstige Informationen speicherten. Und dann, nachdem wir sie wieder gegen die Originalkartenleser getauscht hatten, konnte Dennis alles herunterladen und die Bankkonten dieser reichen Leute anzapfen.
»Das merken die trotzdem, auch wenn sie reich sind«, sagte ich.
»Nein«, meinte Harley. »Das ist ja gerade das Geniale daran. Wenn man so viele Kartennummern hat, holt man immer nur ein bisschen was vom Konto runter, immer wieder, von jedem, damit sie es nicht merken. Und wenn es trotzdem jemandem auffällt, ist das auch nicht weiter schlimm. Den Rest hat man trotzdem noch. Alles zusammen ist das eine Menge Kohle.«
Einen Anteil an der Kohle bekamen wir nicht, wir waren nur die Helfer. Dennis zahlte ein paar Scheine für den Austausch. Wir blieben nie lange an einem Ort, deshalb würde uns niemand erkennen, falls sie irgendwann mal auf die Idee kamen, sich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras anzusehen. Harley sagte, wir würden nach Seattle gehen, sobald Dennis das Geld rausgerückt hatte.
Die Boutiquen waren Routine. Da bald die Schulferien zu Ende waren, gab es gerade jede Menge Sonderangebote, aber wir hatten uns die Zeit am Nachmittag ausgesucht, in der am wenigsten los war. Wir hatten uns ziemlich fein gemacht, um nicht aufzufallen; wenn es um Klamotten ging, war Harley immer sehr genau. Ich sollte zuerst reingehen und die Verkäuferinnen von der Theke loseisen, mit der Bitte, mir bei der Suche nach einem Geschenk für den Geburtstag meiner Mutter zu helfen. Dann sollte ich behaupten, ich hätte vergessen, welche Größe sie hat, und versprechen wiederzukommen.
Den Lockvogel habe ich immer gern gespielt. Die Leute fallen jedes Mal drauf rein, vielleicht weil die meisten von ihnen denken, dass Teenager grundsätzlich unverschämt sind. Wenn es komplizierter gewesen wäre, hätte ich das Spiel auch noch länger durchgehalten. Musste ich aber gar nicht. Harley brauchte nur ein paar Sekunden, um bei dem einen Lesegerät den Stecker rauszuziehen und ihn in das andere zu stecken (beim Kartenausteilen war er noch schneller), aber es war wirklich gut. Ich konnte den Verkäuferinnen ansehen, dass ich ihnen eine Freude machte. Ich erfand immer alles Mögliche, bis ich fast selbst daran glaubte. »Wir sorgen dafür, dass sie sich gut fühlen«, sagte Harley immer, wenn wir bei der Arbeit waren. Wenn eine Verkäuferin sehr nett zu mir war und das entsprechende Alter hatte, sagte ich ihr immer, dass ich sie gern als Mutter hätte. Dann lachte sie und wurde rot, daher wusste ich, dass es ihr gefiel.
Was komisch ist, denn ich habe mir eine ganze Reihe von Eltern für mich vorgestellt, aber welche, die in einem Laden arbeiteten, waren nie darunter.
Nachdem wir mit den Boutiquen fertig waren, trafen wir uns im Food Court, dann war das Fitnessstudio an der Reihe. Harley sagte, er sei mein Vater, und brachte die Leute dazu, mir alles zu zeigen. Weil er angeblich wissen wollte, ob es mir so gut gefiel, dass eine Familienmitgliedschaft infrage kam. Ein muskelbepackter, viel zu stark gebräunter Schönling führte mich zu den Crosstrainern und den Geräten mit Gewichten. Frauen fanden ihn bestimmt toll, aber mir machte er Angst. Er hatte null Haare. Alle paar Meter blieb er stehen und glotzte sich im Spiegel an. Ich warf einen Blick zu Harley hinüber; er hatte die Kartenleser schon ausgetauscht. Ich sagte dem Typ, ich würde es mir überlegen. Er gab mir seine Visitenkarte.
Ich weiß noch, dass Harley draußen stehen blieb, um seine zweifarbige Sonnenbrille aufzusetzen und den Kragen seines gelben Poloshirts über den blauen Blazer zu ziehen. Dann schob er auch noch die Ärmel des Blazers nach oben, sodass jeder seine große silberne Uhr sehen konnte. Harley war furchtbar pingelig, vor allem wenn es um seine Haare ging. Oben auf dem Schädel wurde er langsam kahl und er war so klein, dass es auffiel. Bei sich hatte er eine leere Laptopmappe und eine kleine Sporttasche, in der die Kartenleser steckten. Er sah aus wie ein ganz normaler Geschäftsmann, der gerade von seinem Workout kam.
Harley zog ein Kaugummipäckchen aus der Tasche und steckte sich zwei Streifen in den Mund, dann gingen wir über den Parkplatz zu unserem Van. Es war so hell, dass es einem in den Augen wehtat, die Hitze strömte in Stoßwellen vom Asphalt. August in Tucson ist nichts für Weicheier. Ich schlurfte hinter Harley her, aber das war ihm egal. Harley ging nicht, er stolzierte.
»Gute Arbeit«, sagte Harley Kaugummi kauend.
»Wie viel wird Dennis zahlen?«, fragte ich.
»Darum werde ich mich schon kümmern.« Harley sah mich nicht an, während wir sprachen. Ich wusste, dass er den Parkplatz nach einer zusätzlichen Verdienstquelle absuchte. Hattest du schon mal zu viel Geld?, fragte er mich immer, auch wenn es nie ernst gemeint war. Ich hatte nie Geld, es sei denn, er gab mir ein paar Scheine, und keine Ahnung, wie viel wir hatten, oder besser gesagt, wie viel er hatte.
»Was haben wir denn da?«, sagte Harley. »Pass auf. Siehst du ihn? Den Dicken da?«
Inzwischen wusste ich, worauf ich achten sollte. Und tatsächlich, zwei Autoreihen weiter schnaufte und keuchte ein pummeliger Kerl mit Igelfrisur, in jeder Hand eine große Plastiktüte aus dem Elektronikgeschäft im Einkaufszentrum, dazu eine Laptoptasche, die er über der Schulter trug.
»Los«, befahl Harley und kaute jetzt schneller. »Wenn es ein teures Auto ist, machen wir’s.«
Er meinte den Kratztrick – einfach, aber noch anspruchsvoll genug, dass es Spaß machte. Ich trennte mich von ihm und lief durch die Hitze und zwischen den geparkten Autos hindurch bis zu der Reihe direkt hinter dem Dicken. Dann ging ich langsamer, hielt mich hinter ihm. Vor einem schwarzen Lexus blieb er stehen. Perfekt. Ich duckte mich. Ich hörte, wie die Türschlösser entriegelt wurden, und sah, wie er seine Sachen auf den Rücksitz verfrachtete. Er schwitzte in der Sonne; man konnte die dunkle Stelle sehen, an der das Hemd an seinem Rücken klebte. Er öffnete die Fahrertür, und als er einstieg, schlich ich zu dem Wagen, der unmittelbar hinter seinem stand. Harley schlenderte vor den Lexus und tat, als würde er durch seine große Sonnenbrille hindurch einen Blick auf seine Uhr werfen. Der Dicke griff nach dem Sicherheitsgurt. Ich stand auf und machte einen Schritt nach vorn. Harley hob den Kopf. »Hey!«, brüllte er dem Dicken zu. »Hey!« Er klopfte auf die Motorhaube, dann zeigte er auf mich. »Er zerkratzt Ihr Auto!«
Der Dicke rastete aus. Er warf sich so heftig herum, dass der Lexus zu schaukeln begann. Dann purzelte er aus dem Auto, rot im Gesicht, die Augen weit aufgerissen, und brüllte: »Hey! Du kleiner …«
Ich blieb am Heck auf der Beifahrerseite stehen, als wäre ich vor Angst erstarrt. In Wirklichkeit zählte ich bis drei. Er kam auf mich zu. Ich rannte los.
Es war kein Problem, vor ihm davonzulaufen; ich bin ziemlich klein für mein Alter. Ich brauchte ihn nur so lange abzulenken, bis Harley alles zusammengerafft und abgehauen war. Dann wollte ich in einem weiten Bogen zum Van rennen, damit wir uns aus dem Staub machen konnten.
Ich hörte, wie der Dicke hinter mir keuchte, wie seine Slipper auf den Asphalt klatschten. Inzwischen waren wir weit genug von dem Lexus entfernt. Nie umdrehen, sagte Harley immer, aber dieses Mal tat ich es trotzdem, während ich schneller rannte. Das Gesicht des Dicken war dunkelrot. Er stolperte, dann hob er den Arm. Er hielt etwas in der Hand. Es hätte ein Blackberry sein können. Es hätte eine Pistole sein können. Das machte mir Angst. Ich begann zu schreien, als ich um einen riesigen SUV herumrannte. Zwei Autoreihen weiter sah ich flüchtig Harleys Kopf. Er schnellte herum, als Harley begriff, dass ich es war, der schrie. Dann hörte ich drei Geräusche hintereinander: lautes Hupen, quietschende Bremsen und einen gedämpften Schlag, als würde etwas in einem Schrank umfallen. Und dann war Harley tot.