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11. Juli 2021, DIE APOKALYPSE

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Logbuch-Eintrag 01

Niemals hätte ich angenommen, dass so etwas einmal passieren würde. Dass es überhaupt möglich ist. Alles begann wie immer, es war ein Tag wie jeder andere auch, das schwöre ich. Und doch hat dieser Tag unser aller Leben verändert, die ganze Welt verändert. Meine Hände zittern vor Angst, ich kann kaum klar denken. Doch ich weiß, dass ich es muss, damit ich diese Hölle hier überleben kann.

Ich weiß noch nicht, wie ich hier verdammt nochmal entkommen soll. Ich weiß nicht einmal genau, wieso ich all das gerade aufschreibe. Es beruhigt mich meine Gedanken festzuhalten, irgendwie, es hält mich davon ab, mich voll und ganz der Angst in mir hinzugeben. Vielleicht wird irgendwann einmal jemand meine Leiche finden, in einer fremden Wohnung, über ein gestohlenes Tagebuch gebeugt, und diese Zeilen hier, meine Zeilen, lesen.

Doch noch bin ich nicht tot. Noch kann ich kämpfen. Um mein Leben, die Hoffnung, irgendwie aus dieser Stadt zu gelangen, andere Überlebende zu finden und mit ihnen irgendwo neu zu beginnen. Ich darf nicht aufgeben, noch nicht. Denn noch gibt es Menschen dort draußen, ich weiß es, ich spüre es. Noch gibt es Lebende, die etwas tun, vielleicht sogar diese Welt retten können. Und ich bin einer dieser Menschen.

Meine Hände verkrampfen sich schmerzhaft um den Karton in meinen Armen. Ich will nicht auf die Klingel drücken, alles in mir kämpft gegen diesen nächsten unvermeidbaren Schritt an. Doch ich weiß, dass ich mich nicht davor verstecken kann, dass ich es durchstehen muss wie eine erwachsene, selbstbewusste Frau.

Ich atme ein letztes Mal tief durch, dann verlagere ich das Gewicht des Kartons auf meinen linken Arm und betätige mit meiner rechten Hand die Klingel. Mein Herz beginnt sofort schmerzhaft schneller zu schlagen, auch wenn ich nicht gedacht habe, dass es noch möglich ist. Ich höre die Schritte hinter der Tür und klammere mich wieder fest an den Karton, als ob er mir Mut geben könnte für das, was ich gleich werde ertragen müssen.

Die Tür geht auf und meine Angst schlägt fast augenblicklich in Hass um. Ich blicke in die hellen Augen Clarissas, sie mustert mich ebenso kalt wie ich sie. Ihre Unterlippe schiebt sich leicht vor, sie streicht eine ihre schwarzen Strähnen hinter ihr Ohr und verschränkt dann die Arme vor der Brust. Kurz frage ich mich, was sie an sich hat, was mir fehlt. Ihre blauen Augen und ihre helle Haut bilden einen wunderbaren Kontrast zu ihrem dunklen Haar, fast wie bei Schneewittchen. Doch ihre Miene ist stets kalt, ihre Kleidung immer akkurat, geradezu perfekt. Als sei sie eine Puppe.

„Was machst du denn hier?“ Ihre Stimme ist so tonlos wie ihr Gesicht steinern.

Ich höre auf sie zu mustern und rücke den Karton in meinen Armen zurecht. „Ich bringe Adams letzte … letzte Sachen rum. Wir hatten abgemacht, dass ich heute kurz vorbeikomme.“

„Baby?“ Es ist wie ein Messer in meinem Herzen, als ich Adams Stimme aus der Wohnung rufen höre. Früher hat er mich immer so genannt. „Baby, ist alles in Ordnung? Wer ist das?“

Clarissa lässt eine ihrer Brauen hochwandern. „Es ist Eve, Babe“, ruft sie über ihre Schulter zurück. „Sie wollte noch deine letzten Sachen vorbeibringen.“

„Oh, stimmt!“ Es dauert nur wenige Sekunden, bis Adam im Türrahmen erscheint. Ich blicke in seine dunklen Augen, sein schönes Gesicht. Mein Herz schlägt noch schneller, noch schmerzhafter. „Hallo Eve, alles klar?“

Unauffällig räuspere ich mich. „Ja, ja alles bestens bei mir, danke.“ Unbeholfen hebe ich den Karton leicht an, in seine Richtung. „Da ist alles drin, was ich noch gefunden habe in unse-, äh, in meiner Wohnung. Dein letzter Krempel also.“ Ich erwähne nicht, dass ich eines seiner T-Shirts behalten habe. Es hilft mir nachts einzuschlafen, wenn ich ihn, seinen Geruch, wieder viel zu sehr vermisse.

„Das ist echt superlieb von dir.“ Seine Augen blicken mich traurig an und ich glaube, Schuld in seinem Blick zu lesen. Er weiß, dass er mir das Herz gebrochen hat, als er mir vor einem Monat sagte, dass er mich wegen Clarissa verließ. Noch am selben Abend zog er zu ihr und ließ mich in der Wohnung zurück, die wir erst vor einem halben Jahr bezogen haben, damals, als liebestolles, glückliches Paar. In der ich nun alleine wohne, einsam.

„Tja … gern geschehen.“ Ich bugsiere den Karton unsanft in seine Arme. Ich bin bereits viel zu lange hier und setze mich bereits viel zu lange Clarissas kaltem Blick aus. Vielleicht ist es nur Einbildung, doch ich glaube, in ihrem sonst so starren Gesicht Triumph zu lesen. Den Triumph darüber, dass sie Adam bekommen, ihn mir weggenommen hat. Ich halte es nicht aus. „Dann gehe ich mal wieder.“ Geradezu fluchtartig drehe ich auf dem Absatz um und eile die Treppe hinunter. Ich muss hier raus, an die frische Luft, ehe ich noch vor den beiden anfange zu weinen. Diese Genugtuung gönne ich weder Clarissa noch Adam.

Erleichtert stoße ich die Tür zur Straße auf und trete in die frische Luft, in den alltäglichen Trubel von D.C. Es tut gut, gleichmäßig und tief einzuatmen, mich selbst davon zu überzeugen, dass meine Brust nicht zugeschnürt ist. Denn noch vor wenigen Sekunden fühlte es sich so an, als ob ich ersticken müsste. Doch ich habe es geschafft, ich bin Adam und seiner bescheuerten Clarissa gegenüber getreten. Und wider allen Erwartungen habe ich es überlebt.

Erste Regentropfen treffen auf mein Haar, meine Haut, und waschen all die schlimmen Gefühle und Gedanken der letzten Tage von mir ab. Es ist vorbei, nun kann ich in der Masse untergehen, mein Leben neu beginnen, ohne ihn. Ich schließe meine Augen, sauge die frische, feuchte Luft durch meine Nase ein und versuche mich darüber zu freuen.

„Eve, warte!“ Erschrocken reiße ich meine Augen wieder auf und drehe mich um. Adam steht in der Tür des Wohnblocks, er wirkt gehetzt. „Eve.“ Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, als er sieht, dass ich noch vor dem Block stehe.

„Was ist denn noch?“ Es kommt hitziger heraus als ich es beabsichtigt habe, und Adams Lächeln tröpfelt sofort dahin.

„Eve, ich weiß, dass das eine … unangenehme Situation ist. Vor allem für dich. Doch du sollst wissen, dass du nicht ganz aus meinem Leben verschwinden musst, wenn du es nicht willst. Du bist ein toller Mensch, eine klasse Frau, und ich schätze dich sehr. Ich weiß, dass ich dir verdammt wehgetan habe. Aber ich will dich nicht als Freundin verlieren, verstehst du?“

Ich starre ihn an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich weinen, lachen oder ihm eine reinhauen soll. Er verlässt mich für eine andere Frau, einfach so, von heute auf morgen, ohne dass ich auch nur die Chance hatte, um uns zu kämpfen. Und nun eröffnet er mir, dass er gerne mit mir befreundet sein möchte?

Ich hole Luft, will ihm antworten, auch wenn ich selbst noch nicht weiß, was genau ich eigentlich sagen soll. Im nächsten Moment zerreißt ein ohrenbetäubender Knall die gewohnte Hektik Washingtons. Adam packt mich fest an der Schulter und zieht mich an seine Brust, ich pralle hart gegen seinen Körper und reiße ihn um. Wir landen auf dem Boden des Hausflures, ich auf ihm. Hinter uns, draußen auf der Straße, knallt es wieder, Schreie und Rufe gellen durcheinander und ich höre das laute Rauschen von Wasser.

Eilig rappele ich mich auf, nur ein kurzer Blick gilt Adams erschrockenem Gesicht. Ich blicke aus der geöffneten Tür, sehe das Auto, das qualmend an dem gegenüberliegenden Wohnblock steht. Es hat den Hydranten zu meiner Rechten umgefahren, das Wasser ergießt sich auf die gesamte Straße. Reifenspuren führen über den Weg, dort, wo ich vor wenigen Sekunden noch gestanden habe.

„Oh mein Gott“, stoße ich hervor, als ich das Auto sehe. Es muss von unserem Haus abgeprallt und über die Straße geschleudert worden sein, ehe der gegenüberliegende Block ihm jeglichen Schwung nahm. Die Schnauze des PKW ist zusammengeschoben, dichter Qualm dringt unter der verbeulten Motorhaube hervor. Ich sehe einen blutigen Arm aus dem zersplitterten Fenster hängen.

Andere Passanten sind bereits zu dem Auto geeilt, sehen nach den Insassen des Wagens. Ich sehe einen jungen Mann im Anzug, der vergeblich versucht die Fahrertür des Wagens zu öffnen. Währenddessen legt eine ältere Dame ihre Hände um ihr Gesicht, um zu schauen, ob sich auf der Rückbank ebenfalls Verletzte befinden. Eine junge Frau wiegt ihr schreiendes Baby auf den Armen, während sie mit weit aufgerissenen Augen auf den Jungen blickt, der unter den Vorderrädern des Autos liegt. Ich bin mir sicher, dass er tot ist.

„Ach du Scheiße.“ Adam wirkt atemlos, als sei er Kilometer weit gelaufen.

„Wir müssen ihnen helfen!“, stoße ich hervor. Wie die meisten anderen Menschen stehen wir einfach nur herum, erstarrt durch das Bild, das sich uns bietet. „Schnell!“ Meine Beine setzen sich in Bewegung, binnen weniger Sekunden bin ich bei dem Wagen. Ich blicke auf die Frau, die bewusstlos hinter dem Steuer sitzt. Überall ist Blut, so unendlich viel Blut. „Atmet sie noch?“, frage ich den Anzugträger, der vergeblich versucht hat die Autotür zu öffnen.

„Ich weiß es nicht.“ Er wirkt panisch als er wieder an der Tür zu ziehen beginnt. „Wir müssen sie da rausholen, irgendwie!“

Kurz will ich fragen, wieso wir es nicht über die Beifahrerseite probieren wollen, doch als ich aufblicke, sehe ich, dass die rechte Seites des Autos zermalmt ist. Sie muss fast die gesamte Wucht des Aufpralls abgefangen haben. Wenn dort jemand gesessen hat, ist er definitiv tot. „Wir ziehen sie durch das Fenster“, sage ich daher stattdessen. Der junge Mann nickt mir kurz zu, dann beugt er sich durch das zersplitterte Fenster in das Innere des Wagens und umfasst den Oberkörper der Frau.

„Hier sind zwei Kinder!“, ruft die Frau zu meiner Rechten panisch aus. „Zwei kleine Kinder sitzen hinten drin!“ Sie blickt sich um, starrt in die entsetzten, starren Gesichter aller Umstehenden. Kurz blicke ich zu dem Mann, der die Frau vorsichtig aus dem Fenster zu ziehen versucht, dann schiebe ich unsanft die Frau beiseite und zerre an der Tür.

„Sie lässt sich nicht öffnen. Ich brauche Hilfe!“ Ich sehe mich zu den Passanten um, den Dutzenden leeren Gesichtern. „Ich brauche Hilfe, stehen Sie nicht einfach alle nur so nutzlos rum!“ Tatsächlich lösen sich nun weitere Menschen aus ihrer Starre und kommen zu uns geeilt. Zwei junge Männer nehmen sich der Tür an, versuchen sie mit mir gemeinsam aufzuziehen. Ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht an den Rahmen, meiner ganzen Kraft. Da rutschen meine Hände ab. Ich spüre einen stechenden Schmerz in meiner linken Hand, im nächsten Moment verliere ich das Gleichgewicht und falle erneut hinten über.

„Eve!“ Auf einmal ist Adam neben mir, ich habe ihn tatsächlich über die ganze Aufregung hinweg vergessen. „Ist alles okay mit dir?“ Sein Gesicht ist blass und ängstlich, für einen kurzen Moment glaube ich fast, dass er mich noch immer liebt, noch immer zu mir gehört, so wie er mich ansieht.

Dann reiße ich mich von ihm los und blicke stattdessen auf meine blutende Hand. „Ich habe mich am Rahmen geschnitten.“ Ich sehe wieder zu ihm auf, höre nur noch am Rande die Schreie und Rufe um uns herum.

Behutsam nimmt er meine verletzte Hand in seine. „Das muss vielleicht genäht werden, wir sollten ins Krankenhaus damit.“

„Es geht schon.“ Ich entziehe ihm sanft meine Hand. „Zuerst sollten wir schauen wie wir helfen können.“ Ich wende den Kopf und schaue wieder zu dem demolierten Wagen. Inzwischen haben die Ersthelfer sowohl die Frau aus dem Wrack gezogen als auch die Kinder von der Rückbank befreit. Meine Augen bleiben an der blutüberströmten Fahrerin hängen, deren Kopf der Anzugträger gerade in den Nacken drückt. Er öffnet ihren Mund, hält mit zwei Fingern ihre Nase zu und beginnt sie zu beatmen. Ich sehe wie ihr Brustkorb sich hebt, doch ihre Haut ist so fahl und grau wie die einer Toten.

Im nächsten Moment öffnen sich ihre Augen. Sie scheint orientierungslos, verwundert über den fremden Mann, der seine Lippen auf ihre gelegt hat und sie beatmet. Da schreit der Mann auf einmal erstickt auf, will sich von der Frau zurückziehen. Ich sehe das Blut, das zwischen ihren aufeinander liegenden Lippen hervor strömt, sehe wie die Arme der verletzten Frau sich heben und ihre zerkratzten Hände fest den Kopf des jungen Mannes umfassen. Sie zieht ihn näher zu sich heran, löst ihre Lippen von seinen und versenkt im nächsten Augenblick ihre Zähne tief in seinem Gesicht.

Die ältere Dame schreit entsetzt auf, wirft sich neben den beiden auf die Knie und zerrt krampfhaft an den Armen der Frau. Der Griff um den Kopf des Mannes löst sich, blutend kriecht er von ihr weg, leise stöhnend, während er eine Hand fest auf sein Gesicht gepresst hat. Ich will etwas sagen, auf die drei zugehen. Da wetzt die Frau ihre Zähne in den Arm der alten Frau, immer und immer wieder, während diese schreiend mit ihrem freien Arm auf sie einschlägt. Ihre Schreie gellen durch die Luft und vermischen sich mit anderen Stimmen und Rufen. Entsetzt starre ich auf die junge Frau, die über die alte Dame herfällt, immer und immer wieder.

„Scheiße, Eve!“ Adam zerrt an meinem Arm, will mich auf die Beine ziehen. Ich blicke zu ihm auf und sehe, dass er nicht auf die junge Frau, sondern zu den Kindern sieht, die vor wenigen Minuten aus dem Wrack gezogen wurden. Auch ich sehe nun zu ihnen, sehe, wie das Mädchen sich auf den Anzugträger stürzt, seinen Knöchel fest umfasst und ihre Zähne in sein Bein schlägt.

Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell, ich blicke zwischen den Szenen hin und her, starr vor Angst und Fassungslosigkeit. Mein Blick fällt wieder auf den toten Jungen unter den Vorderreifen. Eine Bewegung hat mich aufmerksam werden lassen, ein Zucken seiner Hand. Doch das ist unmöglich. Im nächsten Moment schlägt auch er seine Augen auf, seine Finger kratzen über den blutgetränkten Asphalt, suchen Halt, um sich unter dem Auto hervorzuziehen. Sie finden den Fuß einer nahen Laterne und schließen sich fest um das Metall. Als der Junge zieht, dringt ein reißendes Geräusch an meine Ohren. Ich sehe zu seiner Hüfte, sehe die Haut aufreißen, die darunter liegenden Muskeln, das Fleisch. Im nächsten Augenblick reißt der Junge entzwei.

Sein Kopf dreht sich, seine Haut ist so grau und tot wie die der Frau und des Mädchens. Seine Augen blicken mich direkt an, sie sind leer und weiß, wie die eines Blinden. Ein Ächzen kommt über seine rissigen Lippen, seine Hand streckt sich in meine Richtung und sackt dann zu Boden. Ich starre panisch atmend auf den toten Torso des Jungen, versuche zu verstehen, dass das hier kein Traum ist, dass das tatsächlich soeben geschah. Da zucken die Finger des Jungen erneut, er reißt plötzlich seinen Kopf hoch und versucht mit seiner zur Klaue geformten Hand nach mir zu greifen.

Adam reißt mich ruckartig auf die Beine, zieht mich von dem Jungen fort, der sich schwer über den Boden zieht, auf uns zu. Die Schreie um uns herum werden lauter, panischer, als die Menschen auseinander stieben, in verschiedene Richtungen davonlaufen. Adam zieht mich hinter sich her, seine Hand fest um meinen Unterarm geschlossen. Während er mich zurück zu seinem Wohnblock zerrt, werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe wie die Unfallfahrerin sich wankend erhoben hat und über die Straße stolpert. Die alte Dame liegt reglos neben dem Wagen, ihr Kopf auf einer Höhe mit dem leblosen Körper des Anzugträgers. Sie beide bluten, ihre Gesichter zur Unkenntlichkeit zerfleischt.

Noch ehe ich verstehen kann, was da gerade passiert ist, was das zu bedeuten hat, schleift Adam mich über die Schwelle seines Blocks und knallt die Tür hinter uns zu. Wieder packt er mich am Arm, zieht mich hinter sich her die Treppe hoch. „Verschwinden Sie in Ihre Wohnung und schließen Sie sich verdammt nochmal ein!“, schreit er einen Mann an, der verstört aus seiner Wohnung in den Hausflur getreten ist. Wahrscheinlich haben ihn die Schreie aufgeschreckt. „Gehen Sie auf keinen Fall da raus!“ Noch ehe der Mann nachfragen kann, haben wir das nächste Stockwerk erreicht.

„Adam, was ist da draußen los, weswegen brüllst du hier so rum?“, setzt Clarissa an, als wir den fünften Stock erreichen. Sie steht in der geöffneten Wohnungstür, ihr Gesicht ist blass und erschrocken.

„Geh sofort wieder rein!“, brüllt Adam sie an und schubst mich unsanft in die Wohnung. Dann knallt er die Tür hinter uns ins Schloss, dreht den Schlüssel zweimal um und legt die Kette vor die Tür. Schweratmend legt er beide Hände auf das Holz, den Blick auf seine Füße gesenkt. Seine Schultern beben.

Clarissa sieht von ihm zu mir. „Was – wieso ist sie hier? Was ist da draußen los?“

„Es gab einen Unfall.“ Meine Stimme ist unnatürlich hoch.

„Einen Unfall? Was?“ Sie dreht sich wieder zu Adam um, er steht nach wie vor an der Tür, als wolle er sie für den Notfall zuhalten. „Ich verstehe rein gar nichts! Adam, was soll –“ Ihre Worte gehen in dem lauten Geheul sich nähernder Sirenen unter.

Der Lärm scheint Adam wieder zu besinnen. Schwungvoll stößt er sich von der Tür ab und geht ohne ein Wort an uns vorbei in das Wohnzimmer. Clarissa sieht mich an, eine Mischung aus Verwunderung und Ärger in ihrem Blick. Kurz erwidere ich ihren Blick, dann folge ich Adam in das Wohnzimmer. Er lehnt im Rahmen des großen Fensters, das auf die Straße führt. Langsam nähere ich mich ihm und blicke dann über seine Schulter.

„Das – das kann nicht sein …“ Erschrocken lege ich meine unverletzte Hand über den Mund. Die Straße ist bis auf wenige Schaulustige leer, Polizisten und Sanitäter sperren die Unfallstelle im Regen ab. Einer der Sanitäter beugt über dem Anzugträger, ein weiterer über der alten Dame. Den Torso des Jungen haben sie abgedeckt. Von der Unfallfahrerin und den beiden schwerverletzten Kindern jedoch fehlt jede Spur. „Adam, wo sind sie hin?“

„Ich weiß es nicht“, erwidert er tonlos, seine geweiteten Augen suchen jeden Zentimeter der Straße ab. Mein Blick jedoch hängt an dem zugedeckten Körper des Jungen, ich verstehe nicht, wieso er auf einmal doch … tot ist. Er wurde angefahren, er wurde zerteilt und dennoch bin ich mir sicher, dass er noch lebte. Habe ich es mir nur eingebildet?

„Wieso steht ihr denn da? Adam, das ist widerlich, komm vom Fenster weg!“ Clarissa ist wütend, sie drängt sich zwischen Adam und mich, vielleicht gefällt es ihr nicht, dass wir uns so nahe sind. „Es tut mir ja leid, Eve, ich kann mir gut vorstellen, dass du unter Schock stehst, aber du musst jetzt gehen!“

„Sie wird nirgendwohin gehen, Clarissa.“

„Aber Adam, ich –“

Nein!

Ich sehe zu Adam auf, ich fasse es nicht, dass er sich so für mich einsetzt. Doch er sieht weder mich noch Clarissa an. Sein Blick ist nach wie vor auf die Straße gerichtet. Als ich ihm folge, fällt er wieder auf den Torso. Die Hand des toten Jungen schaut unter dem Laken hervor. Und seine Finger zucken. „Das kann nicht sein …“, flüstere ich nur wieder, die Augen starr auf die Hand des Jungen gerichtet.

Zwei Polizisten nähern sich dem Kind, sie scheinen in eine Unterhaltung vertieft. Als sie sich zu dem Jungen hinab beugen, Anstalten machen, die vermeintliche Leiche davonzutragen, möchte ich sie anschreien, ihnen zurufen, dass sie es nicht tun sollen. Ich weiß, was ich gesehen habe, ich weiß, dass es eigentlich nicht sein kann. Und ich weiß, dass es vor allem Unheil bedeutet.

Im nächsten Moment reißt der Junge seine Arme in die Luft, greift blind unter dem Laken nach dem Polizisten, der an seiner Kopfseite gestanden hat. Sein bleiches Gesicht kommt unter dem Laken frei, seine Zähne wetzen sich tief in das Fleisch des Polizisten, ich sehe ihn schreien, nach dem Toten treten. Sein Kollege zückt seine Waffe, schießt drei, vier, fünfmal auf den Jungen. Der letzte Schuss, mitten in das Gesicht des Kindes, stoppt ihn.

Oh mein Gott!“, kreischt Clarissa mir ins Ohr. „Die haben gerade ein Kind erschossen!

„Ich glaube nicht, dass es ein Kind war“, flüstert Adam.

„Was redest du denn da?“ Clarissa ist außer sich. „Sie haben einen Jungen erschossen, einen kleinen Jungen!“

„Clarissa, ich –“

„Ich fasse es nicht, Adam! Mitten ins Gesicht, ich … mir wird schlecht!“

Ich wende mich abrupt vom Fenster, den beiden Streitenden ab, mein Herz schlägt hart gegen meine Brust. Ohne groß darüber nachzudenken gehe ich auf den Fernseher zu, greife die Fernbedienung und schalte das Gerät ein. „… weswegen der Zug entgleiste, ist noch nicht bekannt. Bei dem Unglück kamen mindestens 69 Menschen ums Leben.“ Ich schalte um. „… kam es zu einer Massenkarambolage. Ersten Berichten zufolge, fuhren mindestens 21 Fahrzeuge ineinander. Die Anzahl der Opfer ist noch nicht bekannt.“ Erneut wechsele ich das Programm. „… das Feuer, das durch eine bisher ungeklärte Explosion ausgelöst wurde, kostete 33 Menschen das Leben.“ Wieder schalte ich um. „… ein weiterer schwerer Verkehrsunfall, bei dem mehrere Fahrzeuge miteinander kollidierten. Die Polizei geht zurzeit von 16 Todesopfern aus.

„Das ist alles heute passiert?“ Clarissa flüstert erstickt.

„Auf jedem einzelnen Sender laufen Nachrichten.“ Adam klingt nach wie vor tonlos.

Ich schalte wieder um. „… daher werden alle Einwohner Washingtons gebeten, in ihren Häusern zu bleiben und Fenster und Türen geschlossen zu halten. Auf einer für den Nachmittag angesetzten Pressekonferenz wird der Präsident persönlich zu den Entwicklungen Stellung nehmen.

„Was zur Hölle geht da draußen vor?“

Ich drehe mich zu Adam und Clarissa um und blicke in ihre blassen Gesichter. „Auf jeden Fall scheint der Unfall vor eurer Haustür kein Einzelfall heute gewesen zu sein. Es ist fast so als ob – als ob –“

„ - die Welt unterginge.“ Adams Blick streift den meinen.

„Was soll denn der Quatsch?“ Clarissa schaut zwischen uns hin und her. „Dreht ihr beide nun völlig durch? Nur weil es mehrere Unfälle heute gab? Das war wahrscheinlich nur ein dummer Zufall! Oder –“ Mit einem Mal erstarrt sie „– vielleicht ein Terroranschlag! Oh mein Gott, glaubt ihr, dass das Terroranschläge waren?“

Adam holt tief Luft und will ihr antworten, ihr vielleicht sagen, was wir dort unten mit eigenen Augen gesehen haben. Doch im nächsten Moment übertönt ein unglaublicher Lärm seine Worte. Als wir alle drei zum Fenster eilen, sehen wir die Hubschrauber, die in einer starren Formation über den gegenüber liegenden Appartement-Komplex hinweg fliegen. Ich betrachte die grünen Helikopter, sehe die schweren Motorblätter rotieren.

„Das sind Militärhubschrauber!“, rufe ich über den Lärm hinweg.

„Und sie scheinen auf dem Weg zum Weißen Haus zu sein!“, ruft Adam zurück.

Clarissa scheint den Tränen nahe. „Es gab doch einen Terroranschlag! Oh Gott, ich muss meine Eltern anrufen!“ Sie lässt Adam und mich am Fenster zurück. Die Helikopter entfernen sich und der Lärm nimmt langsam ab. Wir schweigen beide und starren den Hubschraubern durch den Regenschleier hinduch hinterher.

„Was glaubst du, hat das alles zu bedeuten?“, frage ich schließlich.

„Ich weiß es nicht“, erwidert er schlicht.

„Adam“, setze ich an, zögerlich. „Die Fahrerin des Wagens, der Junge unter den Rädern … Sie waren tot.“

„Ja.“

„Was hat das zu bedeuten?“, frage ich nur wieder, hilflos.

Adam reißt sich vom Fenster los und sieht mich an. „Ich habe keine Ahnung. Aber wir sollten tun, was sie in den Nachrichten gesagt haben, und die Wohnung erstmal nicht verlassen. Und deswegen bleibst du auch hier.“

„Aber ich –“

„Nein, Eve. Wir wissen beide, was wir gesehen haben, oder?“ Ich erwidere nichts, sehe ihn nur an. „Ich lasse dich da jetzt nicht alleine raus. Und sie haben in den Nachrichten gesagt, dass alle bleiben sollen, wo sie sind. Also bleibst du hier. Zumindest bis sie Entwarnung geben. Bitte.“

Ich weiche seinem Blick aus und umfasse die Fernbedienung noch etwas fester. Dadurch werde ich wieder auf meine verletzte Hand aufmerksam. „Au“, sage ich verwundert, lege die Fernbedienung beiseite und betrachte den Schnitt in meiner Handfläche. Er ist tief und noch immer tritt Blut aus der Wunde.

„Verdammt, das habe ich ganz vergessen! Warte kurz, ich hole unseren Verbandskasten.“

Adam lässt mich alleine im Wohnzimmer zurück. Kurz blicke ich ihm nach, dann wende ich mich dem Fernseher wieder zu. „… weitere Auffahrunfälle gemeldet. Daher bittet die Polizei, Ruhe zu bewahren und die Stadt nicht zu verlassen. Bitte bleiben Sie in Ihren Wohnungen und Häusern und verschließen Sie Fenster und Türen. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper und betrachte die Aufnahmen, die aus einem der Nachrichten-Hubschrauber aufgenommen worden sind. Sie zeigen verstopfte Straßen, Staus, Unfälle. Menschen, die mit schwerem Gepäck beladen zwischen den stehenden Autos entlanglaufen.

„Sieht schlimm aus.“ Ich drehe mich zu Adam um, der gerade wieder den Raum betritt. Er hat einen Erste-Hilfe-Kasten in den Händen.

„Ja.“ Ich blicke wieder auf den Fernseher. „Es müssen Hunderte sein, die versuchen, die Stadt zu verlassen. Und so kommt es zu immer mehr Unfällen.“

„Wenn sie sagen, dass wir in unseren Wohnungen bleiben sollen, dann machen wir das erstmal auch. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben, was da draußen los ist. Ich glaube, hier drinnen sind wir erstmal sicherer als irgendwo dort draußen auf den Straßen.“

Gerade spielen sie Bilder der Massenkarambolage ein. Überall ist Qualm, Blut, zersplittertes Glas und Tote. Mein Magen wird schwer nach unten gezogen. „Damit hast du wohl recht.“

„Setz dich, Eve. Ich will mir deine Hand mal ansehen. Und so wie es aussieht, sollten wir es uns wohl ohnehin erstmal gemütlich machen.“ Adam deutet mit einem schiefen Lächeln auf die breite Ledercouch, neben der ich die ganze Zeit stehe. Bisher hat sich alles in mir dagegen gesträubt, mich hinzusetzen, zu akzeptieren, dass ich vorerst in der Wohnung meines Ex-Freundes und seiner neuen Flamme gefangen bin.

Doch nun komme ich seiner Aufforderung seufzend nach. „Ich wollte nur deine Sachen vorbeibringen. Wer hätte geahnt, dass ich gleich auf unbestimmte Zeit hier bleiben muss?“

„Es tut mir leid.“ Als ich von meiner Hand, die er gerade desinfiziert, zu ihm aufsehe, verstehe ich, dass er sich für mehr entschuldigt als nur für meinen unfreiwilligen Aufenthalt hier. Er entschuldigt sich für all das, was in den letzten Wochen zwischen uns geschehen ist. Was er mir angetan hat. Wieder kommen die alten Fragen, die alten Gedanken in mir hoch. Ich will ihn fragen, weswegen all das geschehen musste, weswegen er mir, uns, keine Chance gegeben hat. Ich will ihn fragen, ob er Clarissa wirklich liebt, ob es tatsächlich keine Hoffnung mehr für uns gibt. Ich will so vieles von ihm wissen, so vieles erfahren. Da sind so viele unbeantwortete Fragen in meinem Kopf, in meinem Herzen.

„Ich erreiche sie nicht!“ Clarissa kommt wieder in den Raum und schreckt mich aus meinen Gedanken, dem Gefühlschaos in mir. „Das ganze Netz scheint zusammengebrochen zu sein, ich komme einfach nicht durch!“

„Das wundert mich nicht.“ Adam nickt mit dem Kinn in Richtung Fernseher. „Durch die ganzen Unfälle und alles ist Panik ausgebrochen, es versuchen Hunderte, die Stadt zu verlassen. Und wahrscheinlich versuchen noch mehr, Familie und Freunde zu erreichen. Das Netz muss vollkommen überlastet sein. Sieh nur, Clairy.“

„Was?“ Sie nähert sich langsam dem Fernseher, fast so, als würde sie sich vor den Bildern fürchten. „Wieso verlassen sie die Stadt?“ Sie dreht sich zu uns um, blickt uns starr an. „Was zum Teufel ist denn hier los? Die ganzen Unfälle, die Militär-Hubschrauber, jetzt diese Flüchtlingswelle …“

„Keine Ahnung.“ Adam wirkt angespannt. „Ich denke, dass wir es erfahren werden, wenn der Präsident die Pressekonferenz gibt.“

„Und wenn es wirklich ein Terroranschlag war? Sollten wir nicht auch lieber aus der Stadt? Adam, Babe, wir könnten zu meinen Eltern!“

„Solange wir nicht wissen, was da draußen los ist, sollten wir die Wohnung lieber nicht verlassen, Schatz.“

„Was meinst du mit Solange wir nicht wissen, was los ist? Wir wissen sehr gut, was los ist! Es gab Dutzende Unfälle mit Hunderten Toten! Direkt vor unserem Haus wurde ein Junge erschossen! Wir sollten die Stadt so schnell wie möglich verlassen, bevor die Terroristen noch unser Wohnhaus in die Luft sprengen!“

„Sieh dir doch diese Bilder an!“ Hitzig deutet Adam auf den Fernseher, Aufnahmen Dutzender Autounfälle. „Alle versuchen gerade aus der Stadt zu kommen – was glaubst du, wie weit wir kämen, hm? Wenn wir nicht sogar in einen dieser Scheißunfälle verwickelt würden. Die Leute haben Panik und fahren sich gerade alle gegenseitig über den Haufen! Außerdem … außerdem denke ich nicht, dass es Terroranschläge sind.“

„Was soll es denn dann sein? Ein Zug ist entgleist und es gab eine verdammte Explosion!“

Adam sieht von meiner Hand auf und blickt mir direkt in die Augen. Ich sehe die Anspannung in seinem Gesicht, die Angst in seinen Augen. Ich weiß, welche Bilder er gerade im Kopf hat, ich weiß, an was er gerade denkt. Auch ich sehe wieder den Jungen vor mir, den toten Jungen, dessen Körper mit einem furchtbaren Geräusch entzwei reißt. Und der dennoch versuchte, mich zu fassen, mich zu greifen.

„Clarissa.“ Meine Stimme klingt noch immer unnatürlich hoch. Seit dem Unfall rast mein Herz kontinuierlich, meine Gedanken überschlagen sich, so wie die Ereignisse in dieser Stadt. „Der Junge, den die Polizisten erschossen haben … Er war tot.“

„Ja, sie haben ihm mitten ins Gesicht geschossen, wer wäre da nicht tot?“

„Nein, du verstehst nicht.“ Ich schlucke schwer. „Er war schon vorher tot. Bei dem Unfall ist er überfahren worden, er lag unter den Vorderrädern des Wagens. Und als er sich befreien wollte … er riss entzwei, wie eine Puppe! Und er hat dennoch gelebt!“

„Und als sie die Fahrerin aus dem Wrack gezogen haben, hat sie nicht mehr geatmet.“ Adams Hände zittern, während er behutsam einen Mullverband um meine Hand wickelt. „Doch als wir vorhin aus dem Fenster gesehen haben, war sie fort.“

„Sie werden ihre Leiche weggeräumt haben. Sowas muss ja auch echt nicht allzu lange rumliegen.“ Sie zieht ihre Nase angewidert kraus.

„Nein!“ Ich erschrecke selbst über meine Heftigkeit. „Sie waren tot! Aber sie haben dennoch gelebt, verstehst du? Die Frau aus dem Auto, sie griff einen der Helfer an! Und der tote Junge hat versucht, mich irgendwie zu fassen!“

Kurz sieht Clarissa uns an, dann fängt sie an zu lachen. „Also laufen da draußen Tote herum, wollt ihr mir das sagen? Die uns Menschen fressen wollen? Meint ihr, dass uns eine verdammte Zombie-Apokalypse bevorsteht?“ Sie lacht wieder. Adam und ich sehen uns erneut an, ich kann in seinem Blick dieselbe Verunsicherung lesen, die auch ich empfinde. Nun, wo Clarissa es ausgesprochen hat, wirkt es einfach nur lächerlich. Mehr noch: Es klingt absolut verrückt.

„Aber … wir haben es gesehen.“ Adam klingt wie ein verschämter Schuljunge.

Clarissa hört zu lachen auf. „Leute“, sagt sie nun sanft, „ihr habt da draußen einen schweren Unfall gesehen. Einen Unfall, bei dem es Tote gegeben hat. Ihr steht unter Schock, verständlicherweise. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich einen echten Toten aus nächster Nähe sehen müsste. Da kann einem das Gehirn schon einmal einen Streich spielen. Sie haben die anderen Leichen bereits weggeräumt, deswegen waren sie verschwunden.“

„Du hast doch aber selbst gesehen, wie der Junge den Polizisten angegriffen hat“, wende ich halbherzig ein. Ihre Worte, ihre Argumente sind viel zu überzeugend, viel zu realistisch. Und dennoch kann ich noch immer nicht ganz von dem ablassen, was ich meine gesehen zu haben.

„Eve, der Junge war halbiert und lag im Sterben. Er muss unglaubliche Schmerzen gehabt haben. Ich würde vermutlich auch um mich beißen und schlagen, wenn mir so etwas passierte. Er muss geradezu wahnsinnig vor Schmerz geworden sein.“ Sie seufzt auf. „Dennoch hätten sie ihn nicht gleich erschießen müssen … so mitten ins Gesicht …“

Wir verfallen ins Schweigen und denken alle über das nach, was gesagt worden ist. Ich komme nicht umhin mir einzugestehen, dass Clarissas Erklärungen Sinn ergeben. Das Auto hätte mich beinahe erfasst. Wäre Adam nicht gewesen, hätte ich vielleicht unter den Rädern gelegen. Außerdem sind wir beide ziemlich hart auf dem Boden aufgeschlagen, sodass eine Gehirnerschütterung nicht ganz auszuschließen ist. Und wie Clarissa schon richtig feststellte, habe ich noch nie in meinem Leben eine Leiche gesehen. Vielleicht war der Junge unter den Rädern nicht tot, zumindest noch nicht. Ebenso wenig wie die Unfallfahrerin. Und wenn sie wirklich starke Schmerzen hatten, orientierungslos und verwirrt waren … Es könnte erklären, weswegen sie die Leute angriffen. Weil sie … ja, wahnsinnig vor Schmerz geworden sind. Es ergibt alles einen Sinn, irgendwie.

„Du hast recht, Clairy.“ Adam wischt sich mit beiden Händen über das Gesicht und sieht dann lächelnd zu ihr auf. „Eve und ich stehen einfach nur tierisch unter Schock. Außerdem habe ich mir den Kopf angehauen, als wir gestürzt sind.“

Clarissa erwidert sein Lächeln zuckersüß. „Natürlich habe ich recht, Babe. Allerdings macht das die Sache nicht viel besser. Ich mache mir wirklich Sorgen.“ Sie blickt stirnrunzelnd zum Fernseher, der die ganze Zeit leise im Hintergrund läuft. Die Nachrichtensprecherin ist nach wie vor im Bild, hin und wieder werden verschiedene Unfallbilder eingeblendet. Am Fuße des Fernsehers läuft ein Text in Dauerschleife, der die Breaking News prägnant zusammenfasst. +++ Zugunglück: Mindestens 69 Tote +++ Massenkarambolagen fordern mindestens 45 Menschen das Leben +++ Explosion in Wohnsiedlung: Bisher 33 Tote geborgen +++ Washington Opfer mehrerer Terroranschläge? +++ Präsident beruft Pressekonferenz ein +++

„Wahnsinn“, flüsterte ich, während die Sprecherin zu den Korrespondenten vor Ort abgibt.

„Das kannst du wohl laut sagen.“ Adam erhebt sich und geht unruhig im Wohnzimmer auf und ab. „Es kann kein Zufall sein, dass an einem Tag so viele Katastrophen passieren.“ Er wirft einen schnellen Blick auf den Fernseher, gerade ist ein Reporter vor einer qualmenden Ruine im Bild zu sehen. „Ansonsten hätten wir auch die Hubschrauber nicht gesehen … Wenn das Militär anrückt, dann muss es ernst sein.“

„Adam, jetzt mach uns doch keine Angst. Bitte.“ Clarissa folgt seinem Auf und Ab mit den Augen. „Wir sollten warten, was der Präsident zu sagen hat. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung. Das Militär könnte nur zur Vorsicht hier sein. So wie man einen Flughafen gleich weiträumig absperrt, wenn ein verdächtiger Koffer gefunden wird. Und am Ende ist er doch nur voller Klamotten.“ Doch nicht einmal sie selbst wirkt von ihren Worten sonderlich überzeugt.

„Wir haben keine andere Wahl als zu warten.“ Ich blicke auf meine bandagierte Hand, krümme die Finger so weit, bis der Schnitt zu schmerzen beginnt. „Was anderes können wir jetzt erstmal nicht tun. Ich denke auch, dass es sicherer ist in der Wohnung zu bleiben. Bevor man draußen totgefahren wird.“ Ich deute mit meiner anderen Hand auf den Fernseher, nun werden Bilder diverser Autounfälle eingeblendet. „Adam hat recht.“

„War ja klar.“ Clarissa murmelt es nur, doch ich höre es dennoch.

Wütend sehe ich zu ihr auf. „Glaub mir, ich bin die Letzte, die in eurer Wohnung festsitzen will! Denke ja nicht, dass ich mich gerne hier bei euch einniste!“

„Dafür, dass du aber so ungerne hier bist, hast du erstaunlich wenig Anstalten gemacht zu gehen!“, giftet sie sofort zurück.

„Weil sie die ganze Zeit sagen, dass man das Haus nicht verlassen soll!“

„Ja, genau, ich bin mir ziemlich sicher, dass du die drei Blocks bis zu deiner Wohnung nicht überleben würdest! Wie lange dauert das zu Fuß? Zehn Minuten?“

Direkt vor eurer Tür sind gerade eine Handvoll Menschen gestorben! Ich glaube, dass auf den zehn Minuten heute einiges passieren kann!“

„Natürlich, deswegen bleibst du lieber hier bei Adam!

„Mädels!“, fährt dieser nun dazwischen. „Beruhigt euch mal, alle beide! Clairy, Eve wollte gehen, ich bin ihr hinterher und habe sie zurück in die Wohnung gebracht. Sie sagen die ganze Zeit, dass man nicht auf die Straße gehen soll, auch wenn ihre Wohnung nur drei Blocks weiter ist. Und Eve –“ Nun wendet er sich mit einem tadelnden Blick an mich „– ich erwarte, dass du dich halbwegs benimmst, immerhin bist du hier unser Gast. Ihr beide solltet euch benehmen, verdammt. Wir haben keine Ahnung, was da draußen los ist und wie lange das alles vielleicht noch andauert. Ich habe keine Lust, dass ihr euch dann auch noch gegenseitig die Köpfe einschlagt. Klar?“

Er sieht mich herausfordernd an und ich erwidere seinen Blick. Eine seine Brauen wandert in die Höhe. Ich seufze geschlagen auf. „Von mir aus.“

„Clairy?“ Er sieht sie mit demselben durchdringenden Blick an.

Kurz schaut Clarissa zu mir. Dann seufzt auch sie. „Verstanden. Tut mir leid, Eve.“

„Ja, mir auch.“

„Sehr schön!“ Adam klatscht zufrieden in die Hände. „Wie wäre es mit ´nem Drink? Ich zumindest brauche ziemlich dringend Alkohol. Nach allem, was ich bis heute gesehen habe.“ Er schüttelt sich kurz, so als wolle er die Erinnerungen vertreiben, und sieht uns dann an. „Martini, Babe?“

Wieder lächelt Clarissa. „Das wäre himmlisch.“

„Und für dich einen Whiskey, Eve?“

Aus den Augenwinkeln sehe ich Clarissas gereizten Blick. Vermutlich gefällt es ihr nicht, dass Adam weiß, was ich am liebsten trinke. Doch wir sind erst seit wenigen Wochen auseinander, es wäre geradezu beleidigend, wenn er nun so täte als würde er mich nicht mehr kennen, meine Vorlieben und Abneigungen.

„Tja, wer weiß wie lange das alles vielleicht noch dauert?“, wiederhole ich seine Worte mit einem seichten Lächeln. „Da können wir uns genauso gut betrinken.“

Er grinst. „Vernünftige Einstellung. Ich bin gleich wieder da.“ Eine unangenehme Stille entsteht, kaum dass er den Raum verlassen hat. Clarissa und ich blicken in verschiedene Richtungen, die Abneigung, die wir füreinander empfinden, ist fast schon mit den Händen greifbar.

„Nun“, setzt Clarissa nach wenigen Minuten zögerlich an. „Was … was ist eigentlich mit deiner Hand?“ Sie deutet überflüssigerweise auf den Verband.

„Ich habe versucht die Kinder aus dem Auto zu befreien, doch die Tür war verzogen. Als ich daran zog, bin ich abgerutscht und habe mir wohl an dem kaputten Fenster die Hand zerschnitten. Es hat ziemlich stark geblutet.“

„Das tut mir leid.“

„Danke.“ Wieder schweigen wir beide. Ich seufze leise. „Hör mal, Clarissa. Ich weiß, dass du mich nicht sonderlich magst, und ich kann dir sagen, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Nicht weil du ein schlechter Mensch bist, sondern einfach wegen …“

„… der gegebenen Umstände.“

Ich muss lächeln. „Ja genau. Ich will nur, dass du weißt, dass ich euch nicht zur Last fallen will oder das toll finde, hier zu sein. Wenn sie sagen, dass die Luft rein ist und man die Häuser wieder verlassen darf, werde ich wohl die erste auf der Straße sein.“ Ich sehe von meiner bandagierten Hand zu ihr auf.

Auch sie sieht mich an, als sie mir in die Augen blickt, sehe ich, dass ihr kalter Ausdruck einer bekümmerten Miene weicht. Sie sieht den Schmerz in meinen Augen, in mir. Natürlich sind wir in gewisser Weise Rivalinnen, wir lieben denselben Mann. Doch sie versteht, dass ich eingestanden habe Adam verloren zu haben, an sie verloren zu haben. Und dass es mich innerlich zerreißt, ihn mit ihr zu sehen, ihn glücklich zu sehen. Sie braucht mich nicht zu fürchten, da ich bereits begriffen habe, dass es kein Zurück mehr geben wird, wie sehr ich es mir auch wünschen mag.

„Es ist okay, Eve. Fühl dich einfach wie zu Hause, ja?“ Ich nicke, dankbar über den kleinen Waffenstillstand, den wir soeben geschlossen haben.

Ein Knacken lässt uns wieder zum Fernseher schauen, die Nachrichtensprecherin ist fort, stattdessen ist ein dunkles Rednerpult zu sehen, hinter dem ein Ölgemälde von George Washington hängt. Das Pult ist von der Nationalflagge gezäumt, das Präsidentensiegel prangt breit auf seiner Vorderseite. „Babe, der Präsident spricht gleich!“, ruft Clarissa über ihre Schulter in den Flur. „Du musst dich beeilen!“

„Komme!“, schallt es aus der Wohnung zurück. Wenig später tritt er in den Raum, zwei Gläser in den Händen tragend, sein Bier unter den Arm geklemmt. „Bitteschön“, sagt er lächelnd, als er mein Glas vor mir abstellt.

„Danke.“ Ich sehe ihn an und erwidere sein Lächeln. Seine dunklen Augen strahlen, strahlen mich an. Noch immer kann ich mich in ihnen verlieren, auch wenn ich weiß, dass ich es nicht mehr darf. Sein Lächeln wird sanft, beinahe liebevoll, fast so wie damals.

„Es geht los!“, zischt Clarissa und reißt mich, uns, unsanft in das Hier und Jetzt zurück.

Ich spüre, wie ich rot anlaufe, als ich wieder zum Fernseher sehe. Der Präsident ist bereits hinter das Rednerpult getreten, seine Miene ist angespannt, während er seine Papiere sanft auf das Pult klopft. Er hebt den Blick und schaut direkt in die Kamera. „Guten Abend, Amerika. Heute werden Sie keine gewohnte Präsidenten-Ansprache hören, kein Gerede um den heißen Brei, keine Ausflüchte. In ganz Amerika ereigneten sich heute schwere Unfälle, Unglücke, Verwüstungen. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Menschen starben am heutigen Tag, der schwärzeste in unserer gesamten Geschichte. Sie alle wurden gebeten, in Ihren Häusern zu bleiben, Schutz zu suchen. Doch nicht, weil es einen Terroranschlag gab, wie von den Medien propagiert. Unser Feind ist weit schlimmer als der Mensch.“

Kurz blickt der Präsident wieder auf seine Rede, er scheint sich zu sammeln, zu wappnen für seine nächsten Worte. „Noch kann auch ich Ihnen keine genauen Angaben geben, Ihnen nicht genau sagen, womit wir es zu tun haben. Doch kann ich Ihnen sagen, dass all die schrecklichen Ereignisse des Tages, die Ihnen in den Nachrichten präsentiert wurden, all die Unfälle wegen unserer amerikanischen Mitbürger geschehen sind, wegen unserer Brüder, unserer Schwestern. Es ist nicht auf ihr Versagen zurückzuführen, nicht auf ihre Schwäche. Nein, meine Freunde, denn all jene, die heute den Tod fanden, haben gekämpft, für unser Land gekämpft. All diese Tragödien, all der Schmerz, den das amerikanische Volk heute ertragen musste, ist auf einen gemeinsamen Nenner, eine gemeinsame Ursache zurückzuführen.“

Wieder schweigt der Präsident kurz und wirft einen Blick auf seine Notizen. „Bislang wurde bei allen Opfern ein Erreger nachgewiesen, eine zuvor nie da gewesene Mutation uns noch unbekannter Viren. In allen uns bisher bekannten Fällen führte dieses Virus – das RwCSV1 – zum Tode. Nach dem Stand unserer jetzigen Ermittlungen war dieses Virus und die mit ihm verbundenen Symptome Ursache all jener Unfälle, die sich am heutigen Tage in ganz Amerika ereigneten. Noch ist uns nicht bekannt, wie sich dieses Virus verbreitet hat. Auch wurde bislang kein Heilmittel gefunden, doch forschen alle medizinischen Einrichtungen in den USA fieberhaft nach diesem, sodass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis wir es gefunden und für alle US-Bürger frei zugänglich gemacht haben.

Auch wenn ich weiß, dass Ihnen dieses Virus Angst bereiten muss, so wie es auch mir Angst bereitet, bitte ich Sie alle inständig, Ruhe zu bewahren. Das Sicherste für Sie und Ihre Familien ist nach wie vor in Ihren Häusern zu bleiben und auf unsere kompetenten Forscher zu setzen, die vielleicht schon jetzt, in diesem Augenblick, den entscheidenden Durchbruch haben für –“ Der Präsident lässt seinen begonnenen Satz unvollendet, starrt stattdessen mit geweiteten Auge auf Etwas, das sich neben der Kamera abspielen muss.

„Mr. President!“ Ein Soldat läuft ins Bild, er hält ein Sturmgewehr in den Händen. Im nächsten Moment feuert er auf das, was auch immer neben der Kamera ist. „Laufen Sie! Sir, Sie müssen von hier verschwinden!“ Wieder folgen Schüsse, auch außerhalb des Bildes muss geschossen werden, es sind zu viele, um nur aus diesem einem Gewehr zu stammen.

„Gott schütze Amerika …“, stammelt der Präsident und taumelt langsam rückwärts. Augenblicke später wankt eine Gestalt in das Bild, sie hat eine gräuliche Haut, wie die eines Toten, einer längst verwesten Leiche. Das marineblaue Kostüm ist zerrissen und hängt teilweise in Fetzen hinab, die Haut ist über und über mit Wunden übersät, das einst blonde Haar vom Blut verklebt. Als die Person weiter in das Bild taumelt, erkenne ich in ihr die Pressesprecherin des Weißen Hauses wieder.

Erneut schießt der Soldat, die Kugel dringt in die Schulter der Frau ein. Ihr Oberkörper wird durch die Wucht nach hinten geschleudert, doch es reißt sie nicht um. Wenige Sekunden taumelt sie, sucht ihr Gleichgewicht. Dann richtet sie sich wieder zu ihrer vollen Größe auf und wankt weiter auf den Präsidenten zu. „Gott schütze Amerika!“, ruft dieser wieder aus, lauter dieses Mal.

Der Soldat wirft sich auf die Frau und will sie aus dem Bild, fort von unserem Staatsoberhaupt schaffen. Ihre zu Klauen geformten Hände kratzen das Gesicht des Mannes blutig, er schreit auf, als sie im nächsten Moment ihre Zähne tief in seinem Hals versenkt und nur wenige Augenblicke später seinen Kehlkopf herausreißt. Der Mann sackt zu Boden, tot. Kurz blicken die milchig weißen Augen der Frau direkt in die Kamera, dann wendet sie sich wieder dem Präsidenten zu und taumelt langsam auf ihn zu, das rechte Bein leicht nachziehend. „Gott schütze Ameri-“

Plötzlich ist das Bild blau.

Oh mein Gott!“ Clarissa ist auf den Beinen, sie hat mit beiden Händen ihren Kopf fest umfasst. „Oh mein Gott! Ich – habt ihr – was war das?“ Sie schreit, hoch, angsterfüllt, fassungslos. Auch ich spüre die Angst, sie kocht in mir hoch wie ein ausbrechender Vulkan. Ich kann nicht verstehen, was ich soeben gesehen habe, ich will nicht verstehen, was ich soeben gesehen habe, wieder gesehen habe. Denn nun weiß ich, dass auch die Bilder vor wenigen Stunden wahr gewesen sind und keine schrecklichen Auswüchse meiner Phantasie.

„Ich weiß es nicht.“ Adam sitzt nach wie vor neben mir auf der Couch, die Augen weit aufgerissen. „Ich weiß es verdammt nochmal nicht!“

Auch ich will etwas sagen, ich suche meine Stimme, suche passende Worte. Da ertönen wieder Schreie, dieses Mal direkt vor unseren Fenstern auf der Straße. Noch ehe ich wirklich einen Befehl an meine Beine gesendet habe, laufe ich bereits zu den breiten Fenstern und blicke hinaus auf die Straße. Das Wrack steht dort nach wie vor und blockiert die halbe Straße, wenige Meter entfernt ist der Polizeiwagen. Die Türen stehen offen, doch die Beamten scheinen nicht in der Nähe zu sein. Ich sehe Dutzende Menschen dort unten, viele haben Taschen und Koffer bei sich, strömen die Straße hinab. Instinktiv weiß ich, dass sie alle die Stadt verlassen wollen, dass sie auf dem Weg zum Interstate sind, hier nur raus wollen.

Doch ich sehe auch die anderen. Unverkennbar durch diese gräuliche Haut, mit Wunden und Blut übersät, torkeln sie in der Menge umher, ungelenk, steif. Sie fallen über die Menschen her, wetzen ihre Zähne tief in deren Fleisch und reißen ganze Stücke aus ihnen heraus. Ihre Klauen zerkratzen, zerreißen die Haut, sie graben ihre Hände tief in die Körper, versuchen an die Gedärme zu gelangen. Ich sehe die Menschen schreien, weinen, flüchten. Teilweise versuchen sie auch sie zu töten, greifen sie mit Messern an. Eine Frau sehe ich sogar mit einer Bratpfanne auf eines dieser Wesen einschlagen. Doch egal wie sie sie auch verletzen, sie stehen immer wieder auf, die Messer vereinzelt noch in den Bäuchen.

Unter den Monstern erkenne ich die Polizisten wieder, einer von ihnen stürzt sich auf ein junges Mädchen, entreißt es den Armen ihrer schreienden Mutter. Er wetzt seine Zähne immer und immer wieder in den kleinen Körper, reißt das Fleisch von den Knochen, frisst sie. Erst als die Mutter sich auf ihn stürzt, mit den bloßen Fäusten auf ihn einzuschlagen beginnt, lässt er von ihr ab und stürzt sich stattdessen auf die Frau. Die Finger graben sich tief in ihr Shirt, ihren Bauch. Ich sehe sie schreien, jegliche Farbe aus ihrem Gesicht weichen, als der Polizist ihre Bauchdecke aufreißt und über ihre Eingeweide herfällt.

Ich wende mich abrupt ab und erbreche mich auf den Teppich von Clarissa. Mit den Händen auf den Oberschenkeln abgestützt ringe ich nach Luft, nach Fassung. Noch immer kann ich nicht glauben, was ich da eben gesehen habe, was dort unten geschieht. Es muss ein Traum sein, es kann nur ein Traum sein, sowas kann nicht geschehen. Menschen, die andere Menschen fressen, sie in Stücke zerreißen, töten.

Clarissas Worte hallen in meinem Kopf wider. Also laufen da draußen Tote herum, wollt ihr mir das sagen? Die uns Menschen fressen wollen? Meint ihr, dass uns eine verdammte Zombie-Apokalypse bevorsteht? Das Bild der Mutter tritt mir wieder vor Augen, der Polizist, der über ihr kniet, ihre blutigen Eingeweide in den Händen hält und einfach frisst. Erneut erbreche ich mich.

„Oh mein Gott … oh mein Gott … oh mein Gott ...“ Clarissa wiederholt diese Worte immer wieder, wie ein Singsang mischen sie sich unter die Schreie, die von der Straße unten zu uns hinauf dringen. Weder sie noch Adam haben Augen für mich und kommen mir zu Hilfe. Sie blicken nur weiterhin auf die Straße, das Schlachtfeld, das unter uns ist.

„Seht!“, ruft Adam aus, deutet zitternd auf einen Punkt. Ich zwinge mich in eine aufrechte Position und folge seinem Finger. Er deutet auf das kleine Mädchen, von dem der Polizist abließ. Es ist zweifelsohne tot gewesen, auch ihr Brustkorb wurde zuvor von dem Beamten aufgerissen, ihr Innerstes freigelegt. Doch nun sehe ich, wie sie sich langsam, schwankend, auf die Beine kämpft, die Haut mit einem Mal fahl, die Augen milchig. Noch immer ist ihr Brustkorb geöffnet, ihr Hals und ihr Gesicht zerbissen und blutig. Und dennoch lebt sie, irgendwie.

„Sie ist eine von ihnen geworden“, flüstere ich erstickt.

„Oh mein Gott.“ Mit einem Mal erbricht auch Clarissa sich, mitten auf meine Schuhe. „Entschuldige, Eve“, keucht sie, während sie sich mit dem Handrücken über den Mund fährt.

Ich ziehe meine Nase leicht kraus. „Schon okay. Das dürfte jetzt wirklich mein geringstes Problem sein.“

„Sie ist eine von ihnen geworden“, wiederholt Adam leise, den Blick nach wie vor auf die Straße gerichtet. „Sie ist tot … Aber sie lebt. Wie – wie ein -“

„- Zombie“, sage ich leise.

„Ja.“ Er schweigt kurz. „Sagt mir, dass das ein Traum ist. Dass ich eingeschlafen bin und das alles nur träume.“

Ich werfe ihm einen schnellen Blick von der Seite zu, dann hole ich weit aus und schlage ihm mit der flachen Hand einmal kräftig ins Gesicht. Er schreit nicht einmal auf, sondern sieht mich nur überrascht an. „Der Beweis, du träumst nicht. Außerdem wollte ich das schon seit Längerem machen.“ Er sieht mich nur weiterhin verwundert an. Dann fängt er auf einmal an zu lachen.

„Bist du jetzt vollkommen durchgedreht?“ Clarissa ist noch immer sehr blass, Schweiß steht auf ihrer Stirn. „Dort draußen laufen … laufen verdammte Zombies rum, fallen über die Menschen her und du lachst?

„Das ist es ja!“, lacht er. „Da draußen laufen verdammte Zombies rum! Das ist kein Film, das ist kein Kunstblut, das ist alles echt! Man, ich habe die Resident Evil Filme geliebt, ich habe das Game zu The Walking Dead bestimmt achtmal durchgespielt und jetzt laufen da draußen, vor unserer Wohnung, echte beschissene Zombies herum!“ Er lacht noch lauter. Clarissa und ich sehen uns an. Im nächsten Moment lassen auch wir unserer Hysterie freien Lauf und stimmen mit in sein Gelächter ein.

„Echte beschissene Zombies!“, wiederhole ich und wir lachen noch lauter. Adam laufen Tränen über das Gesicht, Clarissas Wangen sind rot gefleckt. Im nächsten Moment dringt die ganze Tragweite meiner Worte zu mir durch. „Echte Zombies“, sage ich wieder, dieses Mal vollkommen ernst. „Leute.“ Ich strecke meine Hand aus und berühre Clarissa an der Schulter, damit sie sich beruhigt. „Leute, das ist echt. Es ist wirklich echt. Diese Dinger dort draußen fallen über eure Nachbarn her, über Bekannte, Freunde. Das ist kein verdammtes Spiel, kein Horrorfilm! Dort draußen sterben gerade Menschen.“

Sie hören ebenfalls augenblicklich zu lachen auf. „Wir könnten die Nächsten sein.“

„Ja.“ Ich blicke die beiden an. „Wir brauchen einen Plan, wir brauchen Waffen. Wir müssen verdammt nochmal raus aus Washington mit seinen Hunderttausend Einwohnern! Wahrscheinlich verwandelt sich die Hälfte von denen jetzt, in diesem Moment, in diese Monster!“

„Waffen?“ Clarissa wirkt verängstigt. „Wie sollen wir sie töten? Kann man sie töten?“

„Es muss einen Weg geben.“ Adam wirft einen Blick aus dem Fenster. „Seht.“ Er deutet auf einen Jungen, der tot auf der Straße liegt. Dort, wo eigentlich sein Kopf hätte sein sollen, ist ein schwerer Stein. „Sie haben ihm den Kopf eingeschlagen.“

„Und schaut, die Frau dort hinten, beim Wrack.“ Clarissa zeigt auf eine Frau in einem rosa Jogginganzug, ein Messer ragt aus ihrer Augenhöhle. „Sie scheint auch tot zu sein. Unwiderruflich tot, meine ich.“

„Das Gehirn“, sage ich. „Man muss es zerstören.“

„Diw Zentrale des Körpers.“ Adam verschränkt die Arme vor der Brust. „Ergibt Sinn.“

„Aber es sind zu viele.“ Ich überblicke die Straße, nur noch wenige Menschen sind dort unten, die meisten fort oder tot. „Und es verwandeln sich immer mehr.“ Mein Blick fällt auf einen Jungen, er trägt die Uniform eines Paketlieferservices. Er versucht auf die Beine zu kommen, sein rechter Arm wird nur noch von wenigen Sehnen gehalten. „Wir müssen einen anderen Weg finden.“

„Wir brauchen ein Auto. Waffen und Proviant.“ Adam sieht mich an. „Wenn wir ein Auto haben, am besten einen Geländewagen oder so, können wir sie einfach überfahren. Es ist egal, ob sie dann wieder aufstehen, Hauptsache wir kommen aus der Stadt.“

„Ich weiß nicht.“ Mein Blick hängt noch immer an dem Jungen. „Es haben so viele versucht zu fliehen, die ganzen Unfälle … Was ist, wenn die Straßen blockiert sind? Wir nicht durchkommen? Dann sind wir ihnen ausgeliefert.“

„Wir müssen auf Seitenstraßen zurückgreifen, Schleichwege. Zu Fuß kommen wir hier niemals lebend raus.“ Auch sein Blick ruht auf dem Jungen.

„Glaubst du wirklich, dass das funktioniert? Vielleicht sollten wir lieber versuchen anders hier herauszukommen.“

„Und was schlägst du vor?“

„Ich weiß nicht“, sage ich nur wieder. „Vielleicht durch die Kanalisation?“

„Was?“ Clarissa verzieht angewidert das Gesicht. „Du willst durch die Kanalisation? Da werde ich lieber gefressen!“

„Außerdem kennen wir uns da nicht aus, wenn wir uns dort unten verlaufen, sind wir geliefert. Auf den Straßen wissen wir wenigstens, wo wir hin müssen und wie wir die befahreneren Routen meiden können.“

„Also gut.“ Ich reiße mich von dem Fenster los und trete in das Wohnzimmer. „Zuerst brauchen wir ohnehin Waffen, irgendwas, womit wir sie uns vom Leib halten können. Ansonsten kommen wir hier niemals lebend raus. Du hast nicht zufällig ´ne Knarre, oder?“, wende ich mich an Clarissa.

„Natürlich nicht!“

„Schade.“ Ich gehe in den Flur, schaue in die anderen Räume, bis ich die Küche finde. Dort beginne ich die Schubladen und Schränke zu öffnen, suche nach irgendetwas Brauchbarem. Ich finde mehrere scharfe Messer, ein Beil und einen Fleischklopfer. „Mist“, flüstere ich vor mich hin, als ich alles ein zweites Mal durchsuche.

„Was machst du denn da?“ Clarissas Stimme ist schrill vor Empörung. „Das ist meine Wohnung!“

„Sag bloß“, erwidere ich leise. „Wir brauchen Waffen“, füge ich dann lauter hinzu. „Irgendwas, womit wir uns im Notfall verteidigen können. Und leider finde ich nicht allzu viel. Hast du nicht doch irgendwo eine Waffe? Einen Hammer? Irgendwas?“

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Es tut mir leid, dass ich hier kein Waffenarsenal horte, du wirst mit dem auskommen müssen, was du durch dein Herumgeschnüffel findest.“

„Wir alle müssen damit irgendwie auskommen.“ Ich seufze, lasse geschlagen von den Schränken unter der Spüle ab und erhebe mich. „Es reicht nicht. Da draußen sind Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von diesen Viechern. Wir brauchen richtige Waffen, bessere.“ Ich blicke auf meine mickrige Ausbeute.

„Wir müssen in die anderen Wohnungen.“ Ich drehe mich zu Adam um, ich habe nicht mitbekommen, dass er ebenfalls hinter uns hergekommen ist.

Was?“ Clarissa fährt zu ihm herum. „Du willst bei den anderen einbrechen?“

„Clairy, Babe, wir brauchen Waffen. Eve hat recht, wir müssen uns irgendwie verteidigen können, wir alle.“

„Jetzt bist du also auf ihrer Seite?“ Sie funkelt mich an, die alte Feindseligkeit in ihrem Blick.

„Es geht hier nicht um irgendwelche Seiten, es geht darum, dass wir überleben!“ Adam wird hitzig und macht einen Schritt auf sie zu. „Da draußen geht gerade die beschissene Welt unter! Wir haben keine Zeit, um uns Gedanken darüber zu machen, ob es vielleicht moralisch verwerflich sein kann oder was weiß ich. Es geht hier nämlich um unser Überleben!“

„Außerdem denke ich nicht, dass noch allzu viele hier sein werden“, sage ich leise. Ich habe das Bild eines in die Enge getriebenen Mannes vor Augen, den ich vorhin auf der Straße sah. Er versuchte mit seinem Koffer die Dinger von sich fernzuhalten, doch ich bin mir sicher, dass er es nicht geschafft hat. Es war der Mann, dem Adam vor wenigen Stunden noch zugerufen hat, er solle in seiner Wohnung bleiben und alles verschließen.

Noch immer hat Clarissa ihre Arme vor der Brust verschränkt, noch immer blickt sie mich wütend an. Doch sie widerspricht nicht, auf mehr können wir momentan nicht hoffen. „Also gut.“ Adam wirft ihr einen schnellen Blick zu, dann wendet er sich an mich. „Wir sollten erst einmal schauen, was wir in der Nachbarwohnung finden, bevor wir uns in eine andere Etage wagen.“

„Klingt nach einem Plan“, erwidere ich nervös.

Er streckt seine Hand nach mir aus und berührt mich sanft an der Schulter. „Wir schaffen das. Also los.“ Er wirft uns einen letzten Blick zu, dann tritt er aus der Küche, Clarissa dicht hinter sich. Ich schaue den beiden nach, blicke dann wieder zu den paar Sachen, die ich gefunden habe. Bevor ich den beiden folge, nehme ich mir den Fleischklopfer.

Adam und Clarissa sind bereits aus der Wohnung heraus und stehen vor der Tür des Nachbarn. Die Tür ist nur angelehnt, in der Wohnung dahinter ist es ruhig. „Ich finde immer noch, dass wir das nicht tun sollten“, flüstert Clarissa.

„Wir müssen.“ Adam wirft uns einen letzten Blick zu, dann stößt er die Tür weit auf und betritt uns voran die fremde Wohnung. Clarissa schaut mich alarmiert an, folgt ihm aber sofort. Ich hole tief Luft und folge den beiden dann ebenfalls. In der Wohnung ist es dunkel, die Rollläden sind vor den Fenstern herunter gelassen. Auf den ersten Blick scheint es mir, dass sie denselben Schnitt hat wie Clarissas Wohnung; auch hier ist der Flur lang und läuft in das Wohnzimmer aus, dem größten Raum der Wohnung. Küche, Schlafzimmer und Bad liegen hinter den geschlossenen Türen zu unserer Linken und Rechten.

Adam geht uns geduckt voran auf das Wohnzimmer zu, seine Muskeln sind angespannt. Ich will ihm gerade folgen, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel ausmache. Im nächsten Moment fliegt die Tür zu meiner Linken auf, eines dieser Dinger kommt aus dem Raum und stürzt sich augenblicklich auf Adam. Es reißt ihn zu Boden, er schreit erschrocken auf, seine Hand tastet nach dem Messer, dass er vor Schreck fallen gelassen hat. Ich mache einen Satz nach vorne, hole weit aus und schmettere dann den Fleischklopfer fest auf den Kopf des Wesens. Blut spritzt, direkt in mein Gesicht. Ich hole wieder aus, schlage wieder zu, solange, bis es sich nicht mehr rührt.

Schwer atmend blicke ich von dem toten Ding zu Adam auf, der mich erschrocken, aber unversehrt ansieht. „Lass – nie – deine – Waffe – fallen!“, schnaube ich und halte den Fleischklopfer in die Höhe. Der Edelstahl ist über und über mit Blut verschmiert.

Er starrt mich weiterhin an, überrascht. Dann lacht er auf. „So kenne ich meinen Engel, wenn es sein muss bissig wie ein Terrier!“

Ich lächle ihn an. „Mir wäre es aber lieber, wenn es nicht noch einmal vorkommen muss.“ Langsam stehe ich auf und halte ihm dann meine unverletzte Hand hin, um ihm ebenfalls auf die Beine zu helfen.

Er grinst noch immer, als er sie ergreift. „Ja, das wäre es mir auch.“ Ich ziehe ihn hoch. „Dann lasst uns die verdammte Wohnung mal unter die Lupe nehmen.“ Er bückt sich nach seinem Messer. „Sorry“, sagt er, als er mit dem Gesicht auf Höhe des Toten ist, „aber ich mochte dich eh noch nie, Derek.“

„Hoffen wir mal, dass er der einzige hier war“, erwidere ich. Auch ich sehe auf die Leiche, Derek. Sein Kopf ist zertrümmert, das Gesicht dadurch kaum noch zu erkennen. Nun, wo das Adrenalin langsam aus meinen Adern weicht, wird mir etwas übel bei dem Gedanken, dass ich das gewesen bin, dass ich ihm den Schädel eingeschlagen habe. Auch wenn er einer von den Untoten gewesen ist, so war er vorher einmal einer von uns. Ein Mensch mit Gedanken, Gefühlen, Träumen.

„Ja.“ Auch Clarissa ist grün im Gesicht, eine Hand hat sie auf ihren Bauch gepresst. „Er lebte alleine hier … Gott, du hast ihn einfach so getötet.“

„Nicht einfach so, Clairy. Sie hat ihn getötet, weil er sonst mich getötet hätte. Oder was auch immer.“ Kurz schweigen wir alle. „Und nun lasst uns endlich die Wohnung nach brauchbarem Zeug absuchen, ja?“

Wir teilen uns in der Wohnung auf. Ich betrete leise das Schlafzimmer, den Fleischklopfer locker in der Hand, bereit, ihn notfalls wieder zu benutzen. Doch das Schlafzimmer ist leer. Ich schalte das Licht ein und schaue mich in dem spartanisch eingerichteten Raum um; Bett, Nachttisch, Kleiderschrank und ein Stuhl mit abgelegten Klamotten, mehr befindet sich nicht in dem Zimmer. Ich trete an das Bett und setze mich vorsichtig auf die Kante. Auf dem Nachttisch steht eine Pillendose und als ich sie näher betrachte, sehe ich, dass es Schlaftabletten sind. Doch die Dose ist leer.

„Deswegen kam er zurück“, murmele ich. „Er hat sich mit den Tabletten umgebracht. Oder wolle es zumindest.“ Ich stelle die Dose zurück auf das Tischchen und öffne dann die erste Schublade von diesem. In ihm liegen eine Tube Gleitgel, Taschentücher und ein Schmuddelheft. „Also wirklich, Derek …“ Schnell schiebe ich sie wieder zu und spüre wie ich rot werde. In der anderen Schublade befinden sich Antibiotika, noch mehr Schlaftabletten und eine kleine Flasche Jägermeister. „Keine besonders gute Kombi“, flüstere ich als ich die Medikamente herausnehme. Kurz zögere ich, dann nehme ich auch die Flasche an mich. „Kann nicht schaden.“ Ich lege alles gesammelt neben mich auf das Bett, dann erhebe ich mich, um den Raum weiter zu untersuchen.

Die Klamotten im Kleiderschrank sind ordentlich eingeräumt, die Hemden hängen auf Bügeln. Auf dem Boden des Schrankes stehen vier Paar Schuhe, daneben ist ein Karton. Ich knie mich hin und öffne ihn. Dutzende Fotos liegen in ihm, außerdem mehrere Bücher. Als ich sie herausnehme, sehe ich, dass es sich um Tagebücher handelt. Bis auf eines sind sie bis auf die letzte Seite beschrieben.

Ich wiege das leere Buch in meiner Hand, dann werfe ich es zu den anderen Sachen auf das Bett. Danach stehe ich auf, schließe den Schrank wieder und stelle mich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was noch obenauf liegt. Doch ich kann es nicht erkennen. Ich sehe mich im Raum um und mein Blick fällt wieder auf den Stuhl mit den Klamotten.

Als ich sie vom Stuhl fegen will, sehe ich, dass unter den dreckigen Jeans ein Werkzeuggürtel liegt. Er ist aus Wildleder mit insgesamt zwölf Fächern. Zwei große Taschen befinden sich auf beiden Seiten, doch bis auf ein paar Stifte sind sie leer. Neben diesen sind jeweils vier Laschen, in denen Schraubenzieher, Zangen, Feilen und ein Cuttermesser hängen. Zwei breite Schlaufen befinden sich am äußeren Rand, in einer ein robuster Hammer, die andere ist leer.

Ich lege den Gürtel um meinen Bauch und schließe dann den Klickverschluss. Er rutscht mir über die Hüfte und ich ziehe den Verschluss enger, bis der Gurt fest um meine Taille sitzt. Probehalber drehe ich mich erst in die eine, dann in die andere Richtung und gehe ein paar Schritte. Der Gürtel sitzt fest genug, um nicht zu rutschen, behindert mich allerdings auch nicht in meinen Bewegungen. Ein Grinsen huscht mir über das Gesicht, als mir bewusst wird, dass ich mit dem Ding wohlmöglich einen echten Glücksgriff gelandet habe.

Dann schnappe ich mir den Stuhl, den ich eigentlich holen wollte, und trage ihn vor den Schrank. Nachdem ich auf ihn gestiegen bin, sehe ich, dass auf dem Schrank Rucksäcke und Taschen liegen. Ich suche mir einen Rucksack aus, der eine schöne Größe hat, und klettere wieder vom Stuhl. Anschließend räume ich die Medikamente und das Buch in eines der Innenfächer, stecke die kleine Handtasche, mit der ich zu Adam gekommen bin, in den Rucksack und schwinge ihn auf meinen Rücken. Die Träger stelle ich so ein, dass der Rucksack ebenfalls fest auf meinen Rücken sitzt und beim Laufen nicht hin und her fliegt.

Einen letzten Blick lasse ich durch das karge Schlafzimmer schweifen, dann trete ich aus dem Raum und suche nach den anderen beiden. Ich finde Adam und Clarissa in der Küche, wo sie gerade die Besteckschublade durchsuchen. „Habt ihr was Brauchbares gefunden?“, frage ich und betrachte die bereits geöffneten Schränke und Schubladen.

„Steakmesser.“ Clarissa drückt den Messerblock etwas fester an ihre Brust und ich verstehe, dass sie nicht will, dass ich mir eines nehme. Sie hat diese wertvollen Waffen entdeckt und möchte sie nun nicht mit mir teilen. Sie gehören Adam und ihr.

Ich möchte seufzen, lasse es aber. „Im Schlafzimmer war nichts zu holen, es sei denn, ihr braucht Boxershorts und Pornos.“ Ich ziehe die Nase leicht angewidert kraus.

„Und was ist das?“ Clarissa deutet mit dem Kinn auf den Gürtel.

„Ein Werkzeuggürtel. Ich dachte, der könnte mir stehen.“

„Praktisches Ding.“ Adam lächelt mir zu. „Keine schlechte Idee, sich sowas zuzulegen.“

„Mein Reden. Oh, Taschen sind auch noch im Schlafzimmer, falls ihr welche braucht.“

„Ich habe selber welche drüben.“ Clarissa wirkt abweisend und distanziert.

„Okay, hier wären wir auch durch.“ Adam erhebt sich mit einem leisen Ächzen. „Außer Dosen-Ravioli ist hier nichts zu holen. Das einzig Wertvolle waren die Messer. Lasst uns uns noch im Wohnzimmer und im Bad umsehen.“

„Ich schaue, was ich so im Bad finden kann“, sage ich.

„Gut, dann gehen wir ins Wohnzimmer.“ Er lächelt mir wieder zu, dann geht er an mir vorbei und weiter ins Wohnzimmer. Clarissa ist dicht hinter ihm, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zu große Angst hat, um ihm auch nur einen Zentimeter von der Seite zu weichen.

Ich vergewissere mich mit einem Blick über die Schulter, dass sie fort sind, dann packe ich die Dosen-Ravioli in meinen Rucksack und suche in den offenen Schubladen nach einem Dosenöffner. Als ich ihn finde, landet er in einer der großen Taschen meines Gürtels, zusammen mit einer Gabel und einem Löffel. Ich sehe mich weiter um und finde eine Trinkflasche. Sie fasst nur einen halben Liter, dennoch ist es besser als nichts. Ich fülle sie am Hahn mit Leitungswasser, dann verstaue ich auch sie in meinem Rucksack. Zwar habe ich vorerst nicht vor, die beiden zu verlassen, doch sollten wir getrennt werden, möchte ich vorbereitet sein. Wenn dort unten auf den Straßen Tote umher wandeln, will ich nicht letztendlich an Dehydrierung oder Hunger sterben.

In einer weiteren Schublade finde ich Frischhaltebeutel. Zuerst will ich die Schublade einfach wieder ungeachtet schließen, als ich es mir doch anders überlege. Ich nehme die Beutel heraus und wühle aus dem Rucksack meine kleine Handtasche heraus. Behutsam schiebe ich Portemonnaie und Handy in einen der Beutel und verschließe ihn sorgfältig. Nach kurzem Überlegen stecke ich auch das Notizbuch und den Stift, die ich in Dereks Schlafzimmer fand, in einen Beutel, ehe ich sie wieder in die Tasche des Werkzeuggürtels stopfe.

Anschließend mache ich mich auf in das Bad, doch finde ich dort nichts Nützliches. Die Medikamente, die Derek besessen hat, scheine ich bereits im Schlafzimmer gefunden zu haben. Mein Blick fällt auf den Spiegel und als ich das Blut in meinem Gesicht sehe, drehe ich das Wasser auf und wasche es mir aus dem Gesicht, zusammen mit dem Make Up, das ich heute Morgen aufgelegt habe. Als ich wieder in den Spiegel blicke, rinnen Wassertropfen über meine Haut, das Blut ist fort. Ich sehe blass und müde aus, aus meinem französischen Zopf sind einzelne Strähnen gerutscht. Kurz frage ich mich, wieso ich so mitgenommen und Clarissa nach wie vor einfach perfekt aussieht. Doch ich schiebe diese Gedanken schnell beiseite, jetzt ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um über mein Äußeres nachzudenken. Mit einem leisen Seufzen stoße ich mich vom Waschbecken ab und gehe dann zu den anderen beiden ins Wohnzimmer.

„Was gefunden?“ Clarissa presst nach wie vor den Messerblock fest an ihre Brust.

„Nichts. Aber ich konnte mir immerhin das Blut aus dem Gesicht waschen. Ihr?“

„Oh ja.“ Adam hält grinsend eine Waffe in die Höhe. „Eine Neun-Millimeter. Und die dazugehörige Munition.“

„Sehr gut!“ Auch ich muss lächeln. „Das könnte unser Fahrschein hier raus sein!“

„Ich sage dir, was unser Fahrschein hier raus ist.“ Er winkt mich zum Fenster. „Die Gasse hinter dem Haus hier ist so gut wie leer, sie scheinen sich alle vorne herumzutreiben“, sagt Adam, als ich zu ihm getreten bin. „Und siehst du, da hinten?“ Er deutet nach links.

Ich lehne mich näher zu ihm herüber, um es sehen zu können. „Ein Jeep!“ Ich blicke auf den Wagen, er hat einen breiten In god we trust-Aufkleber auf der Heckscheibe. Der Regen läuft wie ein Wasserfall über die Karosserie.

„Um genau zu sein ein Grand Cherokee. Und die Schlüssel scheinen zu stecken.“

„Woher willst du das wissen?“ Ich kneife meine Augen leicht zusammen.

„Ganz einfach, das Licht ist an. Das geht nur, wenn der Schlüssel steckt. Und dass es leuchtet, zeigt uns wiederum, dass die Batterie noch nicht leer ist. Unser Ticket raus aus diesem verseuchten Nest.“

Ich bin noch nicht ganz überzeugt. „Und wie stellst du dir das vor?“

„Ich schnappe mir die Knarre, gehe durch den Seiteneingang und hole das Auto. Dann fahre ich die Kiste direkt vor die Tür für euch und rufe Clairy auf ihrem Handy an, damit ihr wisst, dass die Luft rein ist und ihr kommen könnt. Ihr hüpft rein und dann verlassen wir auf dem schnellsten Wege Washington.“ Er grinst mich schief an.

Ich lasse mir seine Worte durch den Kopf gehen. „Ich werde es machen. Oder komme zumindest mit.“

„Nein. Du weißt, dass ich dir vertraue, Eve. Ich denke nicht, dass du uns einfach zurücklässt oder sonst was. Aber ich habe dir heute schon einmal das Leben gerettet, du hättest tot sein können, als wir draußen vor dem Haus standen. Da werde ich dich jetzt nicht da rausschicken, wo Hunderte von diesen Dingern rumlaufen. Und einer alleine ist nun mal schneller und unauffälliger.“

Ich seufze leise. Noch immer bin ich der Meinung, dass es einen anderen Weg geben muss als mit dem Auto. Dass er es nicht alleine versuchen sollte. Doch ich weiß auch, dass ich Adam nicht werde überzeugen können. „Klingt gar nicht so verkehrt.“

„Ist es auch nicht, vertraut mir. Ich werde uns hier rausbringen. Und zwar jetzt.“ Er entsichert die Waffe.

„Sei vorsichtig, Babe.“ Sie küssen sich und ich muss mich abwenden.

„Und versuche, wenn es geht, das Ding da nicht zu nutzen.“ Ich deute auf die Waffe. „Wir sollten so leise wie möglich sein.“

„Alles klar. Bis gleich, ihr zwei.“ Er verlässt den Raum.

„Das kann nicht gut enden.“ Clarissa klingt belegt.

„Er weiß schon, was er tut“, erwidere ich, den Blick auf die Gasse gerichtet.

„Das meine ich nicht.“

„Was denn dann?“ Ich schaue, ob ich eines dieser Dinger sehe, doch sie scheinen tatsächlich alle auf der Vorderseite des Hauses zu sein. Mir kommt der Gedanke, dass sie dort wohl noch genug zu fressen haben und mir wird wieder leicht flau im Magen.

„Er hat dich Engel genannt. Vorhin, als du Derek getötet hast. Und immer wieder wirft er dir diese … diese Blicke zu. Adam, meine ich. Und deswegen kann ich nicht zulassen, dass du mit uns kommst.“

„Was?“ Ich will mich ihr zuwenden, in ihr Gesicht blicken und mich davon überzeugen, dass sie das gerade wirklich gesagt hat. Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie sie mit dem Messerblock weit ausholt.

Dann wird um mich herum alles schwarz.


Wounded World

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