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04. August 2021, NEUE UND ALTE BEKANNTE
ОглавлениеLogbuch-Eintrag 04
In Zeiten wie diesen muss man für jeden weiteren Tag, den man lebt, dankbar sein. Für jede weitere Stunde. Ich weiß, dass ich es ohne Liam niemals so weit geschafft hätte. Er hält mich am Leben, er ist der Grund, weswegen ich überhaupt weitermache, weiterkämpfe, in einer Welt, die schon lange verloren ist.
Wir haben zusammen schlimme Dinge erlebt, furchtbare Dinge, die uns einander näher bringen, zusammen schweißen. Ich brauche nur in seine grauen Augen zu sehen, für wenige Sekunden, und schon weiß ich, was er denkt und fühlt. Und meistens empfindet er dasselbe wie ich, macht sich über dieselben Dinge Gedanken und Sorgen. Wir haben gelernt einander wie ein Buch zu lesen.
Es ist so unglaublich wichtig in diesen Zeiten jemanden zu haben, dem man vertrauen kann. Der einem hilft, wenn man stürzt, anstatt einen als Köder zurückzulassen. Liam ist dieser Jemand. Wir sind so vielen Parasiten bisher begegnet, haben so viele Menschen gesehen, die dem Weg des alten Ehepaares gegangen sind.
Doch wenn ich nach einer kurzen Nacht meine Augen aufschlage, in sein Gesicht blicke, seine grauen Augen, dann weiß ich, dass wir es schaffen können. Dass wir es schaffen werden, solange wir einander haben und vertrauen. Ohne ihn wäre ich verloren in dieser grausamen Welt. Und er ohne mich.
Ich spüre Liams Blick auf mir ruhen, doch ich traue mich nicht von der Straße aufzusehen, um mich zu vergewissern. Wir sind nun schon seit Tagen unterwegs, auf dem Weg nach Arkansas, zu seiner Familie. Eigentlich ist es eine Strecke von einem knappen Tag, doch wir müssen oft weite Umwege in Kauf nehmen, teilweise mehrere Meilen zurückfahren, da eine erst vielversprechende Straße letztendlich doch durch stehende Autos oder Parasiten blockiert ist.
Wir haben bereits Kentucky erreicht und halb durchquert, wir verloren viel Zeit, als wir eine sichere Umleitung um Frankfort suchten. Liam hat mir erklärt, dass die Farm seiner Eltern nahe der Grenze zu Oklahoma liegt, in einer kleinen Stadt namens Mena. Ich hoffe wirklich so sehr, dass seine Familie am Leben ist, unsere Reise nicht umsonst sein wird. Und mit jeder Meile, die wir Arkansas näher kommen, spüre ich, dass Liam optimistischer wird, hoffnungsfroher.
Es gibt kaum noch Menschen, außer den Männern in der Tankstelle sind wir in den letzten Tagen keinen Überlebenden mehr begegnet. Doch eben wegen jener Männer bin ich froh über diese Begebenheit. Ohnehin halten wir kaum an, nur wenn wir uns die Beine vertreten wollen oder uns Lebensmittel oder Benzin ausgehen. Bei unserem letzten längeren Stopp an einem verlassenen Motel vor einem Tag haben wir festgestellt, dass inzwischen auch Strom und Wasser ausgefallen sind. Mich hat diese Tatsache härter getroffen als Liam, irgendwie habe ich in Strom und Wasser noch immer die Verbindung zu unseren alten Leben gesehen. Und nun ist sie fort.
„Was hat das da auf deinen Handgelenken eigentlich zu bedeuten?“ Liam reißt mich aus meinen Gedanken.
Kurz schaue ich auf meine Handgelenke. Ich weiß, dass er die Tattoos meint, die ich dort trage. Auf dem linken einen geöffneten, leeren Vogelkäfig, auf dem rechten zwei fort fliegende Schwalben, zwischen den Vögeln ein Datum, der 23. Juni 2010. „Das habe ich mir nach dem Tod meiner Eltern stechen lassen“, sage ich und umfasse das Lenkrad etwas fester. „Sie sind nicht mehr in diesem Leben, dieser Welt gefangen, sondern frei. Wie Vögel. Das Datum ist der Tag, an dem sie starben.“
„Es ist mir zuvor nie aufgefallen“, sagt er leise, noch immer spüre ich seine Blicke auf mir.
Ich lache. „Was, während wir vor Tausenden Parasiten geflohen sind, hattest du nicht die Zeit, meine Handgelenke zu mustern? Weißt du überhaupt, wie ich aussehe?“
Auch Liam lacht. „Klar. Schwarze, kurze Haare, hellblaue Augen und eine Hakennase.“
„Keine Witze über meine Nase“, sage ich und nehme eine Hand vom Lenkrad, um sie zu betasten. Sie tut noch immer etwas weh, wenn ich sie berühre, doch zumindest ist die Schwellung vor wenigen Tagen zurückgegangen. Der Typ muss sie mir damals gebrochen haben.
„Ich mag deine Nase so wie sie jetzt ist. Vorher war sie doch viel zu perfekt.“
Ich muss wieder lachen. „Du bist durch und durch ein Spinner“, sage ich und sehe ihn kurz an.
„Und du stehst drauf, Blondie, gibt’s doch einfach zu“, grinst er schelmisch. Wieder einmal verdrehe ich über seine Worte die Augen, kann ein Grinsen jedoch nicht verbergen. Als ich wieder nach vorne sehe, bleibt mir das Herz fast stehen. Ich trete augenblicklich das Bremspedal durch, schlitternd kommen wir zum Stehen. „War das …“ Liam sieht mich irritiert an, eine Hand noch auf der Armatur aufgestützt.
„Ein Hund!“, stoße ich ungläubig hervor. Im nächsten Moment habe ich mich bereits abgeschnallt und die Tür aufgerissen.
„Eve, warte!“
Ich höre nicht auf Liam, bin bereits zwischen den Bäumen links der Straße verschwunden, dort, wo der Hund entlang gelaufen ist. Eine Gänsehaut überzieht meine nackten Arme, seit ich in dem kleinen Büro meine Bluse ausgezogen habe, trage ich nur noch das dünne Top, aus dem ich das Blut gewaschen habe. Eilig folge ich dem Tier durch den Wald, ich sehe die frischen Spuren des Hundes auf dem matschigen Boden.
„Eve!“ Ich sehe den Hund hinter einem Baum liegen, er leckt sein rechtes Vorderbein. Langsam nähere ich mich dem Tier, es ist ein kleiner West Highland White Terrier, der ein kariertes Halstuch trägt. Neben ihm gehe ich in die Hocke und lasse ihn an meiner Hand schnuppern. Er beginnt sofort mir über die Finger zu lecken. Ich sehe das Blut an seinem Bein, schiebe dann sanft meine Hände unter den Hund und hebe ihn hoch. „Eve!“
„Mir geht’s gut, Liam!“, rufe ich über die Schulter. „Bleib beim Transporter, ich komme zurück!“ Ich stehe auf und presse den Hund fest an meine Brust. Die Wärme des Tieres beruhigt meinen Puls sofort, der kleine Westie schleckt meine Arme ab. „Sieh nur“, sage ich, als ich wieder auf die Straße trete. „Er ist verletzt!“
Liam kommt zu mir, ich sehe die Glock in seiner Hand und weiß, dass er kurz davor stand, mir panisch hinterher zu laufen. Er macht sich immer zu viele Sorgen um mich, seit dem Zwischenfall in der Tankstelle sogar noch mehr. Nun steckt er seine Waffe wieder weg. „Lass mich mal sehen.“ Er besieht sich das Bein vorsichtig. „Es ist kein Biss, er muss irgendwo hängen geblieben sein, vielleicht an einer Ranke.“
Der Hund fängt leise in meinen Armen an zu knurren. Ich folge seinem Blick, sehe in dem Gebüsch am Rande der Straße eine Bewegung. „Da kommt jemand – oder etwas“, flüstere ich.
Liam zückt seine Waffe und richtet sie auf den Busch. Im nächsten Moment tritt ein junges Mädchen auf die Straße, sie wirkt gehetzt und hält ein Messer in der rechten Hand erhoben. „Stehen bleiben, sofort!“, ruft Liam, seine Stimme etwas tiefer als normal. Sie gehorcht sofort, die Augen weit aufgerissen. „Messer fallen lassen!“ Klappernd fällt es auf die Straße.
„Bitte – bitte tut mir nichts!“ Ihre Stimme ist hoch und ängstlich.
„Hast du noch andere Waffen bei dir?“ Liam geht nicht auf sie ein.
„Nein, nein hab ich nicht!“ Sie hat die Arme erhoben, ich sehe sie zittern.
Wir werfen uns einen Blick zu. „Ich werde sie abtasten“, sage ich dann zu Liam und gebe ihm vorsichtig den Hund. „Ich komme jetzt zu dir rüber, wehe du versuchst wegzulaufen oder mich anzugreifen.“ Auch ich ziehe nun meine Waffe. „Ich werde nämlich nicht zögern, dich zu erschießen.“ Ich gehe auf sie zu und taste sie dann ab, stelle aber fest, dass sie außer einem Walkie Talkie nichts weiter bei sich trägt. „Was machst du hier draußen? Wer bist du?“, frage ich sie anschließend.
Noch immer hat sie die Hände erhoben und sieht mich ängstlich an. „Mein – mein Name ist Lexi. Ich habe Bender gesucht, den Hund von Marsha.“ Ihre Augen huschen zu Liam. „Und ihr habt ihn gefunden.“
Ich sehe kurz zu Liam und den Hund, drehe mich dann wieder zu Lexi um. „Du rennst hier draußen wegen eines Hundes rum? Mit nichts weiter bewaffnet als einem Messer?“ Ungläubig zeige ich mit meiner Glock auf das Messer.
„Er – er ist weggelaufen, als eines dieser Dinger kam. Wir haben uns im Haus versteckt, bis es weg war. Aber Marsha liebt ihren Hund so, ich musste einfach nach ihm suchen, sie selber ist schon zu alt.“ Sie blickt kurz auf das Messer. „Reicht das nicht, um sie zu töten?“
„Oh man.“ Ich bücke mich nach dem Messer und hebe es auf. Dann halte ich es ihr hin. „Das ist ein Brotmesser, ich glaube nicht mal, dass du uns damit ernsthaft verletzen könntest.“ Dann drehe ich mich zu Liam um. „Du kannst die Waffe runternehmen, sie ist nicht gefährlich.“ Er steckt die Waffe in seinen Hosenbund zurück, dann kommt er zu uns, den Hund nach wie vor auf dem Arm. „Liam, das ist Lexi. Mein Name ist Eve“, sage ich zu ihr und lächle sie an. „Und anscheinend haben wir da Bender gefunden“, füge ich mit einem Blick auf den Westie hinzu.
„Freut mich“, sagt Liam, nun ebenfalls lächelnd.
„Ich – ich denke, mich auch.“ Sie sieht uns abwechselnd an, noch immer verunsichert. „Ihr werdet mir also nichts tun?“
„Wieso sollten wir?“ Liam wiegt den Hund in seinen Armen wie ein Baby.
„Naja.“ Sie sieht nun mich an. „ Dein Gesicht … Du siehst gefährlich aus.“
Ich werfe einen ärgerlichen Blick zu Liam. In den letzten Tagen habe ich Spiegel weitestgehend gemieden. Die Dutzenden Schnitte auf meinem Hals sind inzwischen verschorft und fallen sofort auf, ebenso wie die Blutergüsse auf meiner Haut, die von Johns kräftigen Händen um meiner Gurgel stammen. Meine Nase ist nun etwas breiter, von der Wurzel an ziehen sich längliche Blutergüsse bis unter meine Augen. Als ich mich das erste Mal gesehen habe, stand ich kurz vor dem Weinen, Liam redete mir ein, dass es gar nicht so schlimm aussehe. Lexi hat seine Lügen nun aber auffliegen lassen. Er meidet meinen Blick geflissentlich und konzentriert sich stattdessen ganz auf den Hund.
„Ja“, sage ich, als ich wieder zu Lexi sehe. „Das waren die letzten Menschen, auf die wir getroffen sind. Deswegen waren wir auch beide eben so skeptisch.“
„Oh, das tut mir sehr leid.“
„Danke.“ Ich mustere Lexi, sie kann nicht älter als 20 Jahre sein. „Du hast von einer Marsha gesprochen … Ist sie deine Großmutter? „
Sie lacht kurz auf. „Nein. Ich arbeite als Krankenschwester – oder habe es zumindest, bis das alles passiert ist. Marsha war eine meiner ersten Patientinnen, vor einem Jahr etwa haben wir uns kennengelernt, seitdem besuche ich sie regelmäßig. Sie ist für ihr Alter noch sehr fit, sie ist 72 und echt pfiffig. Aber einmal die Woche habe ich nach ihr gesehen, meist nur, um ihr mit den schwereren Einkäufen zu helfen. Ich war gerade bei ihr, als der Strom ausfiel und es … ausbrach. Das ist jetzt fast eine Woche her.“ Ich werfe Liam einen Blick zu, auch seine Augen weiten sich etwas. Es ist nun genau zwei Wochen her, dass wir uns in Washington begegnet sind. Also muss das Virus dort zuerst ausgebrochen sein.
„Und ihr habt überlebt, obwohl ihr nur mit einem Messer bewaffnet wart?“
„Wir haben das Haus eigentlich nicht mehr verlassen, seit das alles begann. Marsha hat viele Vorräte, den Rest habe ich aus den Nachbarhäusern geholt, wenn die Luft rein war.“ Sie blickt auf das Messer in ihren Händen. „Sonst haben wir uns immer versteckt, wenn wir sie gehört haben. Doch dieses Mal wollte ich nicht unbewaffnet sein.“
„Du hast noch keinen Parasiten getötet?“, fragt Liam ungläubig.
„Parasiten?“
„So nennen wir sie“, erkläre ich schnell.
„Oh. Äh, nein, habe ich nicht.“ Ihre Augen weiten sich etwas. „Ihr schon?“
„So ein paar.“
Ihre braunen Augen werden noch etwas größer. „Das ist wunderbar!“ Liam und ich werfen uns einen Blick zu. „Wirklich, ihr müsst uns helfen! Überall in der Straße sind diese – diese Parasiten. Ich weiß nicht, wie ich sie töten soll. Aber uns geht langsam das Essen aus, Bender läuft dauernd weg, weil er sich vor ihnen fürchtet. Wenn ihr uns helfen könntet … das wäre einfach toll!“
„Wieso seid ihr überhaupt noch hier?“ Liam sieht sich auf der verlassenen Straße um, dann durch das Geäst hinter Lexi auf die Häuser, die hinter dem kleinen Wäldchen zu sehen sind.
„Wohin hätten wir denn gehen sollen?“ Sie schiebt eine Strähne ihres braunen Haares hinter das Ohr. „Ich bin noch in der Ausbildung, habe noch zu Hause gewohnt. Marsha lebt seit zwanzig Jahren in ihrem Haus. Und unsere Familien …“ Sie schüttelt kurz den Kopf. „Sie sind alle tot.“
Liam und ich sehen uns an, ich ziehe eine Braue leicht hoch. Er seufzt. „Wollt ihr mit uns kommen?“, wendet er sich dann an Lexi. „Du, Marsha und Bender?“ Er wiegt den Hund wieder leicht in seinen Armen. „Wir wollen nach Arkansas.“
„Wieso Arkansas?“ Sie sieht mich aus fragenden braunen Augen an.
„Liams Familie lebt dort auf einer Farm“, erkläre ich ihr. „Es könnte der ideale Rückzugsort sein. Zumindest besser als Washington. Oder das hier“, füge ich mit einem Blick über ihre Schulter hinzu.
„Und ihr würdet uns wirklich mitnehmen?“ Sie sieht beinahe fassungslos aus.
„Ihr scheint nett zu sein. Und ihr habt einen süßen Hund.“ Liam blickt auf Bender. „Wenn ihr mit uns kommen wollt, haben wir nichts dagegen.“
„Oh das wäre so wunderbar!“ Im nächsten Moment fällt Lexi mir um den Hals. „Wir müssen sofort zu Marsha und unsere Sachen holen! Bitte, kommt mit!“ Sie will sich umdrehen und wieder zwischen den Bäumen verschwinden.
„Warte“, sage ich und sie dreht sich verdutzt zu mir um. Ich gehe zu unserem Transporter, ziehe die Schlüssel ab und verriegele den Wagen. Als ich zu den beiden zurückgehe, ziehe ich die Harke. „Wie sicher ist es bei euch?“
„Es laufen einige von den Dingern rum.“ Sie wirkt nervös. „Man muss nur schnell genug sein und sich gut verstecken.“
„Oder man tötet sie einfach. Hier, nimm ihn mal“, sagt Liam und legt Lexi den Hund in die Arme. Er zückt die Sichel, die wir bei unserem letzten Streifzug fanden. „Jetzt können wir los.“
Den Hund fest an ihre Brust gepresst, führt Lexi uns voran durch den kleinen Wald. Schnell haben wir die Stadt erreicht, blicken zwischen den Bäumen versteckt auf Dutzende umzäunte Gärten. Zwischen den Häusern sehen wir die Parasiten, stöhnend laufen sie durch die Straßen, ohne Ziel, ohne Sinn. Meine Augen gleiten über die Herde, es ist ein Wunder, dass die drei ohne richtige Waffen so lange überlebt haben.
„Ach du Scheiße“, flüstert Liam leise neben mir. „Anscheinend haben wir uns für die richtige Straße entschieden“, sagt er dann zu mir. Ich nicke nur, blicke dann wieder auf die vielen Parasiten. Tatsächlich haben wir erst überlegt, durch die Stadt zu fahren, dann jedoch die Straße durch den angrenzenden Wald entdeckt.
„Zu welchem Haus müssen wir?“, frage ich Lexi leise.
„Das da.“ Sie deutet auf ein kleines Backsteinhaus. „Die Hintertür ist offen.“
Wieder werfen Liam und ich uns einen Blick zu. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass man sich immer einschließen sollte, wenn man die Möglichkeit hat. Doch Lexi und Marsha scheinen die Gefahr zu unterschätzen, die dort draußen lauert. „Also gut“, flüstert Liam. „Wir können über den Zaun in den Garten und dann ins Haus. Wenn wir leise sind, sollten sie uns nicht bemerken.“
Geduckt läuft er uns voran auf den Holzzaun zu, ich bilde die Nachhut. Er hilft erst mir, dann Lexi über den Zaun. Mit erhobener Harke schleiche ich auf die Hintertür zu, bereit zuzuschlagen, sollte einer der Parasiten sich hierher verirren. Doch wir kommen ungesehen bei der Tür an, Liam schließt schnell zu uns auf.
Ich öffne die Tür leise und lasse Lexi den Vortritt, dann folgen wir ihr. „Marsha?“, ruft sie in das dunkle Haus hinein. Ich schrecke zusammen, kann gar nicht fassen, dass sie laut ruft, obwohl dort draußen Dutzende Parasiten sind.
„Ich bin oben, Liebes. Hast du Bender gefunden?“
„Ja! Und ich habe zwei Menschen getroffen!“ Sie geht uns voran die Treppe hoch und setzt Bender ab, kaum dass sie die erste Etage betritt. Er läuft bellend in ein Zimmer am Ende des Flures.
Ich werfe einen ängstlichen Blick über die Schulter, der ganze Lärm muss die Parasiten einfach anziehen. Auch Liam blickt beunruhigt drein, ich weiß, dass er dieselben Gedanken hat wie auch ich. Wir folgen Lexi in das Zimmer, in das auch Bender verschwunden ist. Eine ältere Dame sitzt in einem dunklen Ohrensessel am Fenster, sie hat ein Buch auf dem Schoß, außer dem Sessel und mehreren bestückten Bücherregalen ist der Raum leer. Ihr Haar ist schlohweiß und kurz, ihr Gesicht faltig. Dennoch hätte ich sie jünger geschätzt als 72 Jahre.
Als sie Lexi und uns sieht, lächelt sie herzlich. „Wie wundervoll, wir haben schon ewig keine anderen Menschen mehr gesehen!“ Sie erhebt sich mit einem leisen Ächzen, kommt dann auf uns zu. „Mein Name ist Marsha Talbot.“ Sie umfasst mit beiden Händen meine, drückt sie fest.
„Ich bin Eve. Und das ist Liam.“
Sie lässt meine Hände los und umfasst nun seine. „Oh wie schön, ich freue mich wirklich.“
„Marsha, sie können uns mitnehmen! „ Lexis Augen leuchten. „Ich habe sie im Wald getroffen, sie haben Bender gefunden. Sie haben einen großen Transporter und wollen nach Arkansas, auf eine Farm! Dort soll es sicher sein, zumindest besser als hier.“ Sie deutet aus dem Fenster. „Wir müssen einfach mit ihnen fahren!“
Marsha blickt erst sie, dann uns an. „Sie haben meinen Bender gefunden?“
„Ehrlich gesagt ist Ihr Hund der Grund, weswegen wir überhaupt anhalten mussten. Ansonsten wären wir schon weiter“, sage ich und blicke auf den Westie, der an meinem Hosenbein schnüffelt. Sein verletztes Bein hat er leicht angewinkelt. „Und dann sind wir Lexi begegnet.“
„Also, was sagst du?“ Lexi blickt Marsha eindringlich an.
Auch sie sieht zu ihrem Hund. „Wir leben schon so lange hier“, sagt sie dann. „Einundvierzig Jahre, könnt ihr euch das vorstellen? Mein Mann und ich haben hier schöne Jahre verbracht, ehe er starb. Ich kenne jeden in dieser Straße beim Namen … kannte.“ Sie sieht nun zu uns auf. „Das hier ist mein zu Hause.“
„Sie sollten wirklich mit uns mitkommen, Marsha. Hier wimmelt es nur so von Parasiten, es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sie in Ihr Haus kommen. Und Sie haben keine Waffen, um sich im Notfall zu verteidigen.“ Liam streckt seine Hand aus, berührt sie sanft an der Schulter. „Ihnen wird auch bald das Essen ausgehen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es einfach werden wird, doch Sie werden eine größere Chance haben, wenn Sie mit uns kommen.“
Marsha sieht von Liam zu mir. „Was ist mit Ihnen passiert, Kindchen?“
„Wir sind anderen Menschen begegnet. Sie waren nicht so freundlich wie Sie und Lexi.“
Sie blickt mich nachdenklich an. „Denken Sie auch, dass wir es nicht länger schaffen werden?“
„Es wundert mich, dass sie beide überhaupt so lange überlebt haben, Marsha“, antworte ich ehrlich. „Sie dürfen die Parasiten nicht unterschätzen. Es sind nicht mehr Ihre Nachbarn und Freunde dort draußen. Es sind unberechenbare Wesen und sie werden Sie und Lexi töten, wenn sie merken, dass Sie hier drin leben. Liam und ich haben Waffen und Vorräte, einen Transporter. Sie sollten diese Chance annehmen.“
Sie sieht zu Lexi, in deren hoffnungsvolle braune Augen. „Darf Bender mit? Ich fahre nur mit, wenn ich meinen Bender mitnehmen darf.“
Ich muss lächeln. „Wenn wir Lexi nicht getroffen hätten, würde Bender schon lange in unserem Auto sitzen. Ich bitte darum, dass er mitkommt.“
„Dann lasst uns fahren.“ Sie blickt sich im Raum um. „Bevor mir schwer ums Herz wird.“
„Keine Sorge, Marsha. Wenn sie ein Gegenmittel gefunden haben, können wir wieder zurückkommen.“ Lexi ist bereits dabei, einzelne Sachen zusammen zu sammeln und in eine Tasche zu räumen. „Ich glaube, dass heute unser Glückstag ist, Marsha.“ Sie strahlt uns an.
Liam steht am Fenster und blickt nach draußen. „Schauen wir mal, für wie lange noch.“
Ich trete zu ihm, schaue ebenfalls nach draußen. Immer mehr Parasiten kommen auf unser Haus zu, ich sehe sie an der Tür kratzen, den herunter gelassenen Jalousien. „Wir müssen hier weg“, sage ich. „Sofort.“ Ich ziehe den Hammer aus meinem Gürtel und werfe ihn Lexi zu. „Du hast noch nie einen getötet?“ Sie blickt mich mit geweiteten Augen an, schüttelt dann den Kopf. „Das wird sich heute ändern. Du musst auf den Schädel einschlagen und das Gehirn zerstören. Nur so sterben sie.“
„Ich – ich glaube nicht, dass ich das -“
„Du musst, Lexi. Andernfalls werden wir hier nicht lebend rauskommen.“ Ich sehe sie ernst an. „Es ist beängstigend, ich weiß. Bevor das alles hier passiert ist, habe ich studiert und nebenbei bei Starbucks gearbeitet. Ich wusste auch nicht, ob ich das kann. Aber es geht um unser Überleben.“
Sie schluckt schwer, dann nickt sie wieder. „Okay, Hauptsache wir kommen hier weg.“
„Gut.“ Liam ist bereits bei der Tür, er hält die kurze Sichel fest umfasst. „Marsha, Sie müssen Bender auf den Arm nehmen, wir können nicht riskieren, dass er wegläuft. Ich werde vorgehen, Sie folgen mir. Lexi, du bleibst dich hinter ihr. Eve –“ Er sieht mich an, ich sehe die Sorge in seinem Blick „– du bildest die Nachhut.“
„Wir schaffen es, Liam“, sage ich, lächle, um den Ausdruck in seinen Augen zu vertreiben.
Er streckt seine Hand aus, streicht mir sanft über die Wange. „Sei vorsichtig, Kleines.“
„Du auch.“
Wir sehen uns kurz in die Augen. „Okay“, sagt er dann, blickt zu den anderen. „Alle bereit?“
„Nein“, sagt Lexi hoch. Der Hammer in ihren Händen zittert.
Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich bin direkt hinter dir, wenn dir einer zu nahe kommt, haue einfach zu. Du schaffst das.“ Sie nickt, die Augen angstvoll geweitet.
Liam zieht die Tür auf, tritt nach draußen in den Flur und geht geduckt auf die Treppe zu. Marsha folgt ihm, sie hat Bender auf dem Arm. Lexi und sie ducken sich ebenfalls, sie folgen Liams Beispiel. Ich folge den Vieren, die Harke fest in der rechten Hand, die linke auf den Griff meiner Glock gelegt. Wir schleichen die Treppe herunter, die Parasiten schlagen gegen die Tür, kratzen gegen die Scheiben. Liam legt einen Finger an seine Lippen, bedeutet uns so leise wie möglich zu sein, als er an der Haustür vorbei auf das Wohnzimmer zu geht. Marsha ist gerade an der Haustür vorbei, Lexi will ihr folgen, als die Tür mit einem Ächzen nachgibt. Sofort kommen die Parasiten herein, blicken uns mit ihren milchigen Augen an.
Ich packe Lexi an der Schulter und ziehe sie zurück auf die Stufen, weg von der Tür. „Liam, bring Marsha zum Transporter, wir treffen uns dort!“, rufe ich ihm zu, weiche die Stufen weiter hinauf.
Er wirft einen Blick zu der Tür, den eindringenden Parasiten. Ich weiß, dass er mich nicht zurücklassen will, doch er weiß auch, dass ich recht habe. „Wehe, wir treffen uns dort nicht!“, ruft er zurück, dann fasst er Marsha am Arm und läuft mit ihr und Bender weiter in das Wohnzimmer.
Kurz sehe ich ihm nach, dann eile ich die Stufen hinauf. „Komm Lexi!“, rufe ich, als ich mich umwende und sie noch immer auf der Treppe stehen sehe. Doch sie ist wie erstarrt, den Hammer in ihrer zitternden Hand erhoben. Die Parasiten kommen auf sie zu, immer mehr strömen durch die kaputte Tür herein.
Blitzschnell zücke ich meine Waffe, schieße den Lexi nächsten Untoten in den Kopf. Sein Gehirn spritzt den Parasiten hinter ihm ins Gesicht, er sackt auf den Stufen zusammen. Ich laufe wieder runter, packe sie fest am Arm und ziehe sie hinter mir her nach oben. Grob stoße ich sie in den uns nächsten Raum und ziehe die Tür hinter uns zu. Ich sehe mich um, wir sind in einem geschmackvoll eingerichteten Gästezimmer. Mein Blick fällt auf einen Stuhl, auf dem Klamotten liegen. Ich werfe sie achtlos auf den Boden, nehme dann den Stuhl und klemme ihn unter die Klinke.
Im nächsten Moment schlagen Dutzende Hände gegen das Holz, Stöhnen und Ächzen klingt zu uns durch. „Oh mein Gott.“ Lexi zittert am ganzen Körper, ich sehe die Tränen auf ihrem Gesicht. „Wir werden sterben, wir werden sterben …“
„Lexi, reiß dich zusammen, wir kommen hier schon irgendwie raus.“ Ich gehe zum Fenster und schiebe es nach oben. Dann hänge ich mich raus und schaue mich um. Es geht gute fünf Meter hinab, unter uns ist die Terrasse. Ich ziehe mich zurück, gehe wieder zu den Klamotten, sammele sie ein und schmeiße sie dann aus dem Fenster. „Du musst mir helfen, wir müssen alles Weiche rauswerfen.“
„Wi- wieso?“ Sie zittert noch immer.
„Wir werden springen müssen, wenn wir hier lebend raus wollen.“ Ich packe das Bettzeug und werfe es aus dem Fenster, sehe dann Lexi an. Ich mache mich für eine Diskussion bereit, dass sie versuchen wird, es mir auszureden. Doch stattdessen blickt sie mich nur kurz an, dann reißt sie die Türen des kleinen Schrankes auf und wirft mir weitere Klamotten zu. Sie landen ebenfalls auf der Terrasse, als der Schrank leer ist, sehe ich mich zu Lexi um. „Bist du bereit?“
„Nein, aber wir haben keine andere Wahl.“ Sie kommt zu mir, blickt zögerlich nach unten.
Die Tür hinter uns ächzt unter dem Gewicht der Parasiten, die sich gegen sie werfen. Ich schaue über die Schulter, in dem Moment, in dem der Stuhl nachgibt. „Hier.“ Ich fasse in meine Tasche, ziehe den Schlüssel des Transporters hervor. „Der Autoschlüssel, wehe du bringst ihn nicht zu Liam. Geh jetzt!“ Die Tür springt auf, ich wirbele herum und schieße dem ersten Parasiten, der in den Raum kommt, in den Kopf.
Ich höre Lexis leises Ächzen, als sie auf den Klamotten und dem Bettzeug landet. „Eve!“, ruft sie zu mir hoch. „Komm, schnell!“ Wieder schieße ich einem Parasiten in den Kopf, drehe mich dann zum Fenster um. Ich klettere auf den Sims, blicke ein letztes Mal über die Schulter. Immer mehr Parasiten kommen in dem Raum, der mir nächste nur noch eine Handbreit entfernt, seine Hände gierig nach mir ausgestreckt.
Ich springe.
Hart komme ich auf dem Boden auf, ächze ebenfalls, als mir Lexi auf die Beine hilft. Wir laufen zum Zaun, ich etwas hinter ihr. Sie schwingt sich über den Zaun und ich folge ihr eilig. Wieder blicke ich über die Schulter, sehe die Parasiten uns durch den Garten folgen. Die halbe Stadt muss bereits verwandelt worden sein und uns nun folgen, binnen weniger Sekunden haben sie den Zaun niedergerissen. Kurz bleibe ich stehen, schieße auf zwei Untote, die nur wenige Meter hinter uns sind. Dann folge ich Lexi durch den Wald, sie läuft mehrere Meter vor mir.
Wir laufen auf die Straße, sehen den Transporter zu unserer Rechten, Liam und Marsha warten bereits dort. „Lexi, die Schlüssel!“ Sie hält ihre Hand hoch, ich sehe sie an ihrem Mittelfinger baumeln. Sie reicht sie mir. „Liam!“, rufe ich und werfe sie ihm zu. Er fängt sie auf, entriegelt den Transporter. Marsha steigt hinten ein, wenige Minuten später sind wir bei ihnen und Lexi springt in das Auto. Ich schlage die Hintertüren zu, renne auf die Beifahrerseite und steige dort ein.
Liam sitzt bereits hinterm Steuer, der Motor läuft. Als ich meine Tür zu ziehe, drückt er auf das Gaspedal und wir fahren mit quietschenden Reifen los. „Heilige Scheiße“, sagt er, die Augen auf den Rückspiegel geheftet. „Sind alle okay?“
„Ja“, keuche ich, noch erschöpft vom Laufen. „Bei euch auch?“ Ich drehe mich zu Marsha, Lexi und Bender um.
„Ja.“ Lexis Augen sind noch immer geweitet. „Weswegen – weswegen haben sie uns auf einmal angegriffen?“
Mein Blick fällt auf den Hund. „Das Gebell wird sie angelockt haben, sie reagieren sehr empfindlich auf Lärm. Sobald sie merken, dass sich ein Mensch in ihrer Nähe befindet, greifen sie immer an. Die Kunst besteht darin, sie nicht auf sich aufmerksam zu machen.“
„Es zählt nur, dass wir es alle geschafft haben.“ Marsha beugt sich nach vorne, fasst meine Hand. „Danke.“
Ich erwidere ihren Händedruck und muss ihr Lächeln sofort erwidern. „Gern geschehen.“
„Ich kann mich auch nur bedanken.“ Lexi reicht mir beinahe schüchtern den Hammer zurück. „Du hast mir das Leben gerettet, Eve.“
Liams Blick fällt auf mein Gesicht. „Wie seid ihr da raus gekommen?“
„Gesprungen.“ Seine Augen weiten sich etwas. „Schau mich nicht so an, anders wären wir nicht mehr aus dem Haus gekommen.“
„Außerdem haben wir meinen gesamten Kleiderschrank auf der Terrasse verteilt, wir sind recht weich gelandet.“ Als ich mich zu Lexi umdrehe, sehe ich ihr Grinsen. Ich muss es erwidern.
Liam seufzt leise neben mir. „Dann ist ja gut.“
„Wir sind hier alle lebend angekommen.“ Ich boxe ihn sanft gegen den Arm. „Ein bisschen mehr Freude, wenn ich bitten darf.“
„Entschuldige“, sagt er, das für ihn typisch schelmische Grinsen breitet sich langsam auf seinem Gesicht aus. „Ich dachte, ich würde dich endlich los werden.“
Ich lache auf, drehe mich dann wieder zu den anderen um. „Liam hat einen ziemlich schwarzen Humor, zumindest hoffe ich, dass es sein Humor ist.“ Wieder lache ich, so wie auch er. „Wenn er sowas sagt, dürft ihr ihn also nicht zu ernst nehmen.“
„Das hätte ich sowieso nicht.“ Marsha feixt. „Als wir hier auf euch gewartet haben, ist der junge Mann hier von einen Fuß auf den anderen getreten, er hat sich ganz schöne Sorgen gemacht. Und Lexi, Liebes, du weißt, dass du ein tolles Mädchen bist. Aber ich glaube, dass es deinetwegen war“, sagt sie und tippt mir gegen die Schulter.
„Ach, wirklich?“ Ich ziehe eine Braue hoch, sehe Liam grinsend an.
Auch er grinst. „Sie lügt.“ Wir müssen alle lachen. „Wie können Sie mir das nur antun, Marsha?“, fragt er dann, er sieht sie über den Rückspiegel an. „Mich einfach so zu verpetzen? Nachher denkt Blondie noch, dass ich mich um sie sorge.“
„Ich habe doch gesagt, dass sie echt pfiffig ist.“ Lexi grinst breit.
„Da hast du uns nicht belogen, denn das sind Sie wirklich“, wende ich mich an Marsha.
Auch sie lächelt. „Hört auf mich zu siezen, Kinder, ich weiß, dass ich die Älteste hier bin, wahrscheinlich seid ihr drei zusammen genommen nicht einmal so alt wie ich. Aber das müsst ihr mir ja nicht immer unter die Nase reiben.“ Sie sieht Liam und mich tadelnd an.
„Wird nicht wieder vorkommen“, sagt er nur grinsend. Ich sehe zu ihm herüber, auch er hat mich gerade angesehen. Als sich unsere Blicke treffen, müssen wir beide lächeln. Es war die richtige Entscheidung, den dreien zu helfen und sie mitzunehmen, ich weiß, dass auch er es so sieht. Liam blickt wieder auf die Straße, noch immer lächelt er. „Nächster Halt Arkansas, würde ich sagen.“
„Das klingt nach einem tollen Plan.“ Ich lehne meinen Kopf an die Stütze an, langsam fährt mein Puls, das Adrenalin wieder herunter.
„Und dort lebt deine Familie?“ Lexi hat nun Bender auf dem Schoß, betrachtet sein Bein.
„Ja, ich bin dort aufgewachsen, auf einer Farm.“ Kurz umfasst er das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortreten. „Ich hoffe, dass sie noch da sind und es ihnen gut geht.“
„Das hoffe ich auch.“ Sie blickt traurig drein. „Am ersten Tag bin ich kurz zurück, zu meiner Familie. Ich wollte nach ihnen sehen und ein paar meiner Sachen holen. Ich wollte Marsha nämlich nicht alleine lassen.“ Sie lächelt die alte Dame halbherzig an. „Und als ich in mein Haus kam … Sie waren weg. Alle. Meine Eltern, meine kleine Schwester … Ich dachte erst, dass sie vielleicht geflohen seien. Doch als ich dann aus dem Küchenfenster sah, sah ich sie auf der Straße. Sie waren … sie gehörten zu ihnen.“ Sie presst ihre Lippen fest aufeinander.
„Meine Familie ist auch tot“, sage ich leise. „Meine Eltern starben bei einem Unfall, vor vier Jahre bereits, bevor das alles hier begann.“ Ich blicke auf meine Handgelenke, streiche sanft über die Schwalben. „Aber meine Tante … Ich hatte eine Nachricht auf meiner Mailbox, als mein Handy noch ging. Am Ende der Nachricht schrie sie und war auf einmal weg. Ich glaube nicht, dass sie es überlebt hat.“ Ich sehe zu Marsha und Lexi, lächle nun ebenfalls schwach. „Ich mochte sie nie besonders, aber dennoch …“
„Mein lieber Marshall starb auch, bevor das alles hier begann.“ Marsha sieht zu mir und lacht dann kurz auf. „Marsha und Marshall, verrückt, oder nicht?“ Ich erwidere ihr Lächeln, sehe die Trauer in ihrem Gesicht. „Wir waren fast 50 Jahre verheiratet. Heutzutage lassen sich so viele Menschen scheiden, halten es kaum ein Jahr miteinander aus. Doch wir haben durchgehalten, auch wenn es mal gekriselt hat. Ich habe ihn bis zur letzten Sekunde geliebt.“ Eine Träne rollt über ihre Wange. „Er ist keine sechs Monate tot, ich holte mir direkt danach Bender, um nicht so einsam zu sein.“ Sie streichelt den Hund, der noch immer in Lexis Schoß ruht.
„Und Lexi hat mir auch sehr geholfen, nicht vor Trauer zu vergehen. Er fehlt mir jeden Tag so sehr, doch wenn ich mich nun umschaue, sehe, was um uns herum geschieht … Ich bin froh, dass er es nicht mit erleben muss. Dass er seinen Frieden gefunden hat. Denn das was hier geschieht –“ Sie schüttelt kurz den Kopf „– ist einfach nur unfassbar. Menschen, die auferstehen, einander anfallen. Überlebende, die sich gegenseitig attackieren.“ Sie nickt mir zu, blickt auf meine langsam verheilenden Verletzungen. „In den ersten Tagen gab es noch mehr Überlebende außer uns. Doch sie drehten alle schnell durch, ich sah, wie ein Mann direkt vor unserem Haus einen Jungen ins Gesicht schoss. Er war keine siebzehn Jahre alt und unbewaffnet, auch keines dieser Dinger. Doch er hatte einen Pappkarton voller Lebensmittel und wollte sie nicht hergeben. Deswegen musste er sterben.“
„Wir leben in sehr schweren Zeiten.“ Liam blickt wieder in den Rückspiegel. „Eve und ich sind aus Washington geflohen, wir kannten uns vorher nicht, trafen uns auf einem Hochhausdach. Ich musste mich aus einem entgleisten Zug kämpfen, sah dort die ersten Parasiten, die die Menschen anfielen. Auf meinem Weg bis zu dem Haus, auf dem wir uns trafen, habe ich Menschen gesehen, die sich gegenseitig erschossen und angriffen. Ein Mann hat ein kleines Mädchen in die Arme der Parasiten geschubst, damit er fliehen konnte.“
„Und hier.“ Ich hebe einer meiner Strähnen an, zeige auf meine einstige Platzwunde, von der inzwischen nur noch eine hellrote Narbe zurückgeblieben ist. Auch der Schnitt auf meiner Hand ist verheilt, nur noch eine schwache Linie zu sehen. „Als das alles ausbrach, war ich bei meinem Ex-Freund Adam und seiner neuen Freundin. Wir wollten zusammen aus Washington verschwinden, doch Clarissa schlug mich nieder und ließ mich dort zurück.“ Ich seufze leise und lasse die Strähne los. „Es ist schwierig, den Menschen zu vertrauen. Also entschuldige bitte, falls wir etwas heftig zu dir waren, Lexi.“
„Das macht nichts, ich konnte es gut nachvollziehen“, sagt sie. Wir lächeln uns an. „Und du hast bei Starbucks gearbeitet?“, wechselt sie dann das Thema.
„Ja.“ Ich lehne mich mit der Schulter an meinen Sitz, um bequem mit ihnen reden zu können. „Ich hatte ein Teil-Stipendium und musste irgendwie die Kohle für den Rest aufbringen. Also habe ich immer, wenn ich nicht in der Uni saß, gearbeitet.“
„Was hast du denn studiert?“ Sie knabbert an der Haut ihres Daumens.
„Literaturwissenschaften.“
„Cool. Ich dachte, was mit Musik.“ Sie deutet auf Liams Gitarre neben sich.
„Oh nein.“ Ich grinse. „Die gehört unserem Soldaten hier.“ Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Er war bei der Army“, erkläre ich auf Lexis verwirrten Gesichtsausdruck hin.
„Das ist natürlich praktisch.“ Marsha gluckst erheitert.
„Es geht so.“ Liams Brauen sind leicht zusammengezogen. „Man lernt nicht unbedingt, wie man mit Untoten umzugehen hat.“
„Und doch habt ihr es aus Washington bis hierher geschafft.“ Marshas blaue Augen blicken weise drein. „Und uns gerettet, nicht zu vergessen. Also muss es ja doch etwas gebracht haben.“ Wieder gluckst sie.
„Wir versuchen nur zu überleben“, erklärt Liam. „Und wenn wir andere Überlebende treffen, die uns nichts Böses wollen, dann haben wir nichts gegen etwas Gesellschaft, oder Blondie?“ Er grinst mich an.
Ich strecke ihm die Zunge raus. „Nur dass wir bisher keine netten Überlebenden getroffen haben. Bis auf euch“, füge ich dann an Marsha und Lexi gewandt hinzu. „Der Großteil ist ohnehin verwandelt.“ Meine Stirn legt sich in nachdenkliche Falten.
„Ich bin froh, dass wir euch begegnet sind.“ Lexi blickt auf Bender, der auf ihrem Schoß schläft. „Wir haben diese … Parasiten ganz schön unterschätzt. Ich wusste nicht, dass sie so auf Lärm reagieren. Es ist tatsächlich ein Wunder, dass wir so lange überlebt haben. Wenn sie schon früher auf uns aufmerksam geworden wären, hätten wir das nicht überlebt. Ich hätte mich nie getraut sie so einfach zu töten.“ Sie sieht mit großen, unschuldigen Augen zu mir auf.
„Es ist auch nicht einfach“, erwidere ich. „Wenn du es einfach so könntest, von Anfang an, dann wäre irgendetwas nicht richtig mit dir.“ Liam lacht leise neben mir. „Aber wenn es um dein Überleben geht, du gesehen hast, was sie tun, sobald sie einen Menschen in ihre Finger bekommen … Dann schaffst du es auch. Der erste Parasit, den ich tötete, fiel Adam damals an. Hätte ich ihm nicht den Schädel eingeschlagen, hätte er ihn gefressen. Und wenn man nur diese beiden Optionen hat, entscheidet man sich lieber für das eigene Leben und das der Freunde.“
Liams und mein Blick treffen sich, wir sehen uns in tiefem Verständnis füreinander an. Wir beide haben getötet, sowohl Parasiten als auch lebende Menschen. Doch wir töteten jedes einzelne Mal, um unser Überleben zu sichern. Wir retteten einander, halfen einander. Ich bereue nicht einen dieser Momente und in seinen Augen lese ich, dass es auch ihm so ergeht, er jederzeit wieder diese Entscheidungen treffen würde.
„Das hoffe ich.“ Lexi blickt zu mir auf, gähnt dann leise. „Entschuldigt.“
„Nicht doch, Kindchen, es war ein anstrengender Tag.“ Auch Marsha gähnt nun. „Wir haben seit Tagen nicht richtig geschlafen, je mehr von diesen Parasiten draußen herumliefen, desto beunruhigender wurde es, sodass wir uns mit Wachehalten abgewechselt haben“, erklärt sie. „Doch auch wenn man nicht mit Wache dran war, fiel es einem schwer zu schlafen.“
„Ich weiß, was ihr meint, man schläft trotzdem immer mit einem Auge offen.“ Ich deute auf die Decken, auf denen sie sitzen. „Wie ihr seht, haben wir ein Bett gebaut. Etwas provisorisch, doch es ist durchaus bequem. Legt euch ruhig hin und schlaft etwas, wir werden jetzt eh erstmal ein Weilchen fahren. In den Tüten sind Lebensmittel, Wasser und Medikamente. Da dürft ihr euch auch gerne dran bedienen.“
Lexi mustert die Tüten neben sich, sieht dann wieder zu mir. „Danke, wirklich, Leute.“
„Ihr gehört jetzt zur Truppe.“ Liam grinst wieder einmal. „Ruht euch wirklich etwas aus. Wenn wir anhalten müssen oder sonst irgendwas Spannendes passiert, wecken wir euch, keine Sorge. Aber momentan sieht alles ganz gut aus, die Straßen sind frei und ruhig.“
Marsha und Lexi sehen sich an, dann legen sie sich unter die Decken, Bender in ihrer Mitte. Es dauert nicht lange, ehe sie alle drei friedlich schlafen. Ich habe mich wieder richtig hingesetzt, starre durch die Windschutzscheibe auf die freie Straße vor uns. Um uns herum ist noch immer Wald, ab und an sehe ich einen Parasiten zwischen den Bäumen. Mein linker Arm ruht auf der Mittelarmlehne, Liam löst seine rechte Hand vom Steuer und umfasst meine dann fest. So fahren wir mehrere Stunden schweigend, ehe ich ihn schließlich leise frage, ob ich ihn ablösen soll.
Wir halten an und tauschen die Plätze. Keine halbe Stunde später ist es bereits dunkel geworden, Liam auf dem Beifahrersitz ebenfalls eingeschlafen. Nur selten sind wir in den letzten Tagen bei Nacht gefahren, meist hielten wir mitten auf der Straße an, versperrten das Auto und schliefen für ein paar Stunden. Doch nun, wo wir Marsha, Lexi und Bender bei uns haben, die Verantwortung für drei weitere Leben tragen, möchte ich keine unnötigen Pausen einlegen.
In mir kommt der Wunsch auf, endlich Arkansas zu erreichen, Liams Familie wohlauf zu finden. Ich möchte nicht mehr unterwegs sein, nicht mehr in ständiger Bewegung und Angst. Die Vorstellung, mit den anderen einen sicheren Platz auf der Farm zu finden, gibt mir die Kraft, die ich brauche, um die Nacht durchzufahren. Zweimal muss ich wenden und mir auf der Karte eine neue Route suchen, doch ansonsten kommen wir gut voran. Das leise Atmen der anderen beruhigt mich, gibt mir fast das Gefühl, dass alles gut ist und bald wieder Normalität in unser Leben einkehren wird.
Doch dann denke ich an den Jungen auf dem Interstate, den ich erschoss, das Mädchen in der Badewanne, das tote Ehepaar im Bett. Ich denke an all die Menschen, die zurückkamen, die wir nur Parasiten nennen, damit wir das Töten eher ertragen. Doch sie hatten alle einmal Namen, ein Leben, eine Geschichte. Ich kann kaum glauben, dass ein Virus für all das verantwortlich sein soll, all die Toten, all die verlorenen Seelen. Die Rede des Präsidenten kommt mir wieder in den Sinn, dass sie forschen und nach einem Gegenmittel suchen.
Ich frage mich, ob es wirklich einmal etwas geben wird, dass all die Parasiten zurückverwandeln, sie wieder die Menschen werden lässt, die sie einmal gewesen sind. Und in diesem Zusammenhang stelle ich mir die unvermeidbare Frage, ob es dann bedeutet, dass wir kaltblütige Mörder sind. Wir haben auf unserem Weg bereits Dutzende von ihnen getötet, ihnen vielleicht die Chance auf ihr altes Leben genommen. Dann frage ich mich, ob es jemals etwas geben wird, dass dieses Virus vernichten kann und unsere Welt wieder die alte werden lässt. Ich bezweifle es irgendwie.
Hinter mir ist ein leises Gähnen zu hören, als ich einen Blick über meine Schulter werfe, sehe ich Marsha sich langsam aufsetzen. Es ist noch immer dunkel, doch die Sonne wird bald aufgehen, es beginnt bereits zu dämmern. Sie schiebt eine Strähne aus ihrem Gesicht, sieht sich um. „Fährst du schon die ganze Nacht?“, fragt sie leise.
„Liam hat eine Pause gebraucht“, erwidere ich, werfe einen Blick auf seine schlafende Gestalt.
„Ich denke, dass wir alle eine brauchen.“ Marsha rutscht so nah wie möglich an die Mittelkonsole heran, lehnt sich dann seitlich an Liams Sitz. „Du siehst erschöpft aus, Kindchen.“
Ich muss leise lachen. „Wir alle sehen erschöpft aus. Niemand wird in diesen Zeiten richtig schlafen können.“
Marsha sieht erst zu Lexi und Bender, dann zu Liam. „Die drei anscheinend schon.“
Wieder lache ich leise. „Liam schläft immer wie ein Stein. Ich hingegen wache bei dem leisesten Geräusch auf.“ Meine Brauen ziehen sich leicht zusammen. „Es ist mir ein Rätsel, wie er so tief schlafen kann.“
„Er fühlt sich sicher in deiner Nähe“, sagt sie schlicht.
„Ich fühle mich bei ihm auch sicher.“ Der bissige Unterton in meiner Stimme ist unüberhörbar.
Nun lacht Marsha leise. „Oh, so habe ich das nicht gemeint, Kindchen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr ein tolles Team seid und beide einander tief vertraut.“ Ich nicke nur nachdrücklich. „Doch als du von Washington erzählt hast, dem Adam und seiner Clarissa und dass sie dich zurückließen … Ich habe gesehen, wie du ihn währenddessen angesehen hast. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich denke nicht, dass er dir das jemals antun könnte.“
„Ich auch nicht. Eigentlich“, füge ich dann nach kurzem Zögern hinzu. „Ich weiß, dass er es nicht tun würde. Er hatte schon in mehreren brenzligen Situationen die Gelegenheit mich zurückzulassen und hat mir dennoch immer geholfen. Aber ich habe trotzdem Angst. Ich wurde schon einmal alleine zurückgelassen. Und es war einfach nur furchtbar.“
Marsha seufzt leise. „Wir alle haben Angst alleine zu sein. Lexi ist ein tolles Mädchen, weißt du. Sie ist gerade erst achtzehn geworden, noch so jung. Sie ist immer so fröhlich gewesen, bis das alles hier begann. Jetzt hat sie ihre ganz Familie verloren und seitdem nur noch mich.“ Kurz schweigt sie. „Aber ich bin alt, ich habe nicht mehr die Kraft und die Schnelligkeit, um uns beide zu schützen. Ich wusste, dass wir die Stadt verlassen müssen, doch ich wusste auch, dass ich es nicht schaffen würde. Und der Gedanke sie alleine in dieser Welt zu lassen … Daher habe ich ihr gesagt, dass wir bleiben sollten, in meinem Haus. Sie verlässt sich auf mich, vertraut mir, so wie Liam dir.“
Ich nicke langsam. „Es ist schwierig stark zu bleiben.“
„Aber wir müssen stark bleiben, für sie.“
„Ja.“ Kurz schweigen wir beide. „Ich werde auf sie aufpassen, Marsha“, sage ich dann leise. „Falls dir je etwas passieren sollte, werde ich auf sie aufpassen. Ich werde ihr schießen beibringen und ihr zeigen, wie sie sich verteidigen kann. Und dir auch, damit ihr beide für den Notfall bereit seid. Dafür bitte ich dich, dasselbe für mich zu tun. Ein Auge auf Liam zu haben, falls mir etwas zustoßen sollte.“ Wieder sehe ich zu seiner schlafenden Gestalt. „Er macht Witze, wirkt stets gefasst und gewappnet. Doch ich weiß, dass er Angst hat, große sogar. Er ist sehr sensibel.“
„Das glaube ich auch.“ Ihre Hand fasst meine Schulter, drückt sie kurz. „Abgemacht, Kindchen. Aber lass uns doch auch gleich, wenn wir schon Abkommen schließen, eines machen, in dem wir einander versprechen, so lange wie möglich durchzuhalten, okay?“
Ich lache leise, nehme eine Hand vom Steuer und lege sie auf ihre. „Das klingt sehr gut.“
Auch sie gluckst. „Ich bin euch wirklich sehr dankbar, dass ihr uns mitgenommen habt. Nach allem, was ihr erzählt habt und was ich auch selber gesehen habe, ist es nicht mehr selbstverständlich auf die Hilfe anderer Überlebender zu setzen.“
„Das stimmt wohl.“ Ich sehe wieder John, Keith und ihre Freunde vor mir. „Man muss mehr denn je aufpassen, wem man vertrauen kann und wem nicht. Leider.“
„Solange wir einander vertrauen, wird alles gut werden.“
Ich muss über ihren Optimismus lächeln. Die Sonne geht langsam auf, ich betrachte den orangefarbenden Himmel. Trotz oder vielleicht wegen all der Erlebnisse der letzten Tage kann ich mich kaum satt sehen an diesem Bild, dieser Idylle und Friedlichkeit, die es ausstrahlt. Liam neben mir rührt sich, er streckt sich, öffnet dann langsam die Augen. Er blinzelt gegen die ersten Sonnenstrahlen an, reibt sich den Schlaf aus den Augen und setzt sich dann auf.
Erst sieht er zu mir, dann zu Marsha, die noch immer zwischen unseren Sitzen durchschaut. Anschließend wandert sein Blick aus dem Fenster, auf die leere Straße, auf der wir gerade unterwegs sind. „Wo sind wir?“, fragt er und gähnt im nächsten Moment.
Mein Blick huscht kurz zu der Karte, die ausgebreitet auf dem Armaturenbrett liegt. „Ich glaube, der Ort heißt Summertown. Vor einer halben Stunde etwa sind wir an Columbia vorbei.“
„Was? Wir sind schon in Tennessee?“ Mit einem Mal ist er hellwach.
Ich muss tatsächlich schnauben. „Schon? Ich musste in der Nacht zweimal wenden, das eine Mal kam eine Herde Parasiten auf uns zu, das andere Mal versperrten mehrere Wagen die Fahrbahn. Und weil ich Nashville so weitläufig wie möglich umfahren wollte, sind wir etwas vom Kurs abgekommen. Aber ich glaube, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist, der Interstate wird nicht anders aussehen als die anderen zuvor.“
„Tut mir leid, dass ich eingeschlafen bin, Kleines.“
„Macht doch nichts.“ Ich lächle ihn an. „Du musst auch irgendwann mal schlafen. Außerdem haben Marsha und ich uns nett unterhalten.“
„Genau“, stimmt diese munter zu.
„Dann bin ich ja beruhigt.“ Er blickt sich um. „Wollen wir wieder tauschen, Blondie? Es scheint recht ruhig hier zu sein. Und wenn du die ganze Nacht durchgefahren bist, solltest du jetzt mal etwas schlafen.“
„Ich wäre auch dafür, dass wir kurz anhalten, ich müsste mal“, sagt Marsha. „Und ich glaube, dass Bender auch etwas Auslauf vertragen kann.“
Ich sehe mich in der ruhigen Kleinstadt um, weder Parasiten noch Menschen sind zu sehen. Mein Blick gleitet über abgestellte Fahrzeuge, deren Türen noch offen stehen, eingeschlagene Fensterscheiben und auf der Straße verteilte Lebensmittel. An einigen Hausfassaden sehe ich blutige Handabdrücke. „Na gut, lasst uns mal schauen, was wir hier so finden.“
Marsha weckt Lexi auf und holt eine Hundeleine aus deren Umhängetasche, während ich in der Mitte einer Kreuzung anhalte. Liam holt den Revolver aus dem Handschuhfach, dem er dem toten Mann damals abgenommen hat. Mein Blick fällt auf mein inzwischen leeres Handy, erinnert mich an meine tote Tante und das dieses Virus in Deutschland ebenfalls ausgebrochen ist. Dann klappt er das Handschuhfach wieder zu.
Er dreht sich zu den anderen beiden um. „Hier, eine von euch nimmt den Revolver. Wenn euch jemand oder etwas zu nahe kommt, versucht ihr erst zu fliehen. Ihr schießt nur, wenn es wirklich nötig ist, und dann immer auf den Kopf zielen.“ Er sieht die beiden eindringlich an, übergibt Lexi dann den Revolver, nachdem Marsha ihm bedeutet hat, ihn ihr zu geben.
Ich ziehe den Hammer und einen der Schraubenzieher aus meinem Gürtel und reiche sie ebenfalls nach hinten. „Hiermit könnt ihr euch ebenfalls verteidigen. Aber ich wäre eh dafür, dass wir uns nicht allzu weit voneinander entfernen.“
„Ja bitte.“ Lexi blickt ängstlich auf den Revolver.
Liam grinst. „Ist Bender festgenommen?“
„Ja.“ Marsha hält gut gelaunt die Leine in die Höhe. „Wir sind bereit, Kinder.“
„Gut, dann mal los.“ Liam und ich steigen aus, Lexi öffnet die breiten Hintertüren des Transporters. „Ich werde den Transporter abschließen, nur für den Fall, dass hier doch noch Menschen sind. Wir können es uns nicht erlauben, dass jemand uns Vorräte oder gleich das gesamte Auto stiehlt“, sagt Liam, lässt sich von mir den Schlüssel reichen und verriegelt den Wagen. „Also lasst uns wirklich versuchen zusammenzubleiben. Damit wir auch alle wieder hier wegkommen.“
„Ich will nur kurz auf Toilette und Bender etwas laufen lassen, dann können wir gerne weiter.“ Marsha entfernt sich bereits von dem Auto, Bender schnüffelt neugierig. Lexi wirft uns einen Blick zu, umfasst dann den Revolver etwas fester und folgt ihr.
Liam und ich blicken uns an. „Vielleicht finden wir noch ein paar Sachen, die wir mitnehmen können“, sage ich und sehe mich in der Geisterstadt um. Es scheint keine richtigen Geschäfte zu geben, doch in Wohnungen sind wir auch schon oft fündig geworden.
„Ich finde, du solltest lieber bei den beiden bleiben. Dreien“, verbessert er sich mit einem Blick auf den Hund. „Ich schaue mich um.“ Er nimmt meine Hand, legt dann den Autoschlüssel hinein. „Nur für den Notfall, Kleines. Ich fühle mich wohler, wenn du ihn hast.“
Ich sehe auf den Schlüssel, dann wieder zu Liam. „Mach keinen Scheiß, hörst du?“
Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Du auch nicht, Blondie.“ Ich trete nach ihm aus, doch er weicht lachend aus. „Ich werde mich dann mal umsehen“, sagt er über die Schulter, grinst mich ein letztes Mal breit an. Dann verschwindet er in eines der Häuser, die Sichel in der Hand.
Kurz sehe ich ihm nach, dann laufe ich hinter Lexi, Marsha und Bender her. Sie sind noch immer auf der Straße, schauen ab und an in eines der Häuser, trauen sich jedoch nicht eines zu betreten. Als ich zu ihnen aufschließe, fährt Lexi erschrocken herum, den Hammer erhoben. Ich hebe meine Hände an. „Ganz ruhig, Lexi.“
„Entschuldige.“ Sie lässt den Hammer sinken, holt tief Luft. „Das ist nichts für mich, wirklich nicht.“
„Schon okay, es ist richtig Angst zu haben, sie macht dich wachsam. Du darfst dich von ihr nur nicht verrückt machen lassen.“ Ich sehe mich um, die Straßen sind nach wie vor ruhig. „Lasst uns mal in eines der Häuser gehen.“
„Ich weiß nicht, ob das so -“
„Lexi.“ Ich fasse sie an den Schultern, sehe ihr ernst ins Gesicht. „Ich weiß, dass du große Angst hast. Ich habe auch Angst. Am liebsten würde ich mich irgendwo verstecken, am besten unter einer Bettdecke verkriechen wie früher als kleines Kind.“ Sie nickt, beißt sich fest auf die Unterlippe. „Aber wenn du nicht lernst, deine Angst zu nutzen, auch mal über sie hinauszuwachsen, dann wirst du alleine nicht weit kommen. Und ich kann dir und auch Marsha nicht versprechen, dass wir immer da sein werden, um auf euch aufzupassen. Du musst lernen, dich selbst zu verteidigen und ohne fremde Hilfe zu überleben. Und deswegen werden wir jetzt da reingehen. Ich bin direkt hinter dir, okay?“
Sie kaut noch immer auf ihrer Unterlippe, ich sehe den unglücklichen Ausdruck in ihren Augen. Doch sie nickt. „Okay. Gibt es etwas, worauf ich achten muss?“ Sie schaut auf den Hammer in ihrer Hand, den Revolver hat sie in den Bund ihrer Jeans gesteckt.
„Sei leise und aufmerksam, halte die Waffe immer schlagbereit. Und setze auf dein Gehör. Die Parasiten sind meistens sehr laut, ständig laufen sie irgendwo gegen, ächzen und stöhnen. So kann man meist gleich zu Beginn ausmachen, ob es sicher ist einen Raum zu betreten. Vergewissere dich immer, dass auch wirklich keine ungebetenen Gäste um dich herum sind. Und halte dir Fluchtwege offen. Alles verstanden?“ Sie nickt, umfasst den Hammer etwas fester. „Also gut, dann los.“ Ich deute auf eine offen stehende Tür. Lexi wirft Marsha einen letzten Blick zu, dann betritt sie uns voran das Haus. Ich bleibe wie versprochen dicht hinter ihr, Marsha hat ihre freie Hand auf meinen Rücken gelegt, um uns in dem dunklen Haus nicht zu verlieren, Bender im anderen Arm.
Meine Sinne sind geschärft, ich horche auf fremde Geräusche, meine Augen suchen jeden Winkel des Hauses ab. Ich fühle mich nicht ganz wohl mit Lexi als Anführerin, doch sie muss lernen in dieser neuen Welt zu bestehen. So wie auch Liam und ich es lernen mussten, um zu überleben. Auch sie sucht alles aufmerksam ab, ihre Augen gleiten über jeden Zentimeter des Flures, dann des Wohnzimmers, der Küche und des Badezimmers. Das Haus ist sauber.
„Sehr gut“, lobe ich sie, als sie sich etwas entspannt. „Marsha, du kannst in das Badezimmer gehen. Lexi wartet auf dich vor der Tür, ich sehe mich mal etwas um.“ Ich öffne die Tasche an meinem Gürtel, ziehe die Taschenlampe raus, die Liam mir in der Kanalisation damals gab.
„Wieso haben wir sie nicht benutzt, als wir reinkamen?“ Lexi nimmt Marsha den Hund ab, presst ihn fest an ihre Brust.
„Wenn ein Parasit hier gewesen wäre, hätte ihn das Licht angezogen. Liam und ich haben es einmal erlebt, dass einer durch das Licht auf uns aufmerksam wurde. Als er uns angriff, ließ er die Taschenlampe fallen und wir waren wie blind. Es war pures Glück, dass er ihn rechtzeitig erwischt hat, ehe er einen von uns beißen konnte. Wenn du aber vornherein ohne Licht arbeitest, deine Augen sich an die Umgebung gewöhnen, hast du eine gute Chance.“
„Okay.“ Ich sehe ihr an, dass sie versucht sich jedes meiner Worte zu merken.
„Gut.“ Ich lächle ihr beruhigend zu. „Marsha geht auf Toilette, du wartest hier auf sie, ich sehe mich kurz in den Räumen um und hole euch dann hier wieder ab, okay?“ Sie nickt wieder. Ich lege meine Hand auf ihre Schulter, drücke sie kurz, um ihr Mut zuzusprechen. Dann entferne ich mich von den beiden, sehe mich in dem Haus um. Doch mir wird schnell klar, dass es hier nichts Wertvolles gibt, sämtliche Lebensmittel, Medikamente und Waffen sind bereits mitgenommen worden.
Als ich zu Lexi und Marsha zurückgehe, sehe ich sie beide vor dem Badezimmer auf mich warten. Auch ich gehe noch einmal kurz auf Toilette, betätige die Klospülung und seufze leise, als sich nichts tut und ich mich wieder daran erinnere, dass es kein Wasser und Strom mehr gibt. Gemeinsam verlassen wir das Haus wieder, gehen zurück zum Transporter, nur ab und an halten wir an, wenn Bender schnüffelt.
Ich sehe mich in den ausgestorbenen Straßen um, versuche mir vorzustellen, wie es hier früher einmal ausgesehen haben muss. Doch ich kann es nicht. Ich sehe nur die verlassenen Fahrzeuge und Häuser, die eingeschlagenen Scheiben. Ich kann mir diesen Ort nicht mit lachenden, fröhlichen Menschen vorstellen, dem früheren alltäglichen Trubel. Mein Blick fällt auf einen Presslufthammer, der in einer abgesperrten Baustelle auf dem Asphalt liegt. Niemals hätte ich gedacht, dass ich eines Tages einmal diesen Lärm vermissen würde, der mir früher in Washington immer so verhasst gewesen ist. Den Verkehr, Bauarbeiten, Alarmanlagen, Flugzeuge. Nun ist es nur noch still. Und wenn ich etwas höre, macht es mir Angst, weil ich nicht weiß, ob ich es überleben werde.
Als wir nur noch wenige Meter vom Transporter entfernt sind, sehe ich drei Parasiten, sie kommen aus einem Gebäude zu unserer Rechten. Ich bedeute Lexi und Marsha ruhig zu sein und mir hinter ein Auto zu folgen. Vorsichtig sehe ich über das Dach des Wagens, vergewissere mich, dass den dreien keine weiteren Parasiten folgen. Doch sie sind tatsächlich nur zu dritt, stolpern durch die Straße, stöhnen leise.
Erst will ich warten, bis sie von alleine weiterziehen, doch dann kommt mir eine Idee. Ich sehe zu Lexi und Marsha, sie haben beide noch immer ihre Waffen. „Seid ihr bereit, es einmal zu versuchen?“ Fragend blicke ich sie an. Sie wechseln beide einen unsicheren Blick, wissen sofort, was ich meine. „Der Transporter ist nicht weit weg, ich werde ihn aufschließen und wir lassen Bender dort.“
„Wagen wir es.“ Marsha sieht erst mich, dann Lexi an. „Irgendwann müssen wir es so oder so tun, ich hätte gerne die Chance mehr oder weniger in Ruhe zu üben.“
„Sehr schön.“ Ich lächle ihnen beruhigend zu. „Behaltet ihre Hände im Auge und natürlich ihre Köpfe. Man muss das Gehirn zerstören, denkt daran. Ich gehe voran, entriegele den Transporter, wir setzen Bender ab und dann erledige ich einen. Ihr dürft euch dann an den anderen probieren, alles klar?“
Sie nicken beide, umfassen ihre Waffen etwas fester. Ich nehme Marsha vorsichtig den Hund ab und presse ihn fest an meine Brust. Wieder sehe ich über das Autodach, sehe die Parasiten gute zehn Meter von unserem Transporter entfernt herum wandern. Leise schleiche ich hinter dem Auto hervor, laufe geduckt auf unseren Wagen zu. Ich schließe die Hintertüren auf, lasse Bender durch einen kleinen Spalt schlüpfen. Nachdem ich den Transporter wieder verschlossen habe, winke ich den beiden zu, dass sie zu mir kommen sollen.
Binnen weniger Sekunden sind sie bei mir, von den Parasiten unentdeckt. Ich schaue um das Auto, sehe die Parasiten sich immer weiter entfernen. Die Harke erhoben bedeute ich Lexi und Marsha, dass sie mir folgen sollen. Ich trete hinter dem Auto hervor, pirsche mich an einen der Parasiten heran. Noch ehe er mich bemerkt, ramme ich ihm fest die Harke in den Hinterkopf. Blut spritzt, der Untote sackt zusammen und ich fange ihn auf, um ihn leise auf die Straße zu legen. Die anderen haben uns nicht bemerkt.
Ich sehe zu Lexi und Marsha. Lexi schluckt einmal schwer, dann tritt sie hervor, den Hammer erhoben. Sie geht auf einen der beiden Parasiten zu. Er hört sie hinter sich, dreht sich um, blickt sie mit seinen milchig weißen Augen an. Ich sehe ihre Hände zittern, will nach vorne treten, um ihr zu helfen, doch Marsha legt mir eine Hand auf die Schulter und hält mich zurück.
Der Parasit geht langsam auf Lexi zu, streckt seine Hände nach ihr aus, beginnt zu fauchen. Auch der zweite wird auf sie aufmerksam, folgt dem anderen nur wenige Meter entfernt. Lexi weicht zurück, starrt mit weit aufgerissenen Augen auf die Untoten. Im nächsten Moment reißt sie den Hammer hoch und schlägt auf den ihr näheren ein. Marsha neben mir läuft los, auf den zweiten zu und rammt ihm den Schraubenzieher fest ins Auge. Zeitgleich gehen die beiden Parasiten tot zu Boden.
Schweratmend starrt Lexi auf den hinab, den sie getötet hat. Dann sieht zu mir auf. „Ich – ich hab’s geschafft.“ Sie klingt überrascht, so als hätte sie es sich selbst niemals zugetraut. „Ich habe ihn getötet und ich … hatte auf einmal keine Angst mehr!“
„Wir wussten, dass du es schaffst.“ Auch Marsha ist leicht außer Atem, legt einen Arm um Lexis Schultern. Als sie zu mir sieht, kann ich in ihrem Blick die Bitte lesen, ihr nicht zu erzählen, dass ich dazwischen gehen wollte.
Doch ich hatte es ohnehin nicht vor. „Das war großartig. Ihr beide wart großartig.“ Ich lächle zufrieden. „Ihr hattet keine Angst und habt die Dinger einfach erledigt. Nein, behalte ihn“, sage ich dann, als Lexi auf mich zukommt und mir den Hammer zurückgeben will. „Ihr beide. Ihr braucht Waffen, um euch verteidigen zu können. Also behaltet sie beide, ich habe genug.“ Ich hänge die Harke in meinen Gürtel. Tatsächlich ist er inzwischen etwas ausgedünnt, ich habe noch zwei Feilen, eine Zange und einen Schraubenzieher neben meiner Harke. Doch bei Gelegenheit werde ich mir neue Waffen besorgen. „Ihr wart beide toll, wirklich.“
„Ja, wir sollten sowas wie Olympische Spiele veranstalten.“ Wir drehen uns alle drei um, sehen Liam grinsend am Transporter lehnen. „Ich nenne es die Parasitische Olympiade. Parasiten-Weitwurf, Parasiten-Nahkampf, Parasiten-Hürdenlauf …“
„Halt die Klappe und steig ein“, sage ich grinsend und werfe ihm den Autoschlüssel zu.
Er lacht nur und fängt den Schlüssel mit einer Hand auf. „Ihr seid mir welche, wirklich. Da lässt du sie zum Üben Parasiten töten!“
„Klappe halten und einsteigen habe ich gesagt.“ Doch auch ich muss lachen, ebenso wie Marsha und Lexi. Er entriegelt den Wagen, wir steigen alle ein. Bender freut sich uns zu sehen, seine Rute geht wild hin und her. Nachdem wir alle Türen geschlossen haben, versperrt Liam die Türen. Dann fahren wir weiter.
Während er fährt, hole ich etwas Schlaf nach, nach wenigen Stunden tauschen wir wieder. Die Nacht bricht über uns herein, dann wieder der Morgen. Durch die verdammten Parasiten sind wir vom Kurs abgekommen, vor wenigen Stunden haben wir die Grenze zu Georgia überfahren, ein weiter Umweg. Immer wenn uns eine Route sicher erscheint, stellen wir bald darauf fest, dass sie durch zerstörte Autos oder eine Herde versperrt ist. Als ich eine Nacht später wieder fahre, muss ich sogar wegen eines Baumes wenden, der auf die Fahrbahn gestürzt ist.
Doch auch wenn wir weite Umwege fahren, immer wieder umkehren und uns einen neuen Weg suchen müssen, so nähern wir uns doch Arkansas, unserem Ziel. Seit wir Marsha und Lexi getroffen haben, sind vier Tage vergangen. Seit sie bei uns sind, lachen wir mehr, wir erzählen uns Geschichten aus unseren alten Leben, lenken uns gegenseitig von dem ab, was um uns herum geschieht. Auch wenn ich es genossen habe, Liam nur für mich zu haben, habe ich bisher nicht eine Sekunde bereut, dass wir sie mitgenommen haben.
Wieder fährt Liam, wir sind auf einer abgelegenen Straße, versuchen Atlanta so weitläufig zu umfahren wie möglich und nach Alabama zu gelangen. Wir unterhalten uns gerade über Sitcoms, die wir früher gerne gesehen haben, es fühlt sich beinahe so an, als würden wir von einer völlig anderen Welt reden. Ich weiß, dass auch die anderen die Wehmut, diese Trauer spüren müssen, die auch mich überkommt, in Erinnerung an unser altes Leben. Dennoch ist es besser über das zu reden, was wir verloren haben, als über das zu sprechen, was wir vielleicht noch verlieren werden.
Wir lachen gerade über Lexis Imitation von Marge Simpsons, als Liam jäh abbremst. „Ach du Scheiße“, sagt er, als wir in Schrittgeschwindigkeit an einem demolierten Auto vorbeifahren. Seitlich ist es gegen einen Baum geprallt, die Karosserie ist völlig zerstört. Ein Parasit liegt unter den Vorderreifen, vermutlich war er der Grund, weswegen das Fahrzeug von der Straße abgekommen ist. Langsam rollen wir an dem Wrack vorbei, ich besehe das rote Fahrzeug, mein Blick fällt auf einen Aufkleber auf der Heckscheibe, der nur noch halb zu lesen ist. … we trust.
„Halt an!“ Meine Augen weiten sich, ich rutsche nah an das Fenster heran. „Liam, du musst anhalten!“ Ich versuche den Wagen im Blick zu behalten, sehe ihn auf einmal unbeschädigt an einem anderen Ort, einem anderen Tag.
„Nein.“ Ich blicke zu Liam, sehe den Ausdruck in seinem Gesicht und weiß, dass auch er den Wagen erkannt hat. Dass auch er weiß, wer mit diesem Auto aufgebrochen ist. Der Grund, weswegen wir uns überhaupt begegnet sind.
„Liam, bitte.“ Ich sehe ihn einfach nur an, kann nicht fassen, dass er weiterfährt.
„Wozu, hä? Damit du in dem Wrack irgendwelche Toten siehst? Vielleicht noch von Parasiten angefallen wirst? Oder noch schlimmer: Sie sind es, tot, und dann? Was ist dann, sag mir das mal!“
„Ich will nur nachsehen, ob jemand überlebt hat“, erwidere ich ruhig.
„Ja genau, wem willst du das erzählen? Ich erkenne den Wagen wieder, das, was von ihm übrig geblieben ist“, sagt er hart. „Dieser bescheuerte Heckscheiben-Aufkleber. Den fand ich damals in Washington schon dämlich, als ich ihn das erste Mal gesehen habe.“
„Liam. Halt. An.“ Meine Hände zittern mit einem Mal vor Wut.
„Nein!“ Er wirkt nicht weniger erzürnt als ich.
„Tu es“, mischt Marsha sich leise ein. Ich habe sie und Lexi vergessen, einfach ausgeblendet. Nun bin ich überrascht, dass sie unserer Unterhaltung folgen können, sie sich sogar auf meine Seite stellt. „Für ihr Seelenheil, Junge.“
Liam sieht zu mir, blickt mir direkt ins Gesicht. Dann tritt er hart das Bremspedal durch, legt den Rückwärtsgang ein. Neben dem Wrack halten wir an, ich betrachte den Wagen, versuche ihn mit dem Bild aus meiner Erinnerung in Einklang zu bringen, dem Jeep, in dem Adam und Clarissa aufgebrochen sind. Ohne mich. Ich schnalle mich ab, will aus dem Transporter steigen, doch Liam hält mich fest. „Ich komme mit. Keine Widerrede.“ Unsere Blicke treffen sich, seine Augen voller Wut. Ich entreiße ihm meinen Arm, steige aus, ohne etwas zu erwidern.
Langsam gehe ich auf das Wrack zu, betrachte die zersplitterten Scheiben, den verzogenen Rahmen. Die Türen stehen weit offen, der Airbag hat sich bei der Kollision mit dem Baum geöffnet, doch ich sehe kein Blut, keinen Menschen, ob lebend oder tot. Ich gehe einmal um das Auto herum, hocke mich dann vor den Parasiten hin, der unter den Rädern liegt. Sein Schädel ist zertrümmert, doch es ist nicht beim Aufprall passiert.
„War’s das jetzt? Keiner ist hier, können wir dann weiterfahren?“
Suchend blicke ich zwischen die Bäume. „Sie müssen hier irgendwo sein, Liam.“
„Ja, vermutlich als wandelnde Tote! Sie haben einen verdammten Parasiten überfahren, was denkst du, wie groß ihre Überlebenschancen da waren?“
„Aber er war unter dem Wagen eingeklemmt. Und sein Schädel ist eingeschlagen.“ Ich erhebe mich langsam, mein Blick ruht noch immer auf dem Wald. „Ich werde nachsehen, ob sie hier irgendwo sind.“
Wieder fasst mich Liams Hand am Arm, dieses Mal fester als zuvor. „Wir werden jetzt nicht in diesem Wald nach irgendwelchen Hirngespinsten von dir suchen! Ich gehe nicht bei dem Versuch drauf, irgendwelche Arschlöcher aus Washington zu finden, die hier wahrscheinlich niemals lang gekommen sind!“
„Schön, dann gehe ich eben alleine!“ Wieder entreiße ich ihm meinen Arm. „Wenn du dir so sicher wärst, dass sie es nicht sind, dann würdest du nicht so sein.“ Mein Blick ist kalt, so wie meine Stimme. „Wovor hast du Angst, Liam?“
„Ich – ich habe keine Angst.“ Er schlägt die Augen nieder, schafft es nicht, mich weiterhin anzusehen. „Ich will nur keine kostbare Zeit verschwenden.“
„Dann geh zurück zu den anderen, deine kostbare Zeit nutzen, während ich mich umsehe.“ Ich zücke die Harke, trete dann ohne ein weiteres Wort zwischen die Bäume. Hinter mir höre ich ihn leise seufzen, dann seine Schritte. Er folgt mir, egal wie wütend er auch sein mag, er will mich nicht alleine lassen.
Leise schleiche ich durch den Wald, lausche auf irgendwelche Geräusche. Doch außer Liam hinter mir höre ich nichts. Die Harke erhoben gehe ich weiter, höre rechts von mir ein Rascheln. Ich fahre herum und sehe den Vogel, der unter einem Busch hervorkommt. Langsam lasse ich die Harke wieder sinken, hänge sie in meinen Gurt und entspanne mich etwas.
Im nächsten Moment frage ich mich, was ich hier eigentlich tue. Clarissa hat mich damals niedergeschlagen, sie wollte mich nicht dabei haben, aus Angst, ich könne ihr Adam irgendwie wegnehmen. Und er … er ist nicht zurückgekommen. Was immer sie ihm auch erzählt hat, weswegen ich nicht bei ihr war, er hat es ihr einfach geglaubt, und ist dann mit ihr gefahren, fort. Und ich bin alleine dort zurückgeblieben, ohne Waffen, ohne Schutz. Ohne eine Chance.
Ohne Liam wäre ich nicht einmal lebend aus Washington herausgekommen, er hat mir das Leben gerettet, mehr als einmal. Seit wir uns kennen ist er immer für mich da gewesen, hat sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um mich nicht zu verlieren, immer und immer wieder. Und nun beharre ich darauf einer Vergangenheit hinterherzujagen, die unsere Mühen nicht wert ist, mehr noch, die Liam verletzt. Weil ich ihn und alles, was er für mich getan hat, somit in Frage stelle.
Ich bleibe augenblicklich stehen, als mir diese Erkenntnis kommt. Er ist sofort neben mir, schaut in den Wald, vielleicht weil er denkt, dass ich etwas gesehen habe, dass mich so abrupt anhalten lässt. Doch außer meinen Fehlern sehe ich nichts. Ich wende mich ihm zu, nehme sein Gesicht fest in meine Hände. Die Verwunderung spricht aus seinem Blick, doch ich sehe auch Wärme, Zuspruch, Hoffnung, Zärtlichkeit in seinen grauen Augen.
„Liam“, sage ich, sehe ihn an. „Du hast recht, ich bin einfach … blöd. Sie waren es nicht und selbst wenn, dann ist es mir egal. Sie zählen nicht, nicht mehr, denn ich habe jetzt dich. Es tut mir leid, dass ich dich dazu gedrängt habe. Wirklich.“
Seine Hände legen sich auf meine, ziehen sie sanft von seinem Gesicht. Dann umfasst er sie fest. „Blondie, du bist die verrückteste, sprunghafteste Frau dieser Welt.“
„Bei unserer jetzigen Welt könntest du vielleicht sogar recht haben.“
Er lacht, kommt mir dann näher. „Aber es ist toll, dass du so bist, dass weißt du doch, oder?“ Er sieht mich an, sein Blick ist sanft, beinahe liebevoll. „Mach dir keine Gedanken, wir haben nachgesehen, uns auch hier im Wald etwas umgeschaut und jetzt können wir zum Transporter zurück und weiter, ohne dass wir uns fragen müssen, ob es nicht ein Fehler war einfach weiterzufahren. Es ist nicht schlimm.“
„Und deine kostbare Zeit?“, werfe ich ein, lächle schwach.
Er erwidert es. „Ist gut genutzt, denn ich bin hier. Bei dir.“ Sein Kopf legt sich leicht schief. Mein Herz schlägt auf einmal schneller, ich verstehe nicht wieso, weiß nur, dass es gut ist, richtig ist. Ich will ihm meine Hände entziehen, sein Gesicht berühren, seine warme Haut unter meinen Fingern fühlen. Ich will ihm nah sein, nicht weil wir so viel zusammen durchgemacht haben, nicht weil er einer der wenigen überlebenden Menschen dieser gottverlassenen Welt ist. Ich will ihm nah sein, weil er er ist.
Doch ich komme nicht dazu, all das zu tun, zu fühlen.
„Hallo? Ist da jemand?“ Wir fahren beide herum zu der Stimme, ziehen unsere Waffen. Ich sehe eine Gestalt zwischen den Bäumen, sie kommt auf uns zu, die Hände erhoben. Die Kleidung verdreckt und teilweise zerrissen, die Haut von Schrammen und Blutergüssen überzogen, tritt ein Mann zwischen den Bäumen hervor, langsam, vorsichtig, damit wir nicht schießen.
Ich lasse meine Waffe sinken, starre den Mann einfach nur an. „Adam?“
„Eve?“ Langsam lässt er seine Hände sinken. „Bist – bist du es wirklich?“
Ich will ihm antworten, auch wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll. Da taucht eine weitere Gestalt zwischen den Bäumen auf. „Baby, wer ist – Oh mein Gott.“ Clarissa starrt mich an, ihr Mund öffnet sich leicht. Ich sehe die Fassungslosigkeit, das Entsetzen in ihrem Gesicht, ihren geweiteten Augen. In diesem Moment verstehe ich, dass sie mich nicht einfach nur außer Gefecht hat setzen wollen. Es ist ihr nicht darum gegangen, mit Adam zu fliehen. Es ist ihr nicht darum gegangen, mich in Washington auf mich alleine gestellt zurückzulassen. Ich begreife, dass Clarissa vorhatte, mich tatsächlich zu töten. Ich sehe es in ihrem Gesicht, in ihren Augen.
Als mir diese Erkenntnis kommt, kommt auch die Wut, unglaublicher Hass. Binnen weniger Sekunden bin ich bei ihr, schlage ihr mit der Faust fest ins Gesicht. „Du verdammtes Miststück!“ Clarissa fällt hinten über, hält sich die Hände schützend vor den blutenden Mund. Doch ich werfe mich auf sie, will auf sie einschlagen, immer und immer wieder, bis sie sich nicht mehr rührt. Ich hole weit aus, will wieder zuschlagen, ihr die Knochen brechen. Da packt Liam meinen erhobenen Arm, zerrt mich von ihr herunter. Seine Arme schlingen sich fest um meinen Oberkörper. Während er mich von ihr wegträgt, trete ich in die Luft aus, zornentbrannt. „Du gottverdammtes Miststück! Du wolltest mich töten, du wolltest mich umbringen!“ Ich versuche mich Liam zu entreißen, schaffe es jedoch nicht.
„Was zur Hölle ist in dich gefahren?“ Adam hat sich neben Clarissa in den Dreck geworfen, starrt mit geweiteten Augen zu mir auf. „Bist du jetzt völlig abgedreht? Wieso greifst du sie einfach so an? Sie hat dir nichts getan!“
„Außer sie in Washington bewusstlos zu schlagen, stimmt schon“, erwidert Liam kalt.
Adam sieht ihn an, scheint ihn nun das erste Mal wirklich wahrzunehmen. „Wer bist du, verdammt nochmal?“
„Ich bin der Typ, der Eve das Leben gerettet hat, während deine Freundin sie töten wollte.“
„Was redet ihr denn da für eine Scheiße?“
„Für eine Scheiße?“ Ich habe mich soweit beruhigt, dass ich nicht mehr versuche mich aus Liams Armen zu winden. Doch ich bin noch immer wütend, er hält mich noch immer sicherheitshalber fest. „Was denkst du denn, weswegen ich auf einmal nicht mehr da war, hä? Was für eine Lüge hat sie dir denn erzählt?“ Ich nicke zu Clarissa, sie sitzt stumm auf dem Boden, hält ihre Hände vor ihre blutende Lippe.
„Sie – sie sagte, dass du es dir anders überlegt hättest.“ Adam schaut von ihr zu mir.
„Ja genau“, höhne ich, „ich wollte lieber noch etwas in diesem Höllennest sitzen, wieso auch nicht?“ Wieder sieht er zu Clarissa, ich sehe die Unsicherheit in seinem Blick, doch noch ist er nicht überzeugt. Ich schiebe mein Haar ruppig beiseite, zeige ihm die frische Narbe auf meiner Stirn. „Toll, was man mit einem Messerblock alles so machen kann, was?“
Er starrt auf meine Narbe. „Baby?“, flüstert er dann fragend.
„Sie lügt, die dämliche Narbe könnte sie überall her haben.“ Clarissa spricht leise.
„Adam, wer hat dich vor dem Scheißparasiten gerettet, gesagt, dass wir schnellstmöglich abhauen müssen, hm? Ich wollte sogar mitkommen, dass verdammte Auto holen! Und dann überlege ich es mir auf einmal anders? Glaubst du das allen Ernstes?“ Ich starre ihn an, wütend.
„Clairy?“ Er sieht sie eindringlich an. „Was hast du getan?“
Kurz erwidert sie seinen Blick. „Na schön, ich habe sie zurückgelassen, und wenn schon?“
„Clarissa!“ Seine Augen weiten sich, er sieht von ihr zu mir, dann wieder zurück. „Wie konntest du sie verdammt nochmal zum Sterben zurücklassen?“
„Habe ich doch gar nicht!“, verteidigt sie sich schwach. „Die Tür hatte ich extra abgeschlossen, keines dieser Dinger konnte sie erwischen! Außerdem war es für uns beide schon schwer solange zu überleben, wie hätte es mit einer Person mehr ausgesehen? Wir wären nicht mal lebend aus Washington rausgekommen!“ Sie betastet vorsichtig ihre Lippe.
„Ich – ich glaube es nicht. Ich wusste es nicht, Eve.“ Er sieht mich an, die Wahrheit spricht aus seinen Augen. „Ich hätte dich da nie gelassen, wenn ich gedacht hätte, dass du es nicht wolltest. Das musst du mir wirklich glauben!“
„Genau das ist das Problem“, sagt Liam leise hinter mir. Er presst mich fest an seine Brust, doch ich spüre, dass er es nicht tut, weil er Angst vor einen erneuten Wutausbruch meinerseits hat. Er braucht mich, meinen Halt. „Deine Clarissa hat anscheinend Angst, dass du Eve lieber mögen könntest als sie.“
Adam sieht wieder zu ihr. „Hast du das wirklich meinetwegen getan?“
Kurz erwidert sie seinen Blick. Dann treten Tränen in ihre Augen. „Du hast sie Engel genannt und immer wieder gesagt, dass sie mit uns kommen soll. Dauernd warst du auf ihrer Seite und du – du hast sie angesehen, wie du nur mich ansehen solltest, verstehst du? Ich konnte nicht zulassen, dass sie mitkommt, und alles kaputt macht! Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.“ Sie beginnt zu weinen.
„Spar dir deine Heulerei“, knurre ich. „Ich lebe noch und das garantiert nicht deinetwegen. Du wolltest mich umbringen und hast mich einfach da zurückgelassen, ohne ein schlechtes Gewissen oder sonst was zu haben. Also heul jetzt nicht rum.“
„Du hast mich angelogen.“ Adam erhebt sich langsam, sieht sie fassungslos an.
Liam schnaubt hinter mir. „Ja, das ist wirklich das Schlimmste an der ganzen Geschichte.“
„Adam, Baby, verstehe doch, ich habe es für uns getan!“ Sie nimmt seine Hand, sieht ihn eindringlich an. „Bitte, du musst es verstehen! Ich habe uns einen Gefallen getan, du weißt, wie schwer es für uns war. Wir hätten es niemals geschafft, niemals überlebt zu dritt! Und es geht ihr doch gut, es ist doch alles in Ordnung mit ihr! Ich wollte sie nie töten, ich wollte sie nur nicht bei uns haben und bin – bin einfach durchgedreht. Bitte, Adam“, fleht sie.
„Du – du hast es für uns getan? Wirklich?“
„Ich lüge dich nicht an, Adam. Du weißt doch, wie wichtig du mir bist“, schluchzt sie.
Kurz sieht er sie an. Dann kniet er sich neben sie auf den Boden, zieht sie in seine Arme. „Gott, Baby, du bist mir doch auch wichtig. Und ich verstehe, weswegen du es getan hast. Aber es war nicht richtig, okay? Ich liebe dich, Clairy.“
„Ich dich doch auch.“
Meine Nase zieht sich leicht kraus, ich verschränke die Arme vor der Brust. „Lass uns gehen, Liam“, sage ich und werfe einen angewiderten Blick zu ihnen. „Die beiden haben einiges zu klären. Und ich habe keine Lust, dabei zu stören.“ Sanft löse ich mich aus seinen Armen, nehme seine Hand in meine.
„Wartet!“ Adam steht wieder auf und kommt ein Stück hinter uns her. „Ihr könnt uns hier doch nicht alleine lassen! Unser Auto ist ein einziger Schrotthaufen, die letzten Tage haben wir in einem Zelt geschlafen, von irgendwelchen Resten gelebt!“
„Klingt doch toll“, sage ich unbeeindruckt, will mich zum Gehen wenden.
Doch Liam hält mich fest. „Eve …“, setzt er leise an. „Wir haben extra angehalten und nun willst du einfach gehen und sie ihrem Schicksal überlassen?“
„Du meinst, so wie sie mich meinem überlassen haben?“ Unsere Blicke treffen sich, ich sehe ihn ernst an. Ich weiß, tief in meinem Inneren, dass Liam recht hat, dass es auch ihm nicht leicht fällt, zu dieser Entscheidung zu stehen. Sie hier zu lassen, wäre ihr Todesurteil, wir alle wissen es. Doch ich kann noch immer nicht vergessen, dass sie mich zurückgelassen haben, dass Clarissa mich töten wollte. Und dass Adam ihr, obwohl er nun die Wahrheit kennt, verzeiht, nach wie vor zu ihr hält.
Ich frage mich, was es zu bedeuten hat, dass mir das noch immer etwas ausmacht. Liebe ich Adam noch immer? Trotz allem, was geschehen ist? Weswegen sonst hätte ich Liam dazu zwingen sollen, anzuhalten und mit mir das Wrack zu untersuchen? Wieso sonst sollte es mich so treffen, dass er zu Clarissa und nicht zu mir hält? Und falls ich noch immer Gefühle für ihn habe, wieso sollte ich ihn dann mitnehmen? In meiner Nähe haben wollen? Um mir selbst unnötig wehzutun?
„Aber du bist kein Monster“, sagt Liam sanft. „Denke an den Jungen auf dem Interstate. Das Mädchen in der Badewanne. Du – wir sind nie davongelaufen, wir haben immer unser Möglichstes getan, Kleines.“ Seine Hand drückt meine fest, ich sehe in seine grauen Augen und vergesse Adam und Clarissa für einen Moment. Es gibt nur ihn und mich und niemanden sonst.
Da verstehe ich, dass ich mir keine Sorgen wegen Adam machen muss und den Gefühlen, die da einmal gewesen sind. Denn nun sind sie alle fort, gemeinsam mit meinem alten Leben. Ich seufze leise, lächle dann schwach. „Du hast immer recht, was?“
Liam erwidert mein Lächeln. „Meistens, ja.“ Dann sieht er zu den anderen beiden. „Ihr könnt mit uns kommen, wenn ihr wollt. Wir haben einen Transporter und parken an der Straße. Dort ist auch der Rest unserer Gruppe.“
„Ihr seid noch mehr?“ Adams Augen weiten sich leicht.
„Ja.“ Ich sehe ihn an. „Wir haben vor ein paar Tagen ein junges Mädchen, Lexi, und eine ältere Dame, Marsha, aufgegriffen. Und ihren Hund Bender natürlich.“ Adam und Clarissa sehen überrascht aus. „Sie kommen mit uns nach Arkansas.“
„Arkansas?“ Clarissa sieht mich nur kurz an, senkt ihren Blick dann wieder.
„Meine Familie lebt dort“, erklärt Liam. „Wir wollen zu ihr.“
„Nach Arkansas?“ Clarissa zieht ihre Nase leicht kraus. „Wirklich?“
Meine Arme verschränken sich wieder vor meiner Brust. „Ihr könnt auch gerne hier bleiben.“
„Nein, nein!“, fährt Adam eilig dazwischen. „Wir kommen gerne erstmal mit, wirklich.“ Er wirft Clarissa einen warnenden Blick zu. „Ob wir ganz bis nach Arkansas mitkommen, kann ich noch nicht sagen, aber wir begleiten euch gerne ein Stück.“
„Na super, dann lasst uns mal gehen.“ Liam wirft Clarissa einen eisigen Blick zu, dann zieht er mich sanft hinter sich her, den Weg zurück, den wir gekommen sind. Ich höre Clarissa leise ächzen, als Adam ihr aufhilft, und sie uns dann leise folgen.
Nach wenigen Minuten kommen die Straße und unser Transporter in Sicht. Ich sehe Lexi mit dem Revolver in der Hand, Marsha ist mit Bender an der Leine am gegenüberliegenden Waldrand. Als Lexi unsere Schritte hört, richtet sie den Revolver auf die Bäume, hat ihn mit beiden Händen sicher und fest umfasst. „Wir sind es, Lexi“, rufe ich durch die Bäume.
„Gott sei Dank“, ruft sie zurück, als wir zwischen den Bäumen hervorkommen. „Ihr wart ganz schön lange weg, ich dachte schon, dass ich euch hinterher muss.“ Sie lässt den Revolver mit einem erleichterten Lächeln sinken. „Ich hätt’s gemacht, wirklich. Um nach euch zu suchen. Aber ich hatte schon etwas Bammel davor.“
Lächelnd gehe ich auf sie zu. „Du hättest es geschafft, das weiß ich.“ Mein Blick gleitet suchend über die Straße und Bäume. „War alles ruhig hier?“
„Ja, wir scheinen hier ganz sicher zu sein. Wer sind die?“, fragt sie dann, den Blick auf etwas hinter mir gerichtet. Ich sehe, dass sich ihre Hand wieder fester um den Revolver schließt, und ich muss kurz grinsen.
„Das sind Adam und Clarissa“, antworte ich, ohne mich umzudrehen.
„Etwa die …?“, setzt Lexi an, ihre Augen weiten sich etwas.
Nun drehe ich mich doch zu Adam und Clarissa um, seufze leise. „Jip, das sind die beiden, die mich in Washington zurückgelassen haben. Sie werden uns ein kleines Stück begleiten.“ Ich deute auf das Wrack. „Ihr eigener Wagen ist nicht mehr wirklich fahrtüchtig.“
„Sie kommen mit uns?“ Lexi sieht mich an. „Findest du das okay?“, fragt sie dann Liam.
Er sieht mich kurz an. „Um ehrlich zu sein, war es meine Idee. Blondie wollte sie nämlich zurücklassen.“ Lexis Brauen ziehen sich verwundert zusammen. Zu Beginn habe ich unbedingt nach ihnen sehen wollen, Liam war dagegen. Dass ich nun gegen ihr Mitkommen bin, Liam hingegen dafür, muss für sie sehr verwirrend sein.
„Ist doch toll, je mehr wir sind, desto lustiger wird es.“ Marsha kommt zu uns herüber, ihre Augen mustern Adam und Clarissa eingehend. „Ich bin Marsha und das ist mein Hund Bender. Und diese hübsche junge Dame ist Lexi“, fügt sie mit einem Blick zu ihr hinzu.
„Freut mich“, sagt Adam, besieht dann unseren Transporter. „Damit seid ihr unterwegs?“
„Ja.“ Liam tritt zu Lexi, Marsha und mir. Wir stehen den anderen beiden als eine Front gegenüber. „Bis jetzt hat er uns gute Dienste geleistet.“
„Ein tolles Gefährt“, stimmt Marsha glucksend zu. „Wir haben genügend Platz und können uns sicher fortbewegen. Apropos“, sagt sie dann, schaut zu Liam und mir, „wir sollten langsam weiterfahren, es wird bald dunkel. Da möchte ich nicht unbedingt hier draußen sein.“
„Nein, ich auch nicht.“ Liam sieht zu Adam und Clarissa. „Blondie und ich haben uns bisher immer mit dem Fahren abgewechselt, weil Lexi noch keinen Führerschein hat und Marsha … äh, Marsha ist -“
„- zu alt“, beendet sie seinen Satz. „Sag ruhig, wie es ist, Jungchen.“
Liam muss grinsen. „Na schön, sie ist zu alt. Auf jeden Fall haben wir so bisher einige Meilen zurückgelegt, aber es ist auf Dauer sehr anstrengend.“ Er wirft mir einen Blick zu und ich weiß, dass er sich Sorgen um mich macht. Die letzten Tage bin ich immer nachts gefahren, habe tagsüber dennoch kaum geschlafen. Das Gerede der anderen, die Stopps, die wir nur im Hellen einlegen, und die Angst, in entscheidenden Momenten nicht wach zu sein, lassen mich nur sehr selten Schlaf finden. „Es wäre daher schön, wenn ihr uns die ein oder andere Fahrt abnehmen könntet. Ihr beide könnt doch Autofahren, oder?“
„Ja, klar.“ Adam sieht kurz zu dem zerstörten Jeep. „Wenn nicht gerade eine Herde Untoter auf den Straßen unterwegs ist.“
„Eine Herde sagst du?“ Sofort legt sich meine Hand auf die Glock.
„Ja, es waren mindestens fünfzehn. Sie kamen einfach aus dem Wald, wir hatten keine Chance ihnen auszuweichen und haben dann einen erwischt.“ Er deutet auf den toten Parasiten unter den Rädern. „Der Großteil ist einfach weiter, doch ein paar haben sich um unser Auto gescharrt. Ich musste sie nach und nach erschießen, wir haben ihre Kadaver dann um unser Zelt gelegt, um weitere fernzuhalten. Ich habe unsere gesamte Munition verschossen.“
Mein Blick schweift über die Bäume. „Also sind hier immer noch einige Parasiten unterwegs.“
Auch Liams Hand legt sich um seine Waffe. „Lasst uns am besten erstmal weiterfahren, wir können unterwegs alle Fragen klären und Geschichten austauschen.“ Er sieht Clarissa und Adam an. „Ihr geht erstmal nach hinten zu Lexi, Marsha und Bender.“
„Ich will nicht hinten auf irgendeiner schmutzigen Ladefläche hocken. Ich sitze vorne.“ Clarissa stemmt ihre Hände in die Hüften.
„Entweder du setzt dich mit nach hinten, wo es sauber und auch sehr bequem ist, oder du musst laufen.“ Ich lächle zuckersüß.
Sie funkelt mich an. „Als ob du mir sagen könntest, was ich -“
„Wir gehen nach hinten“, unterbricht Adam Clarissa eilig, legt seinen Arm um ihre Schultern. „Komm schon, Baby, reiß dich mal etwas zusammen.“ Langsam schiebt er sie auf die Hintertüren des Transporters zu, sie hat geradezu bockig die Arme vor der Brust verschränkt.
„Das wird bestimmt eine lustige Fahrt“, sagt Marsha erheitert und folgt den beiden mit Bender.
Lexi sieht uns an. Kurz erwidere ich ihren Blick, dann seufze ich leise. „Ich wollte sie wirklich zurücklassen“, sage ich dann. „Aber ich habe dafür gesorgt, dass wir anhalten. Also nehme ich die Schuld auf mich. Sorry, Sweety.“ Ich berühre sanft ihre Schulter. „Wenn sie zu viel Ärger macht, werfen wir sie raus, okay?“
Ein Grinsen stiehlt sich auf Lexis Gesicht. „Ich verstehe ja, weswegen ihr sie mitnehmt. So, wie unsere Welt jetzt ist, überlebt niemand hier draußen. Wir hätten es ja auch nicht mehr lange gemacht, ohne euch. Die Idee mit dem Rauswerfen gefällt mir aber trotzdem.“ Ich erwidere ihr Grinsen, dann gehen auch wir zum Transporter. Lexi steigt zu den anderen hinten ein, Liam und ich lassen uns vorne nieder.
„Es ist wirklich bequem hier“, sagt Adam, als Liam den Motor startet.
„Es stinkt“, wirft Clarissa ein.
Ich hole bereits tief Luft, um ihr zu antworten. Doch Lexi kommt mir zuvor. „Das hier ist jetzt unser zu Hause, mehr oder weniger. Wenn es dir nicht passt, dann kannst du dir ja deinen eigenen Wagen und deine eigene Gruppe suchen. Mal sehen, wie lange du es da draußen machst. Denn ich bezweifle, dass du mit dieser Art Leute findest, die dich mitnehmen wollen.“
Kurz ist es still im Transporter. „Ich – tut mir leid“, sagt Clarissa dann leicht perplex.
Verwundert blicke ich über die Schulter nach hinten. Sie blickt auf ihre Hände, Lexi sieht sie mit verschränkten Armen an. Adam hat noch immer seinen Arm um Clarissas Schultern gelegt, er wirkt angespannt. Nur Marsha feixt vor sich hin, Bender in ihrem Schoß. „Kinder, lasst euch von einer alten Dame etwas sagen: Wenn wir alle lebend aus diesem Schlamassel rauskommen wollen, dann müssen wir zusammenhalten. Egal, was da einmal gewesen und passiert ist. Egal, ob es mal schmutzig wird. Wir haben nur einander und dafür sollten wir dankbar sein.“
„Amen“, sagt Liam leise. Er nimmt eine Hand vom Steuer und umfasst dann meine. Ich sehe ihn an, auch er schaut kurz von der Straße auf und zu mir. Als sich unsere Blicke treffen, müssen wir beide lächeln.
Denn wir haben beide begriffen, auf was es in diesen Zeiten wirklich ankommt.