Читать книгу Biola und das geheimnis der alten Mühle - Thees Carstens - Страница 13
Kapitel 8 Biolas Traum
ОглавлениеChed und Biola waren die Letzten, die durch die Gitterpforte des Vogelkäfigs gingen. Sie hatten noch gewartet, bis Gorgonzolo außer Sichtweite war. Erst dann waren sie zum Mäuseschloss zurückgekehrt.
Als sie das Weiße Schloss betraten, brummte Mascarpone eine mürrische Bemerkung in seine Barthaare, die klang wie: „Ihr wolltet wohl die Nacht in der Mühle verbringen und euch von den Ratten fressen lassen, was?“ Dann verschloss er das Tor und sah noch einmal durch die Metallstäbe hinunter in die finstere Mühle, als würde er jeden Augenblick erwarten, gelb glühende, gierige Augen von hungrigen Ratten im Dunkeln leuchten zu sehen.
Die Eingangshalle war angefüllt mit Getreide, das am nächsten Tag in die versteckten Winterspeicher gebracht werden sollte. Heute Abend war es dafür schon zu spät, und alle Mäuse waren müde vom Sammeln. Sie verkrochen sich nach und nach in ihre Familiennester. Auch Biolas Familie kuschelte sich im oberen Stock des Palastes unter der Drahtkuppel zusammen. Biola war in gespannter Vorfreude auf ihren heimlichen Ausflug mit Ched. Sie legte sich nach ganz außen neben ihre kleine Schwester, sodass nur Pecorini es merken konnte, wenn Biola nachts aufstand und ihre Körperwärme dann nicht mehr da war. Und Pecorini hatte versprochen, Biola nicht zu verpetzen. Konnte man sich auf sie verlassen? Biola hoffte, dass sie ihr Versprechen halten würde.
Das Rumoren der Ratten begann, als der Mond am Horizont erschien. Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass sie dort unten waren. Biola hatte sie noch nie gesehen, aber man hörte die scharrenden Geräusche ihrer Krallen und manchmal quiekten sie. Man hörte auch ihr Knabbern und wie sie miteinander flüsterten. Biola wartete auf den Mond, der bald durch das Mühlenfenster scheinen würde. Sie hatte sich vorgenommen, wach zu bleiben bis Ched kam, aber es gelang ihr nicht. Irgendwann döste sie weg. Und dann geschah etwas Seltsames.
Biola träumte. Es war ein Traum von unglaublicher Klarheit. Als wenn sie das, was sie sah, wirklich erleben würde. Die Welt im Traum schien sogar noch wirklicher zu sein als die Welt, die sie im wachen Zustand erlebte, so klar war ihr Traum, so deutlich und greifbar, dass Biola fast dachte, das Geträumte sei das tatsächliche Leben und ihr Leben nur ein Traum.
In ihrem Traum stand Biola auf dem Steinboden der Mühle. Aber es war nicht dunkel. Die Sonne schien durch ein Fenster, und ihr Licht floss golden über die Getreidesäcke und die vielen Weizen-, Roggen-, und Gerstenkörner, die auf dem Boden lagen. Plötzlich hörte Biola eine Stimme.
„Das gehört alles euch!“
Biola sah sich um. Wer hatte gesprochen?
„Ich bin hier oben“, sagte die Stimme.
Biola sah hoch. Auf dem Kasten des Mühlsteins saß die unscheinbarste Maus, die man sich vorstellen kann. Sie schien alt zu sein, war aber nicht größer als Pecorini. Ihr Fell schimmerte grau. Das farbloseste Grau, das Biola je gesehen hatte. Wer war diese Maus? Biola konnte sich nicht daran erinnern, sie schon einmal getroffen zu haben.
„Das gehört alles uns?“, fragte sie. „Meinst du meiner Familie?“
„Ja, genau. Alles hier gehört auch deiner Familie“, antwortete die Maus.
„Und den anderen Familien aus dem Mäuseschloss?“
„Ja, denen gehört es unter anderem auch!“
Plötzlich kam Biola ein Verdacht.
„Du hast gesagt, es gehört UNTER ANDEREM uns Mäusen aus dem Mäuseschloss. Meinst du damit … es gehört auch denen, die unten in der Mühle wohnen?“
„Ja, alles hier gehört euch allen!“, wiederholte die Maus und gähnte. „So schwer ist das doch eigentlich nicht zu verstehen, oder?“ Jetzt kletterte die unscheinbare Maus vom Mühlstein herab.
In diesem Moment bemerkte Biola, dass ihre Familie hinter ihr stand. Ihre Eltern und Pecorini, ihr Großvater, ihr Onkel und auch ihre Tante. Sie schienen alles mitbekommen zu haben.
„Das Rattengeschmeiß hat nichts hiervon verdient“, grollte Großvater Mascarpone und trat auf die graue Maus zu. „Oder weißt du nicht, was sie unserem Urahn Alter Gouda angetan haben?“
„Doch, weiß ich“, murmelte die alte Maus. „Sie haben ihm Barthaare abgeschnitten. Ich weiß alles!“
Was für ein merkwürdiger Kerl, dachte Biola. Wer war er?
„Sie werden uns alles wegnehmen! Die von unten!“, rief Tante Halbfettstufe aufgeregt. „Ist dir das egal?“
„Nein. Ist mir nicht egal!“, murmelte die Maus. „Wegnehmen ist nicht schön!“ Sie sah Biolas Tante mitleidig an.
„Genau“, sagte Onkel Gorgonzolo streng, „dann mach, dass sie verschwinden! Wenn das alles hier uns gehören soll, dann sorg auch dafür, dass wir es bekommen! Niemand darf es uns wegnehmen!“
„Ich bin eine Maus“, sagte die graue Maus, „und kein Zauberer!“ Dann klang ihre leise Stimme plötzlich sehr ernst: „Fangt an zu teilen!“
„Wir werden nicht teilen. Nicht mit unseren Feinden!“, rief Onkel Gorgonzolo.
„Dann macht die anderen in der Mühle eben zu euren Freunden“, antwortete die graue Maus. „Dann fällt euch das Teilen nicht so schwer. Mit Freunden teilen ist immer einfacher!“
In diesem Moment spürte Biola, dass sie jemand packte und schüttelte. Und von irgendwoher hörte sie eine Stimme, die ihren Namen rief: „Biola! Biola!“
War das nicht Cheds Stimme? Ched?
„Ched? Wo bist du?“, stöhnte Biola und wälzte sich in ihrem Schlafnest.
„Psst! Leise, Biola! Wach auf!“, flüsterte Cheds Stimme. In diesem Moment erwachte Biola und bemerkte, noch ganz schlaftrunken, dass sich Ched über sie beugte. Helles Mondlicht lag auf seinem Fell, und er sagte leise: „Du liebe Maus, bist du verschlafen! Hast du geträumt?“