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Die Jungen

Mittwoch, 07. Oktober 2015

Am nächsten Morgen wehte ein stürmischer Wind. Frerichs zog die Schirmmütze tiefer in die Stirn, stemmte sich kräftig gegen die Tür. Der Wind hielt seinen Druck stand. Frerichs musste sich mächtig anstrengen, um zu gewinnen. Als es geschafft war, trat er hinaus auf den Hof.

Anna winkte ihm zum Abschied. Ihre Augen wirkten verquollen. Er bemühte sich, über die feuchten Rinnsale in ihrem Gesicht hinweg zu sehen.

Er hob die Hand, startete seine Maschine und rollte vom Hof. Wieder hingen dunkle Regenwolken am Himmel.

Doch auch Sonnenschein hätte heute seine trübe Stimmung nicht vertreiben können. Eine schwierige Aufgabe lag vor ihm.

»Halte nach einem abgeknickten Schild Ausschau.« Annas Worte begleiteten ihn, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Frerichs fuhr zur Poststation von Ölbenfehn. Er schloss die Tür zur Amtsstube auf. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Rasch schaltete er alle Lichter an. Mit einem gutvernehmlichen Klicken sprangen die Neonröhren an und verbreiteten ein unangenehmes aber helles Licht. Frerichs kniff die Augen zusammen und ging in die winzige Teeküche, wo er die Kaffeemaschine in Gang setzte. Während sie gluckerte, fuhr Frerichs den alten Computer hoch.

Jeden Tag überprüfte er zuerst die Emails, sah sich die Anrufliste an; doch sie war leer. Das war nicht ungewöhnlich. Dafür hatte das Faxgerät ein Blatt Papier ausgespuckt. Es stammte von der Polizei aus Wittmund. Die Suchmeldung nach Loger Doormann und Tjark Coordes, den beiden Verschwundenen. Waren sie also doch nicht nach Hause gekommen!

Himmel! Lass sie noch am Leben sein, dachte Frerichs und schickte ein Stoßgebet zum Allmächtigen hinauf. Frerichs erledigte noch ein paar Telefonate und schaffte lästigen Papierkram fort. Bürokratischer Müll, weg damit!

Gegen zehn packte er seine Posttasche und fuhr los.

Nach Ochterfehn, um die längst überfällige Abgassonderuntersuchung durchführen zu lassen. Der hiesigen Werkstatt vertraute er seine Maschine ungern an. Die Mechaniker kifften ihm einfach zu viel!

Frerichs lenkte seine BMW auf die Bundesstraße 29 in Richtung Ochterfehn. Hin und wieder blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Der Wetterbericht hatte ein paar Stunden Sonne in Aussicht gestellt. Wie so oft wunderte sich Frerichs, wie schnell seine Stimmung sich änderte, wenn die Sonne sich zeigte. In Abhängigkeit von Wärme und Helligkeit reagierte auch seine Psyche. Ihm wurde leichter ums Herz. Hoffnung keimte in ihm auf. Noch war alles möglich!

Neben der Landstraße schlängelte sich der Fehnkanal in seinem Bett. Ein breiter Streifen glitzernden Wassers war gleichauf mit ihm. Frerichs verspürte Lust, mal wieder angeln zu gehen. Die Ruhe würde ihm sicherlich guttun, dachte er versonnen. Vielleicht würde es sich am Samstagnachmittag einrichten lassen?

Die Reflexionen auf dem Wasser hatten etwas Beruhigendes. Ein paar Stunden stillen Angelns und er käme als frischerholter Mensch zurück. Früher war es oft so gewesen. Danach sehnte sich Frerichs plötzlich zurück. Mit einem Mal konnte er das Wochenende kaum mehr erwarten.

Bewegungen auf der Straße vor ihm erregten seine Aufmerksamkeit. An einer Stelle tummelten sich schwarze Silhouetten. Beim Näherkommen erkannte er Krähen. Sie zerrten mit ihren Schnäbeln an etwas, das auf dem Asphalt klebte.

Als er sich ihnen knatternd näherte, erhoben sie sich widerwillig. Manche hüpften ein paar Meter zur Seite. Andere flatterten aufgeregt in die Bäume hinauf.

Das was da lag, mochte einmal eine Katze gewesen sein, jedenfalls der Größe nach. Die Fellzeichnung war schwarz-weiß. Schrödingers Katze fiel ihm dazu ein. War die nicht verschwunden?

Frerichs hielt neben dem Kadaver. Über sich hörte er den vielstimmigen, krächzenden Chor. Er blickte zu den Vögeln hinauf.

»Ihr könnt gleich weiter frühstücken«, rief er zu den Tieren hinauf. Er mochte die schwarzen Gesellen wegen ihrer Klugheit und Neugierde. Viele von ihnen besaßen mehr Grips als so mancher Mensch. Er warf noch einen schnellen Blick nach allen Seiten, dann fuhr er gemächlich weiter.

Er war noch keine hundert Meter weitergefahren, als er es sah: neben der Straße. Der abgeknickte Pfahl. Das Warnschild vor dem Wildwechsel ragte in den grauen Himmel. Neben der Straße auf einer Höhe von etwa einem halben Meter war der Pfahl geknickt. Das dreieckige Straßenschild, das auf einen Wildwechsel hinwies, zeigte in den grauen Himmel.

Sein Puls beschleunigte sich sofort. Hatte Anna also wieder einmal recht gehabt! Frerichs löste den Sicherheitsgurt, bockte den Roller auf, blickte sich nach den Bäumen um.

Rechts von ihm stand in relativ großer Entfernung eine Schonung schlanker, noch junger Buchen. Die konnte Anna doch unmöglich gemeint haben. Das waren doch bestimmt an die zwanzig Meter!

Frerichs hockte sich vor das beschädigte Verkehrsschild hin. Über den geknickten Pfahl hinweg visierte er das Wäldchen an. Kimme und Korn, genauso wie er es auf der Kirmes machte.

Die Buchen waren größtenteils noch grün mit wenigen herbstlich bunten Sprenkeln. Er ächzte, als er sich erheben wollte.

Frerichs blickte die Straße hinunter. Doch auf diese Entfernung waren Bremsspuren nicht zu entdecken. Er musste den Weg zurückgehen. Er ließ seine Maschine stehen und ging bis zu dem Kadaver zurück. Die ganze Zeit hielt er den Blick auf die Straße gesenkt. »Keine Bremsspuren?«, wunderte er sich. »Jungs, ihr kennt euch doch hier aus!« Er führte oft Selbstgespräche. Das half ihm, seine Gedanken zu ordnen. So fielen ihm oft erst dann Ungereimtheiten oder Logiklöcher auf. Onno führte sich die Situation bildlich vor Augen und plötzlich befand er sich mitten im Geschehen: Nachtschwärze hüllte alles ein. Ein Lichtkegel tauchte vor ihm auf. Der Ford Capri näherte sich ihm. Er trat instinktiv einen Schritt weiter auf die Straße. Frerichs blinzelte im blendenden Licht der Scheinwerfer, als der Capri auf ihn zugerast kam. Er machte sich bereit. Für einen Sekundenbruchteil sah er durch die Windschutzscheibe in die Gesichter der jungen Männer. Der Wagen hielt weiter auf ihn zu. Frerichs fühlte keine Angst, fand das alles doch nur in seiner Einbildung statt. Wie eine Zeitreise, die er in Gedanken machte. Er wollte verstehen, wie es zu dem Unfall gekommen war.

Als der Capri durch Frerichs hindurch fuhr, sprang er behände in den Fond. In seiner Vorstellung saß er einen Moment später auf der Rückbank des Wagens und blickte nach vorne. Tjark saß am Steuer. Er trug ein grünes Hemd und hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert.

Die Muskeln in seinen Armen traten hervor und zeichneten sich deutlich unter dem Hemd ab. Der Mann verfügte über Bärenkräfte. Das wusste Frerichs. Und diese Kräfte waren auch nötig, um den Wagen in der Spur zu halten. Sein Blick streifte das Tachometer. Der Wagen war mit mehr als 170 km/h unterwegs.

Loger auf dem Beifahrersitz, trug eine schwarze Lederjacke.

Er hob eine Flasche an die Lippen, trank gierig. Nach einem lauten Rülpser reichte er die Flasche an seinem Kumpel Tjark weiter. Die Flasche hing nur Zentimeter vor Frerichs Gesicht. Und doch bereitete es ihm keine Mühe die Schrift auf dem Etikett zu entziffern.

»Jungs!«, rief Frerichs angewidert. »Bourbon? Das Zeug ist doch widerlich!« Tjark löste eine Hand vom Lenkrad, grapschte nach der Flasche. Er wandte den Kopf seinem Freund Loger zu. Die Freunde sahen sich einen Augenblick lang an und riefen: »Das ist Sprit für unsere Nerven!«

Tjark setzte die Flasche an die Lippen und ließ den Schnaps die Kehle hinablaufen. Nur eine Sekunde nahm er den Blick von der Fahrbahn. Doch das genügte. Im nächsten Moment krachte irgendetwas gegen den Wagen.

Es knallte ordentlich. Tjark und Loger spürten es in den Schultern. Frerichs wurde nach vorne geschleudert. Das Ding, mit dem sie kollidiert waren, flog zur Seite weg. Der Wagen geriet ins Schleudern.

Tjark lenkte gegen und fing den Ford geschickt ab. Der Wagen blieb in der Spur. Dennoch bewegte er sich nur Zentimeter neben der Böschung entlang.

Mit jeder Sekunde nahm das Schild an Größe zu. Schließlich füllte es die ganze Windschutzscheibe aus.

Frerichs bereitete sich innerlich auf den Zusammenstoß vor. Einen Moment später krachte der Wagen gegen den Pfahl, der daraufhin knickte. Die Reifen des Capri verloren den Kontakt mit der Straße. Mit wütendem Gebrüll antwortete der Motor. Dann hob der Wagen ab.

Take-Off!, schoss es Frerichs durch den Kopf.

Der Flug dauerte eine gefühlte halbe Ewigkeit. Als sich Frerichs schon zu fragen begann, ob sie die Erdanziehung des Planeten verlassen hatten, krachte etwas Massives gegen das Fahrzeug. Augenblicklich verformte sich die Fahrgastzelle, schrumpfte bedrohlich. Frerichs duckte sich und zog die Beine an den Körper. Doch das war unnötig, denn er saß nicht mehr im Wagen. Er hockte vor einer riesigen Buche, deren Stamm ihm die Sicht versperrte. Eine unglaubliche Traurigkeit legte sich plötzlich über sein Bewusstsein. Er fühlte sich unendlich müde. Plötzlich wusste er, dass er nicht in das Wäldchen gehen wollte. Er fürchtete sich richtiggehend vor dem Anblick, der sich ihm bieten würde. Doch er musste sich Gewissheit verschaffen.

Aber, das hier war kein Wunschkonzert. Schließlich war er hier Sheriff! »Halt durch, Kumpel!«, sprach er sich selbst Mut zu. »Du brauchst sie nur zu finden, dann rufst du den Doc an!«

Frerichs verließ die Landstraße. Langsam, auf jeden Schritt achtend, schritt er die Anhöhe hinab. Den Acker zu überqueren fiel ihm schwer. Grobe, aufgebrochene Schollen warteten auf ihn. Zweimal stolperte er, einmal fiel er sogar hin. Mühsam rappelte er sich wieder auf die Füße, rieb den Dreck von den verbundenen Händen und hielt weiter auf das Wäldchen zu. Frerichs schob alle Gedanken beiseite, konzentrierte sich nur auf die bevorstehende Aufgabe. Er würde es sein, der diesen Wagen fand. Würde das den Spöttern im Dorf das Maul stopfen? Oder würde es die Diskussion weiter anheizen? Frerichs war ein Mann, der sich einmischte, der hinguckte, wo andere wegsahen. Seine Zivilcourage war manchen im Dorf ein Dorn im Auge!

»Bist du ein Mann? Oder eine Maus?« Die Antwort war einfach. Frerichs würde weiter seinen Weg gehen. Auch wenn er die ganze Welt gegen sich aufbringen würde. Frerichs gegen den Rest der Welt!

Er betrat das Wäldchen. Die Richtung wiesen ihm die abgeknickten Äste und die Spur der Verwüstung.

Welche unvorstellbare Kraft hatte den Wagen durch die Botanik geschoben!

Dann fand er das Wrack!

Von der einstmals schönen Farbe des Wagens war nicht mehr allzu viel übrig. Die Karosserie wies an unzähligen Stellen Dellen, Kratzer und Schrammen auf. Fast hätte man meinen können, das Auto wäre durch einen Sandsturm gefahren.

Beim Anblick des Fahrzeugs musste Frerichs einen Kloß hinunterschlucken. Oh, Gott, nein! Er schloss für einen Augenblick die Augenlider, sog die Luft tief in die Lungen. Er zögerte eine volle Minute. Dann erst öffnete er sie wieder.

»Attacke!«, murmelte er und blickte in das Innere des Oldtimers. Das hätte er besser gelassen. Der Anblick war grauenhaft. Frerichs taumelte rückwärts, wie von einem Boxhieb in den Magen getroffen. Er fiel in die Laubstreu, robbte ein Stück vom Wrack weg. Am Ende seiner Kräfte blieb er vor einem grauen Baumstamm liegen. Seine Eingeweide krampften sich zusammen und Frerichs hielt nichts zurück. Er übergab sich. Er blieb liegen, auch nachdem nichts mehr kam.

Mit geschlossenen Augen döste er vor sich hin. Dann, als er glaubte, einigermaßen wieder bei Kräften zu sein, drehte er sich langsam auf den Rücken. Er lehnte sich an einen kühlen Buchenstamm. Bedächtig sog er Luft ein, konzentrierte sich einfach nur auf seinen Atem. Mehr war erst einmal nicht nötig.

Seine Augenlider flatterten. Als wögen sie Tonnen, versuchte er, sie anzuheben. Vergeblich. Momente später versuchte Frerichs es erneut. Dieses Mal glückte es. Für eine Sekunde blieben sie offen. Als eine Orange in seinem Blickfeld zu tanzen begann, drehte sich ihm augenblicklich der Magen wieder um. Würgend drehte er sich auf die Seite. Sein Magen krampfte. Doch längst enthielt sein Verdauungsapparat nichts mehr, was er von sich geben konnte.

Frerichs war noch klar genug im Kopf, um, die Abwehrreaktion seines Körpers auf die Eindrücke im Wrack zu erkennen. Alles in ihm sträubte sich, einen zweiten Blick hineinzuwerfen. Das brauchte er auch nicht. Die Bilder hatten sich längst in seine Gehirnwindungen gebrannt. Eine Unterscheidung der beiden Körper war unmöglich. Die Identifikation konnte nur noch durch zahnärztliche Befunde oder DNA erfolgen. Da bestand für Frerichs überhaupt kein Zweifel.

Als er sich stark genug fühlte und das Zittern seines Kiefers aufgehört hatte, fummelte er sein Mobiltelefon aus einer Beintasche. Er suchte nach der Telefonnummer des einzigen ortsansässigen Allgemeinmediziners. Doch seine Finger zitterten so sehr, dass ihm das Telefon entglitt und in der losen Laubstreu verschwand. Frerichs bückte sich. Er fand es jedoch nicht sofort.

Seinem flauen Magen zum Trotz, zischte er einen derben Fluch. Er hockte sich hin und tastete nach dem Telefon. Schließlich stieß er mit dem Knie daran. Er hob das Gerät auf, suchte weiter nach der Nummer und drückte das grüne Hörersymbol. Nichts! Er saß offenbar in einem Funkloch. Vielleicht war es an der Straße besser? Er hielt sich an Zweigen und Ästen fest, um nicht das Gleich­gewicht zu verlieren.

Bedächtig schlurfte er über das Feld. Auf die Minute kam es nun auch nicht mehr an. Dieses Mal kam er nicht ins Straucheln und erreichte unbeschadet die Anhöhe. Doch es dauerte, aber wen interessierte das?

Auf der Straße angekommen, musste Frerichs erst einmal verschnaufen. Er stützte die Hände auf die Knie und beugte sich nach vorne über die Fahrbahn. Augenblicklich stellten sich die Bilder der Leichen wieder ein. Sie bedrängten ihn und ließen wieder seinen Magen antworten. Gallensaft stieg ihm die Speiseröhre hoch.

Frerichs machte sich nicht die Mühe diesen hinunter zu zwingen, sondern spie ihn auf die Straße. Er nestelte ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über den Mund.

Frerichs überlegte, ob er eine Flasche Wasser dabeihatte, und ging zu seiner Maschine zurück. Dabei warf er einen Blick auf sein Mobiltelefon. Einen Balken zeigte das Display an. Es war einen Versuch wert. Er scrollte durch das Menü und fand die Nummer des Doc. Als der Anruf erledigt war, fand er eine halbe Flasche schalen Wassers in der Seitentasche. Nicht einmal der Geschmack der Plörre störte Frerichs. Mit dem Wasser spülte er sich den Mund aus. Dann wartete er.

Der weiße Opel Insignia von Dr. Martin Bleeker stoppte eine Viertelstunde später vor seiner Maschine. Bleeker war ein gut gebauter, etwas korpulenter Endvierziger, mit rundem, freundlich wirkendem Gesicht.

Frerichs kannte Bleeker seit dieser vor fünf oder sechs Jahren von Hamburg hergezogen war. Der Doc war ­damals nah dran gewesen, den Job an den Nagel zu hängen. Er nahm nie das Wort ›Burnout‹ in den Mund. Aber so nannte man das heutzutage. Entschleunigung war das, was Bleeker heute brauchte und in Ölbenfehn fand. Er arbeitete noch immer. Wenn auch bei Weitem viel weniger als früher. Bei einem Bier hatte Bleeker Frerichs einmal anvertraut, dass er erst hier in Ölbenfehn gemerkt hatte, was es hieß, glücklich zu sein. Geld bedeute ihm heute weniger, als noch vor ein paar Jahren.

Bleeker warf die Autotür zu. Er schüttelte sich und schlug demonstrativ den Kragen seiner Regenjacke hoch. Sein freundliches Gesicht zeigte grimmige Entschlossenheit. In seinem Blick erkannte Frerichs Ärger. Ohne Gruß kam der Mediziner sofort zur Sache: »Okay, Frerichs, spuck’s aus. Was hast du?«

Statt einer Antwort rieb sich Frerichs den Bauch. Sein flauer Magen hatte sich noch immer nicht beruhigt.

Bleeker sah Frerichs unbewegt in die Augen. Doc war mit der Gabe gesegnet, sich voll und ganz auf eine Sache konzentrieren zu können.

»Du hast da noch was«, sagte Bleeker und deutete auf Frerichs Mund. »Hast du gekotzt? Und was hast du überhaupt mit deinen Händen gemacht? Motorradunfall?«

Frerichs nickte matt. »Weißt doch, dass ich kein Blut sehen kann!«

»Wo kannst du kein Blut sehen?«, erkundigte sich der Arzt.

Frerichs wies mit dem Daumen hinter sich. Bleeker hob den Kopf, blickte über Frerichs Schulter. »Im Wäldchen?«

Frerichs nickte dumpf. »Ich habe die Jungs gefunden!« Seine Stimme klang merkwürdig hohl.

Bleeker schenkte ihm ein Stirnrunzeln. »Meinst du den Coordes und seinen Kumpel?« Frerichs wusste, was der Doc dachte. Doch Bleeker tat ihm nicht den Gefallen, zu fragen, wie Onno auf die Idee gekommen war, im Wäldchen zu suchen. Gut. Dann mache ich das später, wenn mich jemand fragt. Frerichs nickte knapp.

Bleeker setzte sich eilig in Bewegung. Er holte seine Arzttasche aus dem Auto und kehrte wenig später zurück.

»Sag mal, hast du eine Kamera dabei, Doc?« Frerichs hatte sich nicht getraut, Fotos mit seinem Handy zu machen. Das hätte bedeutet, sich wieder dem Wrack zu nähern und sich mit dem Inhalt zu beschäftigen.

»Habe ich immer dabei«, antwortete Bleeker großspurig. Unvermittelt hielt der Arzt in der Bewegung inne. »Hast du schon die Polizei gerufen?«, erkundigte er sich.

Darüber hatte Frerichs noch nicht nachgedacht. Für eine Obduktion besaß Ölbenfehn weder das Personal noch die Ausrüstung. Er bezweifelte, dass Bleeker sich dazu in der Lage sah. Er war Allgemeinmediziner. Kein Gerichtsmediziner.

»Sieh dir die beiden an. Die Bilder kriege ich nie wieder aus dem Schädel.«

Er blieb in gebührendem Abstand stehen, beobachtete Bleeker einfach. Frerichs bewunderte den Mediziner im Stillen für seinen Mut, sich dem Anblick freiwillig auszusetzen.

Bleeker stellte sich vor die Windschutzscheibe und warf einen Blick hinein. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht. Sein Beruf hatte ihm schon manches Schlimme gezeigt.

Er ging um den Wagen herum, blickte durch alle Fenster. Dann begann er, Fotos zu machen.

Als Frerichs einen Blick auf das Gesicht des Doktors erhaschte, erwiderte Bleeker seinen Blick. Er fluchte mit einem grimmigen Zug um den Mund.

Frerichs kam sich feige dabei vor. Wie ertrug Bleeker diesen Schlachterhorror?

Bleeker nickte: »Polizei, SpuSi, Gerichtsmedizin, keine Frage. Eine Obduktion ist Pflicht.«

Der Doc schürzte die Lippen. »Ich verständige die Kollegen aus Wittmund.« Frerichs blickte ihm nach, wie er zur Straße zurückging, um von dort zu telefonieren. Er selbst blieb im Wäldchen. In ausreichender Entfernung zum zerstörten Capri lehnte er sich gegen einen Baum. Er wollte keine Spuren vernichten. Frerichs wusste, dass das großen Ärger bedeuten würde.

Er hielt den Blick vom Unfallwagen abgewandt. Auch wenn er der Meinung war, dass die Toten nicht allein sein sollten, vermied er ihre direkte Nähe. War dieser Gedanke verrückt? Doch er blieb. Er entschied oft aus dem Bauch heraus. In der Vergangenheit hatte er selten daneben gelegen. Er glaubte, dass seine Schwester Anna genauso handeln würde.

Ein Gedanke alarmierte Frerichs. Er richtete sich auf. Er musste noch vor dem Eintreffen der Polizei, den Unfallort absichern!

Frerichs hastete zur Straße zurück. Aus dem Kofferraum seiner C1, so nannte er den Kasten am Heck seiner Maschine, entnahm er rot-weißes Absperrband. Das führte er immer mit sich, schadete ja nichts. Er eilte zum Wrack zurück, knotete das Band in Bauchhöhe an den umstehenden Baumstämmen fest und sicherte dadurch einen Radius von etwa zwanzig Metern um das Unglücksfahrzeug herum. Frerichs stapfte zur Straße zurück. Dann begann wieder das Warten.

»Sie schicken einen Wagen!«, informierte ihn Bleeker lakonisch mit einem Blick auf seine Seiko Uhr. »Eine halbe Stunde. Dann sind die da.«

Frerichs nickte stumm anstelle einer Antwort. Dieses tatenlose Rumstehen ging ihm auf den Keks.

Auf der Suche nach einer Packung Tabak klopfte er seine Taschen ab. Zu seiner maßlosen Überraschung fand er in seiner Windjacke noch eine alte Schachtel Camel. Es war schon Urzeiten her, dass er filterlose Zigaretten geraucht hatte.

Wie alt mochten die Zichten sein? Vorsichtig befühlte er den Inhalt. Wenn er Glück hatte, war noch eine drin. Er hatte doppeltes Glück. Frerichs schüttelte eine heraus und betrachtete sie von allen Seiten.

»Das ist meine«, befand Bleeker und entwand ihm geschickt die krumme Zigarette. Frerichs sah ihr enttäuscht nach. Doch er besann sich eines Besseren und ließ diesen gemeinen Mundraub ungesühnt. Wenn der gute Bleeker sich für die Kostprobe opfern wollte, würde er ihm nicht im Wege stehen. Schließlich war es nicht auszuschließen, dass Doc schlecht wurde.

Bleeker steckte sie sich in den Mundwinkel. Krumm und schief, einem Tentakel nicht unähnlich, ragte sie aus seinem Gesicht. Der Anblick trieb Frerichs die Lachtränen in die Augen. Doch er zwinkerte sie fort, bemühte sich um Contenance. Aus einer Beintasche seiner Jeans förderte er ein Zippo zutage.

Dieses besondere Benzinfeuerzeug symbolisierte den American Way of Life, jedenfalls für alle Raucher, die sich ein stabiles Feuerzeug wünschten.

Es machte das typische, metallische KLONG, als er den Deckel mit dem Daumen öffnete und ein RITSCH, als das Rädchen in Bewegung gesetzt wurde, das über den Feuerstein fuhr und den Funken erzeugte. Die Flamme zitterte, ein Hauch von Benzin in der Luft hinterlassend.

Bleeker bewegte seinen Kopf auf Frerichs zu. Die Augen zu Schlitzen verengt, die Lippen fest zusammengepresst. Er tauchte die Camel in die Flamme ein. Als sie aufglomm, zog er den Kopf zurück. Der Doktor sog den Rauch tief ein.

Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, dachte Frerichs und ließ den Arzt nicht aus den Augen. Mit einem wohligen Seufzen entließ Bleeker den Rauch aus seinen Nasenlöchern.

»Schmeckt sie noch?«, erkundigte sich Frerichs scheinheilig.

Er rechnete fest mit dem Gegenteil und zählte im Stillen die verbleibende Zeit: »Fünf, vier …« In drei Sekunden wäre es soweit! Die Tränen würden ihm wie die Niagara-Fälle aus den Augen schießen! »Drei, zwei, eins!« Doch mit einem Mal beschlichen Onno Gewissensbisse.

Den guten Doc so zu täuschen war eine überaus verabscheuungswürdige und schändliche Tat! Dafür würde er in der Hölle schmoren! Sein Wunsch nach Schadenfreude gehörte sich für einen Christen nicht! Um jeden Preis musste er diese Tat vor seiner Schwester Anna geheim halten. Was dachte er sich überhaupt?

Überraschend schüttelte Bleeker den Kopf. »Sie schmeckt genau richtig. So muss eine Filterlose sein!«, entgegnete er.

Dexel noch to! Hoffentlich ist mir mein Erstaunen nicht anzusehen, dachte Frerichs. Er konnte sich nicht gegen die Bilderflut wehren. Sein Verstand spulte ein ums andere Mal eine kurze Sequenz ab: Bleeker, wie er sich hustend und keuchend auf dem Asphalt wand.

Und als sei eine nicht genug, fragte der Kerl auch noch nach einer weiteren Zigarette. Doch Frerichs verneinte. »Die gehört mir«, entgegnete er brüsk und schüttelte die letzte Camel aus der zerknitterten Verpackung. Die letzte Zigarette kam genauso erbärmlich daher wie die erste.

»Wie sieht es mit einem Mobilkran aus? Müssen wir den organisieren oder macht das die Polizei aus Wittmund?«

»Hm, ist eine berechtigte Frage«, antwortete Bleeker. »Weiß ich ehrlich gesagt nicht.« Grübelnd rieb er sich das Kinn. »Das haben wir nicht besprochen. Ich frage noch einmal nach.« Damit zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und telefonierte.

Frerichs steckte sich seine Zigarette an. Das strenge Aroma der türkischen Tabakmischung entfaltete sich in Mund und Hals. Wie der Doc gesagt hatte, schmeckte die Camel gut. Außerordentlich sogar, dachte Frerichs. Da hatte der Doktor einmal nicht übertrieben! Wirklich erstaunlich!

Frerichs hatte anfangs keine gute Meinung von Martin Bleeker gehabt. Dem Arzt hing etwas Arrogantes an. Wahrscheinlich ein Vorurteil, weil er aus einer Metropole stammte.

Kameradschaft war eine neue Eigenschaft an Bleeker. So kannte man den Mediziner nicht. Er war ein schwer einzuschätzender Mensch. Er ließ niemanden an sich heran, zeigte nicht den Zipfel eines Gefühls. Auch Frerichs, der ihn regelmäßig sah, war noch nicht richtig mit ihm warm geworden. In all den Jahren hatte Frerichs ihn erst ein Mal im Moorblick gesehen. Er schien weder Bier noch Wein zu mögen. Oder er trank nicht in der Öffentlichkeit? Er war der einsame Wolf, der keinen Anschluss im Rudel suchte.

Plötzlich kamen seine Gedanken ins Stocken. Widerstand regte sich. Frerichs glaubte zu fühlen, wie sich sämtliche Flimmerhärchen in seinen Atemwegen aufrichteten. Im gleichen Augenblick begann das Kratzen in seinem Hals. Es wollte gar nicht mehr aufhören.

Frerichs stemmte sich dagegen. Doch es wollte aus ihm heraus. Ob es ihm passte oder nicht. Er begann zu schlucken, dann zu keuchen. Doch es nützte nichts. Er würde husten, vielleicht sogar kotzen müssen. Also exakt das, was er Doc Bleeker gewünscht hatte.

Der Arzt tat, als sähe er nicht, was in Frerichs gerade vor sich ging. Er sprach mit der Leitstelle in Wittmund, schien ganz auf das Gespräch konzentriert.

Frerichs drehte sich von ihm weg und hustete den vermaledeiten Rauch aus. Er würgte und spie Rotz und Wasser aus. Seine Lungen brannten. Eine Ewigkeit mochte sein Kampf dauern. Dann endlich war es vorbei und er zertrat die Camel wütend auf dem Asphalt.

»Hättest sie mich rauchen lassen sollen. Ich bin an das Gift gewöhnt«, höhnte Doc. Doch zu Frerichs maßloser Überraschung legte dieser ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Aber lass mal. Heute ist nicht dein Tag.«

Frerichs nahm einen kleinen Schluck aus seiner Wasserflasche. Er nickte stumm.

Auf der Straße stoppte ein Polizeiwagen hinter Bleekers Opel. Zwei uniformierte Beamte stiegen aus. Frerichs und Doc Bleeker gingen den Polizisten entgegen. Man begrüßte sich und tauschte Höflichkeiten aus.

»Onno Frerichs! Ich habe den Wagen gefunden.«

Einer der Beamten, er hatte sich mit Peter Wybrands vorgestellt, winkte Onno zu sich. »Haben sie den Tatort betreten?« Der Beamte war ein sympathisch aussehender Mann und trug den obligatorischen Oberlippenbart sauber gestutzt.

»Tatort?«, echote Frerichs. »Heißt es auch bei einem Unfall ›Tatort‹?«, fragte er. Der Polizist bedachte ihn mit einem verständnislosen Blick. »Sind Sie denn sicher, dass es ein Unfall war?«

Frerichs winkte ihn zu sich. »Kommen sie. Ich zeige Ihnen, was ich gefunden habe.«

Vor dem abgeknickten Verkehrsschild blieb er stehen. »Sehen Sie? Hier ist der Wagen der jungen Leute von der Straße abgekommen. Ihr Wagen flog durch die Luft und krachte in das Wäldchen.«

Wybrands wandte den Kopf in Onnos Blickrichtung, hockte sich vor das Schild und peilte die imaginäre Flugbahn an, genauso wie Onno es zuvor gemacht hatte.

Wybransds wiegte den Kopf, sagte jedoch nichts. »Dann müssten die aber ganz schön schnell gewesen sein!«, gab er zu bedenken. Frerichs gab ihm Recht.

»Na, dann erzählen Sie mal, Herr Frerichs«, forderte ihn der Polizist auf. Frerichs berichtete, wie er auf der Straße in Richtung Ochterfehn gefahren war. Dann hatte er das Schild gesehen und angehalten. Da er von der Suchmeldung wusste, kam ihm das abgeknickte Schild mit einem Mal merkwürdig vor. Er habe angehalten und nachgesehen, das Wrack und die beiden Toten gefunden.

Wybrands nickte betroffen bei Frerichs Schilderung. Er kritzelte fleißig in sein Notizbüchlein und notierte sich Frerichs Personalien.

Wenig später traf auch der Mobilkran ein. Bis weit in den Nachmittag hinein dauerte die Bergung des Wracks und der beiden Toten.

Elektra

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