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ОглавлениеWie ein Dieb in der Nacht
Donnerstag, 08. Oktober 2015
Um halb zwei riss ihn das Klingeln des Weckers aus seinem Schlaf. Ohne Protest hatte sich Frerichs nach dem Abendessen in sein Schicksal gefügt.
Zwar hatte er noch keinen blassen Schimmer, wonach er suchen sollte, dafür wusste er schon, wo er mit der Suche beginnen würde: im Bad. Das war der Tatort. Dort war Hilde gestorben.
Wenn er dort keine Spuren finden würde, müsste er sich auf seine Intuition verlassen. Wohin diese ihn führte, bliebe abzuwarten.
Er sprang in seine Klamotten und huschte wie ein Wirbelwind durchs Haus auf der Suche nach seiner Ausrüstung. In der Küche fand er das Gesuchte unter dem Spülschrank und stopfte es in seinen Rucksack. Im Wohnzimmer packte er seine Fototasche und lief mit beidem zur Garage.
In Windeseile schob Frerichs seine Maschine heraus und war schon eine Minute später unterwegs. Er fuhr direkt zu Hildes Fachwerkhaus. Mit Rucksack und Tasche bepackt, steuerte er die Rückseite des Anwesens an. Er ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und stellte die Tasche ab.
Nach dem Leichenfund hatte er das Haus abgeschlossen und den Schlüssel an sich genommen. Mit diesem geborgten Schlüssel öffnete er die Hintertür.
Seinem Rucksack entnahm er ein zusammen geknülltes Bündel. Ein weißer Einwegoverall, wie ihn die Maler verwenden. Dank des atmungsaktiven Materials würde Frerichs nicht schwitzen wie ein Schwein. Viel wichtiger war jedoch etwas anderes: Er durfte den Tatort nicht mit seiner DNA verschmutzen. Über die Schuhe zog er Plastik-Füßlinge. Frerichs wollte sich so professionell wie möglich verhalten. Dazu gehörte auch, ein Zeitdokument anzufertigen. Er legte eine Stirnlampe an und schloss den Klettverschluss. Die Lampe sandte nur einen dünnen Lichtstrahl aus. Frerichs wollte ungesehen agieren.
Er hockte sich vor die Fototasche und entnahm ihr die Mini-DV Kamera. Mit seiner rechten Hand schlüpfte er in die Trageschlaufe. Dann hob er den Arm und drückte mit dem Daumen die Aufnahmetaste. Das Objektiv der Kamera auf die Tür gerichtet, schloss er die Hintertür auf. Laut und deutlich kommentierte Frerichs sein Vorgehen:
»Mein Name ist Onno Frerichs. Ich dokumentiere die weitere Spurensuche im Hause der verstorbenen Hilde Meents. Es ist …« Frerichs schüttelte sein linkes Handgelenk, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. »…2:25 Uhr am Morgen des 8. Oktober 2015.«
Mit dem ersten Kameraschwenk nahm er die Ahnengalerie der Familie Meents auf. Er versprach sich nicht viel davon. Vielleicht benötigte er später das eine oder andere Bild.
Anschließend richtete er das Objektiv auf sich selbst. Das sollte als Beweis genügen, dass diese Aufnahmen von ihm stammten! Über Datum und Uhrzeit gab der Zeitstempel im rechten unteren Bildrand zusätzlich Auskunft.
Im Haus roch es nach wie vor nach Muff und Feuchtigkeit. Frerichs schlug den Weg ins Bad ein. Er stoppte die Aufnahme und sah sich die erste Sequenz an. Trotz der widrigen Lichtverhältnisse waren die Aufnahmen klar erkennbar.
Der Tatort sah noch immer so aus, wie heute Morgen. Frerichs schaltete erneut die Aufnahme ein und schwenkte die Kamera einmal durch das Bad. Die Fliesen schimmerten feucht. Im Licht seiner Stirnlampe funkelten die Wassertropfen wie ein Sternenmeer. Danach hielt er das Band wieder an.
Onno sah sich nach einer geeigneten Stelle um, an der er eine separate Lampe und die Kamera platzieren könnte. Er öffnete seinen Rucksack und entnahm eine Stabtaschenlampe. Der Spülkasten der Toilette bot sich an, da dieser entsprechend hoch angebracht war. Frerichs richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Stelle, die er gleich abfilmen wollte. Anschließend verfuhr er mit der Kamera genauso. Er drehte den kleinen Monitor der Kamera so, dass er sich selbst bei der Arbeit würde beobachten können.
Frerichs stand unschlüssig im Badezimmer. Ratlos blickte er sich um. Welche Spuren sollte er hier sichern? Das Duschwasser konnte Hilde doch unmöglich getötet haben, oder?
»Vorsicht!« Frerichs glaubte die Stimme seiner Schwester zu hören. »Du musst ganz neutral an die Sache herangehen!«
In Ordnung, dachte er in den Äther. Mit einer ungeduldigen Geste riss er die Verpackung der Schwämme auf. Er entnahm einen und begann die Feuchtigkeit auf dem gefliesten Boden aufzunehmen. In eine mitgebrachte Frischhaltetüte mit Reißverschluss wrang er den Schwamm aus.
Plötzlich erinnerte er sich an die Kamera. Frerichs hatte sie noch nicht eingeschaltet. Er unterbrach seine Beweissicherung, griff nach dem Gerät und drückte den Aufnahmeknopf.
»Ich teile nicht die Meinung des Allgemeinmediziners Dr. Martin Bleeker und glaube nicht an einen natürlichen Tod Hilde Meents. Deshalb sammele ich Spuren und Indizien, die auf ein Fremdverschulden hinweisen. Diese werde ich später an die Polizei übergeben.
Die Pfütze an der Toilette erregte seine Aufmerksamkeit. Vor Stunden hatte er dort gesessen und sich zu schwach gefühlt, um auch nur einen Finger zu krümmen.
Ein trüber Belag hatte sich auf den braunen Fliesen abgesetzt. Gut sichtbar für die Kamera nahm Frerichs einen neuen Schwamm aus der Packung. Mit diesem begann er, Wasser und auch die Trübungen aufzunehmen und in eine Beweismitteltüte zu wringen. Für die Kamera erklärte er weiter: »Noch ist es nur ein Anfangsverdacht. Aber ich glaube, diese Spuren sichern zu müssen, vielleicht führt uns das weiter.«
Frerichs drehte sich von der Kamera weg. Ihm kam ein Verdacht: War er vielleicht selbst für die trübe Brühe verantwortlich? Hatte er womöglich ein paar der losen Tabletten verloren, die er manchmal in der Hosentasche mit sich herumtrug?
Er kniete sich noch einmal vor die Pfütze und tauchte einen Finger in die Brühe. Einen Augenblick lang überlegte er. Sollte er davon kosten? Doch dann warf er seinen Ekel über Bord und tropfte sich eine Winzigkeit davon auf die Zungenspitze.
Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Er hatte etwas wirklich Wichtiges gefunden. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Für die Kamera reckte er eine Faust in die Luft.
Frerichs war nicht verantwortlich für die Trübung des Wassers! Er hatte einen bitteren Geschmack erwartet. Aber der milchige Belag auf den Fliesen stammte nicht von seinen Tabletten.
Rasch füllte er noch mehr von der Brühe in einen verschließbaren Klarsichtbeutel. Anschließend zog er den Reißverschluss sorgfältig zu und richtete sich ächzend auf. Nach dem langen Knien kam er nur ungelenk und wenig fotogen auf die Beine.
Frerichs verstaute die Beweismitteltüten in seinem Rucksack und schaltete die Kamera aus. Genug Fernsehen für heute!
Bevor Frerichs das Haus verließ, sah er noch einmal kurz in alle Zimmer. Dazu genügte ein Schwenk mit der Taschenlampe. Die Unordnung in der Stube erregte seine Aufmerksamkeit. Zeitungen stapelten sich auf einem Stuhl daneben. Die Tischplatte war übersät mit ausgeschnittenen Artikeln und Schlagzeilen aus der Ostfriesischen Zeitung. So jedenfalls sah es aus.
Onno trat interessiert näher. Nun erkannte er, dass es sich in Wahrheit um Papierstreifen handelte. Zum großen Teil Worte, manchmal auch nur Buchstaben. Hatte sich die alte Dame etwa als Erpresserin die Rente aufgebessert? Eine Gänsehaut kroch ihm über den Rücken. Dexel noch to, Teufel auch! Ist meine Menschenkenntnis kaputt? Hilde, wozu das alles? Du hattest doch ein gutes Auskommen! Oder etwa nicht? Frerichs gestand es sich nicht gerne ein, doch er war genauso wenig imstande, den Menschen hinter die Stirn zu blicken, wie andere. Völlig berechenbar war offenbar kein Mensch.
Das Durcheinander erweckte den Eindruck, als habe Hilde eben noch gearbeitet. Neben dem offenen Klebestift lag eine Papierschere.
Frerichs wagte nicht, etwas anzufassen. Deshalb filmte er. Die Polizei musste sich dies ansehen. Wenn Hilde Meents tatsächlich jemanden erpresst haben sollte, dann erschien ihr Tod unter gänzlich neuen Gesichtspunkten.
Auf einem Sideboard lag ein zum Teil aus aufgeklebten Worten montierter Brief. Ein Hinweis, an wen das Schreiben gerichtet war, fehlte.
Er richtete den Strahl seiner Stirnlampe auf das weiße Blatt Papier und las: »Ich bin der Stachel in deinem Fleisch! 17. April 1979. Du warst es! Ich schweige für die Summe von 10 …« Weiter war Hilde nicht gekommen.
Onno schloss sorgfältig ab und setzte sich auf seine Maschine.
Frerichs fuhr zu Martin Bleeker. Es brannte Licht in der Küche. Sicher brühte sich der Mediziner gerade seinen ersten Kaffee auf. Eine Tasse starken Kaffees würde Frerichs jetzt auch guttun.
Er drückte auf die Klingel. Sofort erhob sich Hundegebell im Haus.
Du bist ja ein schöner Wachhund! Dabei fiel ihm ein, dass er Moses schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Kurz darauf wurde im Flur Licht gemacht und eine Silhouette erschien hinter der Gardine. Martin Bleeker öffnete.
»Frerichs!«, stieß er hervor. »Großer Gott hast du mich erschreckt. Was ist passiert?«
»Moin, moin, Bleeker. Hast doch nicht den Sensenmann erwartet, oder?« Frerichs konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. »Ich habe hier etwas für dich«, sagte er und klopfte auf die Tasche. »Darf ich reinkommen? Ich möchte es nicht vor der Tür besprechen«, raunte er und blickte verschwörerisch nach rechts und links, als er erwarte er, Lichter in den Fenstern des Nachbarhauses zu sehen.
Bleeker sah Frerichs aus großen Augen an. Dann wich seine Starre und er trat zur Seite. »Ah, selbstverständlich!«
Sie saßen sich am Küchentisch gegenüber. Frerichs hielt den Kaffeebecher mit beiden Händen und sah den Arzt aufmerksam an. »So, Bleeker, dann erzähl mal. Du gehst also von einem natürlichen Tod aus. Wie kommst du zu dieser Ansicht?«
Der Doc machte den Mund auf und blickte sein Gegenüber entgeistert an. »Das ist jetzt nicht dein Ernst! Hast du Schlafprobleme? Dann komm zu einer vernünftigen Zeit in meine Praxis. Ich verschreibe dir was.«
Sein Blick huschte in Richtung Küchenuhr. Frerichs folgte ihm. Es ging auf vier Uhr morgens zu.
»Was ist mit dir? Wirken deine Mittel bei dir nicht mehr?«
Bleeker schürzte die Lippen, dann schüttelte er den Kopf. »Ich war noch gar nicht im Bett. Aber das tut jetzt nichts zur Sache.« Er wechselte einen Blick mit dem frühen Besucher. »Du gibst nicht eher Ruhe, ehe ich dir die Todesursache mitteile, nicht wahr?«
Frerichs faltete die Hände vor dem Bauch und lehnte sich zurück. »Meinst du nicht, dass ich ein Anrecht darauf habe?«
»Nein«, entgegnete Bleeker. »Wenn ich von einem natürlichen Tod ausgehe und das tue ich, dann muss ich die Hinterbliebenen verständigen. Der Körper wies außer der Kopfverletzung, die nicht tödlich war, keine Verletzungen auf. Deshalb, und aufgrund ihres hohen Alters habe ich keinen Grund an einer natürlichen Todesursache zu zweifeln.«
Frerichs nickte. Das entsprach exakt seiner eigenen Meinung. Jedenfalls bis zum Gespräch mit seiner Schwester. Tja, und jetzt war er nicht mehr dieser Meinung. Er trank vorsichtig einen Schluck von dem höllisch heißen Gebräu. »Ich verstehe dich, Doc.« Onno fasste in seine Jackentasche, holte den Probenbeutel heraus und legte diesen auf den Tisch.
Bleeker warf einen Blick drauf. Seine buschigen Augenbrauen fuhren in die Höhe. Dann richteten sich seine Augen auf Frerichs. »Gut, Frerichs. Erklär’s mir. Was ist da drin?«
»Das sollst du ja feststellen. Ich glaube zu wissen, was drin ist. Den Beweis musst du liefern!«
»Und, was glaubst du, ist drin?«
»Natrium-Chlorid in Wasser«, antwortete Frerichs ungerührt und hob den Blick von seinem Becher.
Bleeker runzelte die Stirn. »Salzwasser?«
Frerichs zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat. Aber ich glaube, dass Hilde ermordet wurde!«
»Ermordet?«, echote Bleeker erstaunt.
Frerichs entnahm seiner Fototasche den Camcorder, schaltete diesen ein und drehte den Bildschirm so, dass der Arzt gut sehen konnte.
»Pass auf, diese Aufnahme habe ich bei Hilde gemacht.« Der kurze Film zu Hildes kreativer Phase lief ab. Nach einer Minute stoppte das Band.
»Was sagt dir das Datum: 17. April 1979?«, fragte der Allgemeinmediziner.
Frerichs hob die Schultern. »Da war ich gerade mal sechs Jahre alt. Keine Ahnung, was da war.«
»Gut, ich werde im Internet dazu mal recherchieren«, bot Bleeker an und klappte sein Notebook auf.