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ОглавлениеOnno Frerichs
Dienstag, 06. Oktober 2015
Die kritische Masse der Sendungen an diesem Tag war größer als Null. Für diese Feststellung genügte Onno Frerichs ein Blick. Aus der schneeweißen Gleichförmigkeit hoben sich nur wenige Schmutzig-graue ab. Unisono Behördenpost: Arbeitslosengeld- und Steuerbescheide, langweiliger Kram.
Nichts wofür es sich zu sterben lohnte. Allesamt unkritisch, denn Einkommensmillionäre gab es in Ölbenfehn keinen einzigen. Arbeitsscheue jede Menge und Arbeitslose auch, doch die waren in der Unterzahl.
Ein einziger Umschlag stach aus der Masse hervor. Die kräftige Signalfarbe, ein extravagantes Gelb, erregte Aufmerksamkeit. Es handelte sich um eine Zustellungsurkunde, deren Übergabe quittiert werden musste! Der bloße Anblick schickte einen Stromstoß durch seinen Körper. Der Adrenalinschub war stark genug, seine depressive Gemütsverfassung wegzuspülen. An trüben Herbsttagen wie heute ging seine Stimmung regelmäßig in den Keller.
Als Frerichs den Namen des Adressaten las, beschleunigte sich sein Puls. Im selben Tempo pochten die Schmerzimpulse in seinem Hals und Nacken.
Frerichs verspürte das dringende Bedürfnis nach einem Shiitake-Bier oder in Ermangelung dessen nach einem Pilz-Omelett. Leider hatte der Arbeitstag gerade erst begonnen und so begnügte er sich mit einem Briefchen. Frerichs faltete das Stück Papier vorsichtig auseinander. Zum Vorschein kam eine Kleinstmenge braunen Pulvers. Routiniert leckte er es auf.
Danach drückte er die erste Ibuprofen 600 des Tages aus dem Blister. Er warf die Schmerztablette ein, zerkaute sie angewidert und schluckte sie trocken herunter. Aus schmerzhafter Erfahrung wusste er, dass die Linderung in etwa fünfzehn Minuten einsetzen und seine üble Laune halbieren würde. Die andere Hälfte würde er bis spätestens mittags Hinnerk Oldewurtel auf die Schultern geladen haben.
Die Aussicht heute volle Erlösung zu finden, beflügelte Frerichs. Ein boshaftes Grinsen machte sich auf seinem hohlwangigen, wettergegerbten Gesicht breit.
Frerichs war kein missgünstiger Mensch. Doch alle Regeln waren außer Kraft gesetzt, wenn es sich um Hinnerk Oldewurtel handelte. Die beiden Männer verband eine lange und tiefe Feindschaft. Oldewurtel war Schwarzbrenner. An sich hatte Frerichs nichts gegen Schwarzgebrannten. Er trank gerne und brannte sich auch seinen eigenen Schnaps. Doch Oldewurtel musste er stoppen. Der Mann stellte gefährlichen Stoff her.
Zwei Nachbarn waren an dem Fusel schon krepiert.
Und heute würde er in offizieller Mission an Oldewurtel herantreten müssen. Das gelbe Kuvert wies Oldewurtel als Empfänger aus. Oldewurtel, seines Zeichens Trucker war ein guter Konsument, doch ein lausiger Zahler. Unter Garantie handelte es sich bei dem gerichtlichen Schreiben um einen Mahnbescheid.
Nichts ahnend von der nahenden Gefahr, in der er schwebte, blickte Frerichs zum Firmament hinauf. Er gab einen Stoßseufzer von sich.
Und als sei das nicht genug, kam noch dieser trübe Tag hinzu. Frerichs stöhnte gequält auf, denn dieses Wetter reichte ihm. Einzig die Aussicht auf ein kühles Feierabendbier oder ein heißer Gewürzmet linderte seinen Ärger.
Über ihm türmten sich graue Wolkenberge. Dramatisches bahnte sich an. Es sah ganz danach aus, als wolle der Himmel heute noch seine Schleusen öffnen. Und lange würde das Spektakel sicher nicht mehr auf sich warten lassen.
Dem Wetterbericht hatte er keinen Glauben geschenkt. Zu oft irrten sich für seinen Geschmack die Wetterfrösche in letzter Zeit. Nun, für heute standen ihre Chancen gut, dass sie mit ihren Unkenrufen Recht behalten könnten, dachte er grimmig.
Er zog seine Baseballkappe tiefer in die Stirn und schlug den Kragen seiner dünnen gelb-blauen Jacke hoch. Ärger wallte in ihm auf, den er jedoch rasch niedermachte. Er dachte an das Bier in seiner Garage und an ein großes Pilz-Omelett, das er heute Abend vertilgen würde.
Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild einer frischen Kiste Jever im Dämmerlicht seiner Garage. Sie stand dort inmitten von Gartenstühlen, einem halb verrosteten Grill und allerhand Kleinigkeiten, die entweder noch auf ihre Reparatur warteten oder deren letzte Bestimmung noch nicht geklärt war. Doch es war immer dasselbe: Der passende Moment zur Instandsetzung wollte sich einfach nicht ergeben! Irgendetwas kam halt immer dazwischen! Wenn er mal Zeit und Muße fand, ereignete sich immer irgendeine Katastrophe und es war an ihm, die Kastanien aus dem Feuer zu holen, meistens für einen der Klookschieter aus der Gemeindeverwaltung in Wittmund.
Der heutige Abend versprach tollen Fußball. Das Erste übertrug die Begegnung St. Pauli gegen den HSV. Eine gute Gelegenheit, ein paar Fläschchen zu kippen, freute sich Frerichs. Der Gedanke an einen ordentlichen Rausch beflügelte und hob seine Laune noch einmal um ein paar Grad.
Onno Frerichs startete seine gelbe BMW C1. Das Gewicht der Seitentaschen ausbalancierend, löste er mit dem Fuß den Ständer und gab Gas.
Trotz der frühen Tageszeit und der Mühsal, die ihm das Aufstehen jeden Morgen bereitete, liebte er diese Landschaft. Er schaute über die Straße hinweg. Sein Blick fing sich in tausenden winzigen Reflexionen. Die Wasseroberfläche des Fehnkanals glitzerte voller Magie und Schönheit.
Ringsum war alles ruhig. Frerichs setzte den Blinker rechts und lenkte seine Maschine vom Posthof auf das breite Band der Bundesstraße.
Wie aus dem Nichts war das Geschoss herangekommen. Es näherte sich mit halsbrecherischem Tempo von links. Genau auf ihn zu! Alle Gedanken zerplatzten wie Seifenblasen.
Es war ihm schon fürchterlich nah, ein Zusammenprall schien unausweichlich. Seine eigene Geschwindigkeit war längst nicht hoch genug, um ihn sicher aus der Gefahrenzone herauszubringen.
Seine rechte Hand reagierte im Bruchteil einer Sekunde. Eine Drehung des Handgelenks und der Motor der Maschine heulte auf. Die C1 scheute, wie es ein Mustang tut, wenn er eine Schlange zu seinen Füßen erblickt. Einen Augenblick lang stand das Postmotorrad wie eingefroren auf dem Hinterrad.
Ein Blick seitwärts. Anfangs ein verwischter rubinroter Fleck. Nach und nach fügten sich die Formen zu einem Ganzen und Frerichs erkannte den Fahrzeugtyp. Es handelte sich um einen SUV edler Abstammung. Ein seltenes Modell aus dem Silicon Valley. Im Dorf hatte bestimmt noch niemand einen solchen Schlitten gesehen. Geschweige denn gewusst, dass sie die Existenz ihrer geliebten Smartphones einem genialen Erfinder, gleichen Namens verdankten.
Bei dem Fahrzeug handelte es sich um einen Tesla, ein X-Modell. Das Tückische an diesen Fahrzeugen war ihr Sound. Es gab praktisch keinen, von dem Abrollgeräusch der Reifen auf dem Asphalt einmal abgesehen, denn der Motor wurde elektrisch betrieben.
Frerichs erschrak wegen der Situation und der Position, in der er und seine Maschine sich befanden. »Wheelies« vermied er seit Langem. Denn er war den Zwanzigern längst entwachsen, musste sich und den Ladies nichts mehr beweisen. Bei dem Anblick des Vorderrades, das auf gleicher Höhe war, wie sein Kopf, wurde ihm mulmig zumute. So geschah, was geschehen musste: Er verlor das Gleichgewicht und kippte mit seiner Maschine auf die Seite.
Hart krachte er auf den Asphalt. Seine BMW begrub ihn unter sich. Aus einem Reflex heraus, versuchte Onno, sich noch mit den Händen abzufangen. Doch das misslang gründlich. Er zog sich Abschürfungen an der Hüfte und den Händen zu.
Wenn er Handschuhe getragen hätte, wäre er sicherlich mit weniger Verletzungen davongekommen.
Dank des Adrenalins in seinem Körper nahm Frerichs die Schmerzen kaum wahr. Nur am Rande seines Bewusstseins registrierte er das rohe Fleisch seiner Handballen.
Ein nervenzerfetzendes Jaulen zerriss die Stille. Niemals zuvor hatte Frerichs dergleichen gehört. Das Geräusch entstand, als die Bremsklötze mit plötzlicher und unerwarteter Heftigkeit in die Keramik-Bremsscheiben bissen und so den Sportwagen in ein Geschoss verwandelten.
Der Tesla vollführte ein eigentümliches Ballett. Nach rechts und links swingend, tanzte er über die Straße. Dabei malte er schwarze Schlangenlinien auf den Asphalt, die Onno an Mirò denken ließen. Wie durch ein Wunder verfehlte der Wagen das Post-Motorrad.
Frerichs stemmte seine C1 hoch und kroch darunter hervor. Er robbte zum Straßenrand, musste erst einmal verschnaufen.
Sein Schmerzzentrum feuerte wild. Den Hilfeschrei sandte sein blankes Fleisch aus. Rollsplitt und Dreck hatten sich hineingefressen, ließen es glühen. Doch nicht einmal die Hälfte der Impulse erreichte ihn. Gott Ibu sei Dank!
Frerichs brüllte wütend: »Di sall de Kuckuck halen!«
Der Tesla entfernte sich weiter und weiter. Nicht mehr lange und er würde verschwinden.
Verdoomt noch mal! Frerichs verfluchte die Schwerfälligkeit seines Körpers. He denkt wat langsaam, murmelte er vor sich hin.
Gefühlt mochten Minuten vergangen sein. In Wahrheit waren es sicherlich nur Bruchteile von Sekunden. Mühsam zog er sich in die Aufrechte. Abscheuliche Qualen schüttelten seinen Körper. Doch Frerichs hielt an seinem Plan fest. Er musste die Verfolgung aufnehmen! Auch wenn er gerne anders entschieden hätte. Die Stimme in seinem Kopf verlangte es.
Ungelenk kam er auf die Füße. Mit schlurfenden Schritten bewegte er sich auf seine Maschine zu. Bestimmt glich er einem der Zombies, denen man in den Filmen des Spätprogramms manchmal begegnete, wenn man es nicht rechtzeitig in die Federn schaffte. Gottlob fehlte es an Zeugen und so würde diese filmreife Szene der Nachwelt nicht überliefert werden. Niemals sollte ihm freiwillig ein Sterbenswörtchen dieser Schmach über seine Lippen kommen, schwor er sich. Lieber würde er sich die Zunge abbeißen.
Es bedurfte aller Willensanstrengung, die er zu mobilisieren fähig war und drei Versuchen, bis es ihm endlich gelang, das Motorrad aufzurichten. Mit kaputten Händen war das ein fürchterlich schwieriges Unterfangen – ein jäher Vorgeschmack auf sein vorgezogenes Greisen-Dasein. Der Gedanke hatte etwas Erschütterndes. Er war der Meinung, eine weitere Ibu vertragen zu können und ließ eine Zweite folgen.
Dann hob Frerichs den Stiefel und trat den Starter durch. Zu seiner Überraschung sprang der Motor sofort an. Der kaputten Plastikverkleidung schenkte er keine Beachtung.
Er fuhr an abgeernteten Feldern vorbei, in Richtung des alten Dorfkerns von Ölbenfehn. Grüßende Nachbarn nahm er genauso wenig zur Kenntnis, wie winkende Schulkinder. Seine Aufmerksamkeit galt dem Stück Horizont in seinem Blickfeld.
Dort klebte ein roter Fleck, der unendlich langsam an Größe gewann. Das ließ sich doch beschleunigen! Frerichs legte einen Schalter in seinem Cockpit um. Augenblicklich flackerte das blaue Blinklicht.
Wind war aufgekommen. Die sturmgepeitschten Bäume am Straßenrand überließen ihm ihr letztes Laub. Rote und braune Schwärme welken Blattschmucks trieb er vor sich her.
Onno Frerichs fuhr unbeirrt hindurch. Er dachte gar nicht daran, seine Geschwindigkeit zu verringern, jetzt da der Tesla endlich an Größe gewann. Die wenigen Espen, deren Blätter noch hingen, knatterten im Wind, wie Fahnen im Orkan.
Kurz blieb sein Blick an Otto II hängen, der sich in der Ferne erhob. So nannten die Einheimischen den gelb-rot gestreiften Turm auf dem Feld von Bauer Hein Hansen. Jasper, der Sohn des Bauern war ein Vogelnarr. Mitten auf dem Feld hatte Hansen jr. seine Vogelwarte errichtet. Im Oktober vor fünf Jahren kollidierte Hansens Trecker mit dem Turm. Der Tag war so nebelig gewesen, dass man die Hand nicht vor Augen hatte sehen können. Das jedenfalls hatte der Vater behauptet. Junior baute den Turm wieder auf und verpasste ihm die Signalfarben, damit dieser Unfall sich nicht wiederholte. Das Plagiat Otto II glich seinem Pendant in Pilsum, wie ein Ei dem anderen.
Frerichs wandte sich wieder der Verfolgung des Flüchtigen zu. Das blaue Blinklicht anzusehen machte ihn glücklich. Er hatte es selbst eingebaut. In Momenten wie diesen gab es nichts Besseres. Abgesehen von einer Maschinenpistole, vielleicht. Wirklich schade war, dass er kein Martinshorn besaß. Doch das hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt. Außerdem schickt sich das wirklich nicht. Er war Postbote, kein Bulle!
Auf den Fahrer des X-Modells machte es den erhofften Eindruck. Langsam verringerte der Wagen sein Tempo.
Mit einer guten Portion Theatralik näherte sich Frerichs dem stehenden Fahrzeug. Das kannte er aus amerikanischen Polizeistreifen: Betont lässig nähert sich einer der Beamten dem verdächtigen Fahrzeug, während der zweite Polizist beim Streifenwagen bleibt und die Situation mit erhobener Dienstwaffe sichert. Das erhöhte die Dramatik.
Frerichs Behäbigkeit war nicht der Coolness geschuldet, sondern der Pein seines geschundenen Körpers. Jeder Schritt tat schlicht und einfach höllisch weh! Noch war die Ibu nicht angekommen. Aber das konnte nicht mehr allzu lange dauern.
Wie gerne hätte er seine Walther P99 aus dem Holster gezogen. Doch leider besaß er keine. Seine Dienststelle hatte ihn mit einem Block voller Benachrichtigungsscheine und einem Kugelschreiber ausgestattet. Doch wehrlos war er deshalb nicht! Blauer Zigarettenrauch wehte aus dem offenen Fenster zu ihm herüber. Frerichs verbiss sich den Schmerz. Er sammelte alle Kraft für das bevorstehende Gespräch mit dem flüchtigen Fahrer. In Momenten wie diesen musste er sich oft ein Lachen verkneifen. Heute war das unnötig. Die Wut über seine Verletzungen und der Knacks in seinem Stolz verliehen seinem Gesicht die nötige Ernsthaftigkeit. Kein Muskel zuckte darin. Er trat neben die Fahrertür und blickte in das Innere des Sportwagens.
Zu seiner Verwunderung sah er in das Gesicht einer Frau. Sie war allein und hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet. Die Finger ihrer linken Hand trommelten nervös auf das Lenkrad. In der anderen hielt sie eine Zigarette. Die Finger der Dame bebten leicht. Damit verriet sie deutlich ihre Gemütslage.
»Stellen Sie bitte den Motor ab und händigen Sie mir Führerschein und Fahrzeugpapiere aus!«, forderte Frerichs mit mühsam bewahrter Sachlichkeit. Einen Augenblick lang glaubte er, dass sie das Gaspedal durchtreten und flüchten würde.
Doch sie überraschte ihn. Sie war eben doch keine Gangsterbraut, und Bonnie und Clyde funktionierte besser zu zweit. Ihre linke Hand hielt in der Bewegung inne. Dann fielen ihre Hände in den Schoss.
Sie löste den Sicherheitsgurt und lehnte sich zum Handschuhfach hinüber. Wortlos reichte sie ihm die gewünschten Papiere durch das Fenster.
Der Führerschein kam im modernen Scheckkartenformat daher, die Zulassung steckte in einem ledernen Mäppchen. Kroko-Leder oder Strauß. Wer konnte das schon wissen? In jedem Fall sah es unanständig teuer aus und passte zu der Dame. Ein französischer oder italienischer Designer vielleicht.
Frerichs nahm die Papiere an sich und schlenderte nach vorne zur Motorhaube. Er bog den Fahrzeugschein auseinander und hinderte das starre Papier daran, sich wieder zusammenzuklappen. Das Papier machte nicht den Eindruck, als würde es oft dem Mäppchen entnommen. Allem Anschein nach wurde die Lady nicht häufig kontrolliert! Den Führerschein legte er neben die Zulassungspapiere. Dann fischte er sein Mobiltelefon aus der Beintasche seiner Cargo-Hose. Rasch machte er von den Ausweispapieren eine Serie Fotos.
Den Familiennamen der feinen Dame kannte Frerichs aus den Revolverblättern. Er hatte schon mal etwas über sie gelesen. Die Frau stammte aus Hamburg und hieß Evelyn Velbert. Wenn er dem Führerschein glaubte, war sie achtundvierzig Jahre alt. Dafür hatte sie noch ein sehr appetitliches und ausgesprochen ansehnliches Äußeres. Bestimmt schuftete sie stundenlang im Fitnessstudio mit einem persönlichen Fitnesstrainer. Bestimmt half man ihr aber auch mit dem neuen ›Aspirin zum Schnupfen‹ oder Botox? Wundern würde es ihn nicht. Taten das nicht alle in der High Society?
Der Name Velbert stand für guten alten Hamburger Geldadel, glaubte Frerichs zu wissen. Gemeldet war die feine Dame in Hamburg am Harvestehuder Weg. Außenalster. Teures Pflaster. Sicherlich eine Villa aus der Gründerzeit, in einem Park gelegen mit den Ausmaßen von einem Dutzend Fußballfelder, oder so.
»Wissen Sie, welche Geldbuße für Fahrerflucht zu berappen ist? Nein? Aber mit unterlassener Hilfeleistung können sie bestimmt etwas anfangen, oder?«
Während Frerichs auf eine Antwort wartete, sah er der Frau ins Gesicht. Sie ignorierte ihn, hielt den Blick weiter auf die Fahrbahn gerichtet. »Haben sie mich nicht verstanden?«, erkundigte er sich betont freundlich.
Ein spöttisches Zucken in den Mundwinkeln verriet ihre Gefühle. Plötzlich ruckte ihr Kopf herum. »Na los, verpassen sie mir schon ein Ticket. Dann kann ich meine Fahrt endlich fortsetzen!« Aus ihrem Tonfall sprachen Verachtung, Spott und Hohn.
Frerichs spürte, wie ihm plötzlich heiß wurde in seiner dünnen Jacke.
»Du bist neet weert, dat du an de Galg hängst!«, zischte Frerichs voller Ingrimm. Diese Frau war der Inbegriff wohlhabender Miststücke. Frau Velbert tat, als höre sie ihn nicht.
»Haben sie Bargeld dabei?«
»Wieso? Wollen Sie sich etwas leihen?«, entgegnete sie amüsiert.
Ihre Antwort ließ den Dampfkochtopf in ihm bersten. »Aussteigen!«, brüllte er.
Die Frau überhörte seine Aufforderung. Ein schiefes Lächeln zierte ihre makellosen Züge.
»AUSSTEIGEN!«, wiederholte Frerichs donnernd. Hitze brannte auf seiner Haut, verwandelte ihn in eine lebendige Fackel. Sein Gesicht musste knallrot angelaufen sein.
Sie schrak zusammen, fingerte nervös am Türöffner herum, bekam die Tür schließlich auf und stieg mit zitternden Beinen aus. Sie bebte förmlich.
»Jetzt noch mal. Wiederholen Sie bitte, was Sie eben sagten. Der Wind hat so laut geheult, dass ich glaube, Sie missverstanden zu haben!«, behauptete Frerichs. Er lächelte ihr aufmunternd zu.
Beschämt und ängstlich schlug sie die Augen nieder.
»Es tut mir leid«, versicherte sie mit unsicherer Stimme. »Nennen Sie mir bitte die Höhe des Bußgeldes. Ich zahle jeden Preis!«
Für Papierkram war Frerichs nicht geschaffen. So hatte es geschlagene fünf Minuten gedauert, die verdammte Quittung auszustellen. Er war mit dem Formular nicht vertraut, obwohl er es vor langer Zeit einmal selbst mit Excel angefertigt hatte. Es kam einfach zu selten vor, dass er Verkehrssünder verwarnen musste! Viele Touristen gab es in Ölbenfehn nicht.
Dreihundertfünfzig Euro später sah Frerichs dem Tesla hinterher, bis dieser hinter der Bismarck-Allee aus seinem Blickfeld entschwand.
Seine Knie zitterten mindestens ebenso stark, wie bei der hanseatischen Lady eben. Ächzend ließ er sich auf den Asphalt sinken. Er musste erst einmal verschnaufen. Sein wundes Fleisch schrie nicht mehr, es beschwerte sich flüsternd. Ob er wollte oder nicht, er würde heute noch zu Doc Bleeker müssen, dachte er betrübt. Ließ sich das noch in seinen prall gefüllten Terminkalender quetschen?
Mit den Unterarmen auf den Knien, die Hände in der Luft, saß er eine geschlagene halbe Stunde einfach so da. Niemand kam des Weges. Von ein paar Krähen und Dohlen einmal abgesehen. Sie ließen sich aus dem bleigrauen Himmel auf das Band der Bundesstraße fallen, hüpften herum und blickten interessiert zu ihm hinüber. Einen solch lustigen Menschen hatten sie scheinbar noch nie gesehen. Frerichs pfiff ihnen eine schräge Melodie zu, so wie er es manchmal bei seinen Hühnern tat. Die Rabenvögel reagierten genauso: Sie scherten sich nicht drum. Als seine innere Unruhe wieder zu ticken begann, erhob er sich mühsam.
»Diese vermaledeite Schwerkraft!«, schimpfte er. »Runter geht es immer! Aber rauf? Nur mit Schweiß, Schmerz …« Ein weiteres passendes Wort für diese Auszählung wollte ihm nicht einfallen und so ließ er seinen Satz unvollendet.
Los, auf die Füße, Frerichs!, trieb ihn seine innere Stimme zur Eile an. Du bist nicht auf Urlaub hier! Er hatte einen Job zu erledigen. Und die Bürger von Ölbenfehn kannten ihn als einen, der pünktlich lieferte. Auch wenn es sich lediglich um die Reklame handelte.
Er wuchtete seinen Körper wieder auf seine Maschine.
Behutsam rollte er vorwärts. Schon von Weitem, erkannte er den Kirchturm von St. Jakobus. Der goldene Wetterhahn an der Spitze des Giebels glänzte matt.
Auf dem kiesbestreuten Parkplatz stellte er seine C 1 unter den Linden ab, die wahrscheinlich schon zu Zeiten der Wikinger dagestanden hatten. Frerichs drückte die Tür aus dunklem Holz auf und betrat das Gotteshaus.
Dumpfe Kühle und der Geruch nach Schimmel und Moder wehten ihm entgegen. Im Dämmerlicht machte Frerichs die fünfzehn Bankreihen aus. Auf dem Altar brannten zwei Kerzen. Ihr Schein ließ die goldenen Verzierungen der biblischen Motive leuchten. Dennoch erfüllte Frerichs leichter Grusel. Den Geräuschen nach zu urteilen, hielt sich mindestens eine weitere Person in der Kirche auf.
Frerichs tauchte eine Hand in das steinerne Wasserbecken und betupfte sich die Stirn. Er war kein besonders gläubiger Mensch. Wenn seine Schwester Anna nicht wäre, würde er dem Gottesdienst regelmäßig fernbleiben. Doch mit der Tradition des sonntäglichen Gottesdienstes hatte er sich arrangiert. Für seine Schwester war diese Stunde fester Bestandteil ihres Lebens. Und weil auch Onno Frerichs dazu gehörte, vermied er jeden Streit und begleitete sie artig. Ihn erreichten die frommen Sprüche des Pfaffen nicht. Was er schätzte, war die Orgelmusik. Die hatte es ihm richtig angetan.
Als Frerichs das Bündel Geldscheine der reichen Hanseatin aus der Tasche zog, erklangen zarte Töne einer Toccata. Im Anschlag erkannte sein geübtes Ohr die Organistin Edda Beer. Das war leicht. St. Jakobus verfügte nur über eine einzige Organistin. Wenn sie krank war, fiel das Orgelspiel aus. So einfach lief das auf dem Lande. Edda Beer spielte ein Stück von Jan Pieterzoon Sweelinck.
Genauso wie Frerichs hatte sie eine Vorliebe für Sweelinck. Spielte sie die Toccata etwa um ihm eine Freude zu bereiten? War er entdeckt worden? Ein heißer Schreck durchfuhr ihn.
Rasch schickte er einen Blick zum Balkon hinauf. Doch die Organistin saß stets mit dem Rücken zur Gemeinde. Von dort, wo er stand, konnte er Edda nicht sehen. Und sie ihn genauso wenig.
Frerichs beruhigte sich wieder. Rasch ließ er seine Beute in die Tiefen des Klingelbeutels verschwinden. Eine kleine Weile lauschte er noch den Tönen der Orgelmusik. Dann stieß er sich von der Wand ab und verließ auf leisen Sohlen das Gotteshaus. Er trat wieder in den trüben Herbsttag hinaus und schloss leise die Tür.
Würde Haan, der Pastor, am Sonntag die großzügige Spende erwähnen? Das blieb abzuwarten. Frerichs freute sich schon ein wenig auf den nächsten Gottesdienst.
Ein Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass er gut eine Dreiviertelstunde hinter seinem Zeitplan zurücklag. Das galt es nun aufzuholen. Er startete seine Maschine und fuhr schneller als erlaubt, um seine Tour fortzusetzen. Frerichs hatte wenig Lust die verlorene Zeit anzuhängen. Das Spiel begann pünktlich.
Um Viertel nach acht wollte er auf dem Sofa sitzen. Ein anderer Ausklang des Abends kam für ihn nicht in Frage.
Er war noch nicht lange gefahren, da öffnete der Himmel seine Schleusen. Das feuchte Bombardement begann mit einigen fetten Tropfen. Diese netzten die Straße und klatschten auf das Dach seiner Maschine. Das liebte er an seiner C1. Es war das einzige Motorrad mit einem Dach und es enthob ihn der Notwendigkeit den lästigen Helm zu tragen. Denn diese ungemütlichen Dinger hasste er wie die Pest.
Rasch bog er in die Hofeinfahrt von Fokko Willms ein. Geschickt umrundete Frerichs die Dreckkuhlen auf dem Hof, ließ das Wohnhaus links liegen und fuhr am geparkten Fendt vorbei. Das Tor der Maschinenhalle stand offen. Frerichs nutzte den Schwung aus, ließ das Motorrad ausrollen und steuerte in das Innere der Halle. Keine Sekunde zu spät, wie sich herausstellte.
Als habe der Regen auf diesen Moment gewartet, ging die Show los. Der Regen prasselte auf den mit rotem Klinker gepflasterten Hof nieder. Rasch bildeten sich Pfützen und ohrenbetäubend laut war es auch.
Frerichs langte in die gelbe Tasche, fischte zwei Briefe heraus und rief in die dunkle Halle hinein. Denn um diese Zeit hatte Fokko nach Meinung seiner Frau, Freya im Haus nichts zu suchen. Weshalb er die Maschinenhalle dem Ritz vorzog.
Fokko tauchte hinter einem Schlepper auf. Er wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Mit breiten Schritten watschelte er in seinen grünen Gummistiefeln auf Onno zu.
Frerichs hielt die beiden Briefumschläge aufgefächert in der Hand.
»Al up steh?«, begrüßte Frerichs seinen alten Freund Fokko. Auf Willms’ Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
»Al god al!«, gab er zurück. Er sprach gedehnt, wie es in diesem Landstrich üblich war.
»Schön di zu sehn«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Als wollte er ihm ein Geheimnis verraten, winkte er ihn näher zu sich. Frerichs kam der Aufforderung gerne nach. Er konnte sich denken, was Willms ihm zeigen wollte.
In der Hand hielt der Landwirt eine ordentliche, aus drei Blatt Papier gedrehte Zigarette. Die Glut maß gut einen Zentimeter im Durchmesser. Zum Mundstück hin verjüngte sie sich konisch, wie bei einer Zigarre.
Frerichs lächelte dankbar bei ihrem Anblick. Mit Kennermiene nahm er die Tüte in die Hand, betrachtete das Werk von allen Seiten. Dann nickte er lobend.
»Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund. »Sieht gut aus, Fokko. Schmeckt er?« Er bedachte seinen Kumpel mit einem Blick. Dieser nickte auffordernd, gab ihm damit zu verstehen, eine Kostprobe zu nehmen. Frerichs folgte der Aufforderung und nahm einen tiefen Zug. Er behielt den Rauch für Sekunden in der Lunge und stieß ihn schließlich durch die Nasenlöcher wieder aus. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Die Augenlider fielen ihm zu. Als er sie wieder öffnete, war alle Anspannung von ihm abgefallen. Sogar die Schmerzen in den Handballen waren fort.
»Ich brauch’ nich’ zu fragen, ob dir die neue Ernte schmeckt, oder?«, erkundigte sich Fokko. Dabei fielen ihm die Verletzungen seines Freundes auf. Er erschrak. »Was is’ dir ’n passiert?«
»Bin dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen!«
Frerichs berichtete kurz, was sich zugetragen hatte. Mit jedem Zug ging es ihm besser. Er schüttelte breit grinsend den Kopf. »Das Kraut ist der Hammer!«
Das Lob tat Willms sichtlich gut. Er reckte die Brust und wirkte plötzlich größer.
»Frerichs, das is’ die beste Ernte, die ich jemals hatte. Die Qualität is’ echt der Hammer! Aber die Menge wird mich nicht durch den Winter bringen.« Seine roten Augen blickten traurig.
»Ein paar Pflanzen musste ich wech’ tun. Die hatten wat, einen Pilz oder so wat.«
»Mhm«, machte Frerichs. »Wir lassen uns was einfallen. Vielleicht kriegen wir eine neue Aufzucht hin. Ich hab’ da schon eine Idee. Wenn ich deine Lampen brauche, melde ich mich.« Er reichte den Joint an Fokko zurück.
Mit spitzen Fingern nahm sein Freund die Tüte entgegen und sog kräftig daran. Der süßliche und eigentümliche Duft erfüllte die Halle. Die Blicke in die Unendlichkeit gerichtet, sahen die Männer schweigend dem Regen bei der Arbeit zu. Als die Haschischzigarette aufgeraucht war, hatte auch der Regen nachgelassen und es war für Frerichs wieder Zeit die Tour fortzusetzen.
»Dank ok!« Er tippte sich an die Schirmmütze. »Ik mutt nu los.«
»Gode Betern!«, antwortete Fokko mit einem Nicken zu Frerichs Händen.
Am Kreisel gewährte er einem dunkelblauen Mitsubishi ordnungsgemäß Vorfahrt. Dabei fielen ihm frische regenbogenfarbene Schlieren auf. Der Wagen verlor Öl! Umweltverschmutzung hasste Frerichs noch mehr als Touristen. Er beschleunigte und setzte dem Wagen nach. Als er auf gleicher Höhe mit dem rücksichtslosen Autofahrer war, bedeutete er ihm anzuhalten und die Scheibe herunter zu kurbeln. Was dieser auch augenblicklich tat.
»Ihr Wagen verliert Öl. Lassen sie das sofort reparieren!« Er sprach mit lauter und respekteinflößender Stimme. Zufrieden blickte Frerichs in Augen in der Größe von Fußbällen. Die ältere Dame hinter dem Steuer erbleichte. Ihr Gesicht zeigte plötzlich jenes Aschfahl, das der Sensenmann ab und an verteilte.
Diesem Befehl würde die alte Vettel umgehend Folge leisten, wusste Frerichs. Genau das hatte er erreichen wollen.
Die nächste Station auf seiner Tour hob seine Laune. Die Pein war ausgeschaltet, dank Fokkos Joint.
»Hinnerk Oldewurtel, mein Besuch naht«, murmelte Frerichs boshaft.
Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag. Wie lange hatte er das Tun dieses Menschen schon beobachtet? Es mussten Jahre sein! Hinnerk Oldewurtel hatte das Internet und seine Möglichkeiten für sich entdeckt. Es verging keine Woche, dass kein Paket für Oldewurtel dabei war. Aber seine Zahlungsmoral war ebenfalls legendär, legendär schlecht. Den Beweis führte Frerichs heute mit sich. Unter Garantie enthielt der gelbe Umschlag einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss. Als Absender trug das Schreiben das Amtsgericht Aurich. Frerichs parkte seine Maschine vor dem Haus mit der Nummer 42 und öffnete die Postbox. Er fischte den gelben Umschlag heraus und lenkte seine Schritte in Richtung des schmalen Stichwegs.
Der geschotterte Weg wies mehr Löcher auf, als der Minigolfplatz in Ochterfehn, weshalb Frerichs es vorzog, die kurze Strecke zu Fuß zurückzulegen. Sein Blick blieb an einem kleinen Plastikschild hängen. Es musste neu sein. Privatweg, verkündete es großspurig. Als Frerichs sich dem Haus bis auf zehn Metern genähert hatte, drang durch die geschlossenen Fenster das harte Wummern eines Schlagzeugs gepaart mit dem schrillen Jaulen einer elektrischen Gitarre.
»Verdoomt noch mal!«, fluchte Frerichs zwischen den Zähnen hervor. »Ik wull, dat du noch mal an de Galg verrotten däätst!« Wie schön, sein Kunde war daheim!
Frerichs legte seinen Finger auf den Klingelknopf und hielt ihn fünf Sekunden gedrückt. Doch es tat sich nichts. Niemand erschien, um zu öffnen. Er ließ noch einmal fünf Sekunden verstreichen, während sein Finger auf dem Knopf lag. Doch Oldewurtel kam nicht heraus. Großartig! Da die Zustellungsurkunde unterschrieben werden musste, würde er morgen das Vergnügen noch einmal haben, hierher kommen zu dürfen. Was war er doch für ein Glückspilz! Er machte kehrt.
Plötzlich stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Er hatte das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Aber von seinem Kunden war nichts zu sehen. Als in seinem Rücken ein tiefes Grollen erklang, wusste Frerichs, dass er sich nicht getäuscht hatte. Das Geräusch verursachte ihm eine Gänsehaut. Sie überzog seinen ganzen Rücken. Es handelte sich eindeutig nicht um ein Wetterphänomen. Dafür klang es viel zu nah. Es musste von einem Tier stammen. Einem großen Tier! Sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine Handgranate mit Fellbezug. Zwischen den Zeilen bedeutete es: Sein Kunde hatte gerade keine Zeit und bat darum, er möge morgen wiederkommen, wenn’s recht ist. Er tippte auf einen Rottweiler als Überbringer der Nachricht.
»Di sall de Kuckuck halen!«, zischte er und blieb wie angewurzelt stehen. Vorsichtig lugte er über seine Schulter. Hinter ihm noch gute vier Meter entfernt machte er einen Schatten aus. Der Atem der Kreatur ging rasselnd oder lag die Bestie etwa an einer Kette? Langsam drehte sich Frerichs um. Gleichzeitig wanderte seine Hand zu seiner Beintasche hinab. Bestechung verstieß nicht gegen seine Prinzipien. Doch wenn es verhinderte, dass er die Zähne der Bestie zu spüren bekam, dann rechtfertigte dies ein solches Opfer.
Sein Job als Briefzusteller verpflichtete ihn keinesfalls, die Briefe persönlich zuzustellen. Wenn es ihm aufgrund von Gefahr für Leib und Leben nicht zuzumuten war, konnte der Kunde verpflichtet werden, die Post persönlich an der Poststation abzuholen. Diese Option konnte Frerichs noch ziehen. Welch ein beruhigendes Gefühl! Doch jetzt, in dieser Sekunde nutzte ihm die Aussicht nicht das Geringste.
Er musste seinen Allerwertesten aus der Gefahrenzone herausbringen. Und das hurtig, wollte er sein Stück im Ganzen behalten. Bestimmt wäre jemand untröstlich, wenn es anders wäre.
Eine Handvoll übel riechender Kringel fanden sich in der Tasche. Zusammen mit allerlei Brösel und Fussel. Frerichs beförderte seine Beute vorsichtig ans Tageslicht. Sein Blick wanderte zwischen der Handgranate und seiner Hand hin und her. Würde ihm die Bestechung mit dieser lumpigen Gabe wirklich gelingen? Die Kringel sahen wenig verlockend aus! Wie würde der Flohzirkus entscheiden, wenn er wählen müsste zwischen verstaubtem Hundemüsli und einer saftigen Wade? Die Antwort fiel auch nach längerem Nachsinnen nicht zu seiner Zufriedenheit aus. Dexel noch to! Teufel auch!
Frerichs schob diese destruktiven Gedanken hastig beiseite. Egal. Er musste es wenigstens versuchen! Schwarzmalerei nützte keinem.
Der Hund starrte Frerichs mit gebleckten Zähnen an. Die Lefzen hochgezogen drohte er, wie einst das Alien von 1979. Geifer spritzte aus seinem Maul. Die Bestie verfügte über ein ansehnliches Arsenal langer weißer Zähne. Von der Gefahr einmal abgesehen durchaus ein netter Anblick, dachte Frerichs. Er verfügte über ein gutes Auge für den besonderen Moment.
Die Schnauze des Hundes glänzte feucht. Frerichs schnalzte mit der Zunge.
»Hallo Hundchen! Ich habe Leckerlis für dich.«
Er sprach behutsam auf das Tier ein. Die ollen Dinger auf der flachen Hand präsentierend, rührte er schmeichelnd die Werbetrommel für die Happen, die sicherlich schon die Waschmaschine von innen gesehen hatten. Sprich schon mit der Hose gewaschen worden waren.
Der Blick des Hundes heftete sich auf seine Hand.
»Na, was denkst du? Sehen die lecker aus?« Der Köter leckte sich über sein Maul. War das ein gutes Zeichen?
Frerichs warf ihm eines nach dem anderen zu. Der Blick des Hundes folgte der Flugbahn der braunen Kuchen. Er schien abgelenkt. Schnüffelnd näherte er sich. Bevor er auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, sie zu verschlingen oder davon abzulassen, erklang unvermittelt ein Ruf.
Frerichs verstand das Gesagte nicht. Ehe er einen Blick zurückwerfen konnte, sprang der Hund direkt auf ihn zu. Frerichs wehrte die Zähne der Bestie mit dem Ellenbogen ab. Es galt sein Gesicht und die Finger zu schützen. Deshalb ballte er die Hände zu Fäusten.
Einen zweiten Angriff musste Frerichs verhindern. Er stellte sich seitwärts, damit sein Körper nur eine geringe Angriffsfläche bot. Das wirkte auf Hunde weniger bedrohlich, da er so nicht so massig erschien. Wie dies auf die Bestie von Hinnerk Oldewurtel wirken mochte, musste sich zeigen.
Frerichs ließ eine Hand in einer Beintasche verschwinden. Er förderte eine kleine Sprühdose zutage. Es handelte sich um eine Abwehrwaffe gegen Hunde, so jedenfalls versprach es das Etikett. Er nahm die Dose in die eine Hand. In der zweiten hielt er eine Hundepfeife, die er sich rasch zwischen die Lippen steckte, als der Hund auf ihn zu rannte.
Frerichs blies in die Pfeife. Das stoppte den Hund. Das Tier blieb direkt vor ihm stehen. Es hob den Kopf und sah zu ihm hoch. Dann drückte Frerichs den Knopf der Sprühdose. Das Aerosol nebelte den Kopf des Tieres ein. Der Hund jaulte erbärmlich und Frerichs bereute diese Maßnahme sofort. Der Hund konnte nichts für sein Herrchen! Das Tier wandte sich rasch ab, leckte sich über die Nase und hatte Frerichs Anwesenheit allem Anschein nach vergessen. In diesem Moment lief Frerichs zu seiner Maschine zurück. Er startete in Windeseile und brauste davon.
Der nächste Hof auf seiner Tour gehörte den Hartwig-Lesben. Sie entstammten keiner der Familien aus Ölbenfehn, sondern waren aus Berlin zugezogen. Frerichs kannte die Gerüchte, wonach es drei Frauen sein sollten. Doch begegnet war er nie mehr als einer. Sie verließen nie gemeinsam das Haus. Denkbar war aber auch, dass es in Wahrheit nur eine einzige war. Vielleicht verkleidete sie sich, weil sie in einem Zeugenschutzprogramm lebte? Wenn sie sich mal zeigte, geschah das nie bei Tageslicht. Es gab Leute im Dorf, die sie für Vampire oder etwas ähnlich Schräges hielten. Vielleicht war da etwas dran? Vielleicht auch nicht. Frerichs interessierte sich nicht dafür. Sein Job war es, die Post auszutragen und das tat er.
In seiner Posttasche fand sich ein Brief aus Berlin für eine der Frauen. Frerichs löste den Sicherheitsgurt, bockte sein Motorrad auf und ging den kiesbestreuten Weg bis zu dem geduckten Gebäude hin. Die Rabatten links und rechts des Wegs waren ordentlich geharkt. Die Stauden sauber geschnitten und mit Tannenzweigen winterfest gemacht. Eine der Katzen strich um seine Beine. Frerichs machte sich nicht die Mühe, sie zu streicheln. Er mochte keine Katzen. Die waren für Leute, die keinen Sinn in Erziehung sahen. Denn erziehen ließen sich die Stubentiger nicht. Ihr Wesen ließ sich nie wirklich erschließen. Ganz anders der Hund. Hunde unterwarfen sich dem Menschen. Das war in Ordnung. Das war berechenbar.
Wie immer rührte sich nichts hinter den Fenstern. Egal wie angestrengt er die Gardinen auch anstarrte. Niemand interessierte sich für ihn. Niemand kam heraus, um zu grüßen oder ein paar Worte zu wechseln. Rasch warf er den Liebesbrief aus Berlin ein. Dann machte er sich aus dem Staub. Er ging zu seiner Maschine zurück. Wenn er ehrlich zu sich war, wollte er mit den Weibern gar nichts zu tun haben. Besser man verkehrte nicht mit ihnen. Schließlich wollte er nicht ins Gerede kommen.
Sein Postjob war um vierzehn Uhr erledigt. Leider hatte er dann noch nicht Feierabend. Neben seinem Postbotenjob war Frerichs noch Hausmeister der städtischen Gebäude.
Ölbenfehn war ein typisches Kleinstdorf. Mit weniger als 300 Seelen zählte es zu den bevölkerungsärmsten Dörfern Ostfrieslands. Es gab weniger erwerbstätige Erwachsene als vakante Stellen. Deshalb beschloss die Verwaltung in Wittmund, besonders befähigten Bürgern, ein breiteres Aufgabenspektrum zuzumuten, und vertraute ihnen zwei oder mehr Ämter an. Er gehörte zu dieser Gruppe.
Frerichs war zweiundvierzig und körperlich fit. Er hatte selbst angeregt, den Postjob zu machen, weil er gerne herumfuhr und so das Dorf im Auge behielt. Sein handwerkliches Geschick qualifizierte ihn für den Hausmeisterjob. Die Arbeit war nicht schwer und wartete mit ein paar Privilegien auf, die ihm nützlich erschienen. So hatte er Zugang zu leer stehenden öffentlichen Gebäuden.
Die Aufgabe des Postboten nahm die meiste Zeit des Tages in Anspruch. Die wenigen Verwaltungsarbeiten in der Poststelle bewältigte Frerichs in ein bis zwei Stunden täglich. Als Hausmeister arbeitete Frerichs nur etwa zwei bis fünf Stunden in der Woche, je nachdem was gerade zu tun war.
Heute blieb zu seiner maßlosen Überraschung noch genügend Zeit Doc Bleeker aufzusuchen und sich die Wunden reinigen zu lassen.
Anschließend fuhr Frerichs zum Gelände des stillgelegten Bauhofs. Der gute Fokko hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er schloss die graue Stahltür des Gebäudes auf und ließ sie offenstehen, damit Licht ins Innere fiel. Elektrischen Strom gab hier keinen. Gut, das würde er ändern müssen. Es stank nach Verfall und Schimmel.
Onno atmete ganz flach und ging weiter in die benachbarte Maschinenhalle. Hier war es hell, denn das Licht fiel durch das gläserne Dach. Statt der üblichen Metallhaut verfügte das Dach über Doppelsteg-Platten. Für seine Zwecke war das ideal. Hier würden sie ihre neue Plantage einrichten.
Einhundert Quadratmeter Anbaufläche oder einhundert Pflanzen müssten doch genügen, um über den Winter zu kommen, oder?