Читать книгу Elektra - Theo Brohmer - Страница 13
ОглавлениеFeuchtes Grab
Nach der kleinen Auszeit bei Gretje setzte Frerichs seine Tour fort. Er hatte noch eine Menge Werbesendungen zu verteilen. Das meiste davon ging sowieso ungelesen in die Wertstofftonnen. Was für eine Verschwendung! Machte sich das denn niemand klar? Die Herstellung dieses Drecks kostete eine Unmenge an Rohstoffen und Energie. Außerdem war es eine bodenlose Sauerei, dass er den Mist auch noch verteilen musste!
»Komm Frerichs! Weg mit der miesen Laune!«, rief er sich selber zu. »Lass dir den Tag nicht verderben. Trag den Schrott aus. Dann is’ goot!«
Frerichs pfiff eine lustige Melodie, als er den Hof von Hilde Meents erreichte. Sämtliche Butzenscheiben des Fachwerkhauses waren dunkel. Das war ungewöhnlich. Hilde war eine echte Friesin. Hochbetagt endete ihre Nacht nie später als um sechs Uhr morgens. Nie hatte Frerichs sie krank oder gar mit schlechter Laune erlebt. Das unterschied sie deutlich von ihm selbst. Letzteres beschäftige ihn regelmäßig, montags und mittwochs. Das ging mit den Reklamesendungen einher.
Frerichs parkte sein Motorrad vor der Garage. Aus seiner Posttasche fischte er die Telefonrechnung, ein weiteres Kuvert und wandte sich zum Seiteneingang. Er betrachtete die ungelenken Buchstaben auf dem geblümten Umschlag. Vielleicht ein Geburtstagsgruß von der Enkelin? Aus der rechten Posttasche zog Frerichs noch eine Werbetüte hervor. Der Briefkasten war groß genug, um alle Post zu fassen. Obwohl keiner zu Hause zu sein schien, drückte Frerichs den Klingelknopf. Er war ein altmodischer Bote und überreichte die Post stets persönlich. Eine gewisse Fürsorgepflicht oblag ihm als Sheriff eben auch.
Zu Frerichs Verblüffung öffnete Hilde nicht. Frerichs klingelte nochmals. Wieder wartete er gut eine Minute. Die Zeit kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
»Hallo Hilde, ich bin es, Onno!« Frerichs legte ein Ohr an die Tür. Doch es drang kein Laut zu ihm.
Er lenkte seine Schritte zur Rückseite des Hauses. Er hoffte auf ein Fenster, durch das er ins Haus spähen könnte. Vielleicht war auch die Terrassentür offen? Frerichs würde das Haus einfach betreten und nachsehen, ob Hilfe von Nöten war.
Auf der Rückseite des Hauses kam er am beleuchteten Badezimmerfenster vorbei. Frerichs blieb überrascht stehen. Demnach war Hilde auf. Weshalb öffnete sie dann nicht? Er rief noch einmal. Doch sie antwortete nicht. Dafür vernahm er ein anderes Geräusch. Ein fernes Rauschen. Er trat näher ans Fenster, drückte seine Nase gegen die Scheibe. Doch durch das Riffelglas war nichts zu erkennen. Seine Neugierde wuchs mit jeder Sekunde. Frerichs klopfte gegen das Fenster. Wieder antwortete niemand.
Nun war er richtiggehend besorgt. Er umrundete das Haus schnellen Schrittes. Er würde sich Zutritt zum Haus verschaffen. Notfalls mit Gewalt!
Doch wo richtete er den geringsten Schaden an? Die Terrassentür war verschlossen. Wegen der großen Glasfläche zögerte Frerichs. Die kam nicht in Frage. Er ging weiter. Wenn sich alles als Missverständnis entpuppen sollte, würde er tief in seine private Tasche greifen müssen und das galt es zu vermeiden oder zu minimieren. Er nahm seinen Beruf ernst. Doch privates Geld war privates Geld!
Die Küchentür! Die Glasscheibe war entsprechend klein. Mit dem Ellenbogen ließ sie sich problemlos eindrücken. Das zerbrochene Glas protestierte nur mit einem leisen Klirren. Da die Nachbarschaft an die fünfhundert Meter entfernt wohnte, würde es niemand gehört haben.
Frerichs steckte eine Hand durch die Öffnung. Die Tür war verschlossen! Der Schlüssel steckte und einen Augenblick später sprang die Tür auf.
Frerichs betrat die Deele.
»Moin, moin, ich bin’s Onno«, rief er besorgt. Doch wieder blieb alles ruhig. Er blieb stehen, lauschte angestrengt. Außer dem Ticken einer antiken Standuhr, die er nicht sehen, dafür aber gut hören konnte, rührte sich nichts.
»Hilde?«, fragte Frerichs in die Stille hinein. »Wo bist du? Ist alles in Ordnung?«
Frerichs sah sich aufmerksam um. Doch es wirkte alles wie immer. Keine Unordnung. Von den Wänden her blickten ihn dutzendfach Hildes Familienmitglieder an. Gesichter, denen man ansah, dass sie nicht oft lachten. Frerichs erkannte Ubbo und Jibbe, Freunde aus Kindertagen, die ihre Arme um gut aussehende Frauen gelegt hatten. Eindeutig angeheiratet, dachte Frerichs bei ihrem Anblick. Keine einzige besaß rote Haare, wie es die Meents vererbten. Die Enkel grinsten ungeniert in die Kamera.
Frerichs nahm einen schwachen, undefinierbaren Geruch wahr. Entfernt erinnerte ihn dieser an seinen letzten Besuch im Auricher Hallenbad. Merkwürdig!
Als er auf seinem Rundgang den Wasserdampf bemerkte, der schwer wie Gewitterwolken in der Luft hing, wusste er plötzlich, dass etwas passiert sein musste. Jetzt war Eile geboten!
Da war das Geräusch wieder! Ein Rauschen, wie von einem Wasserfall! Am Ende des Flurs verharrte Frerichs kurz, um sich zu orientieren. Er entschied sich für links. Dort musste das Bad liegen.
Doch es war die Küche, die er zuerst erreichte. Hier war der eigentümliche Geruch stärker. Dicker Wasserdampf hing in der Luft. Sämtliche Oberflächen der Teller und Töpfe waren benetzt.
Frerichs wischte sich die klammen Hände an der Hose ab. »Hilde?«, rief Frerichs laut. Er wandte sich um, folgte dem Rauschen, rannte in diese Richtung. Bingo! Hier war der Dunst am stärksten!
In seinen Ohren der Klang vom Rauschen seines Blutes. Darin eingebettet ein Crescendo jaulender Geigen.
Frerichs drückte die angelehnte Tür auf. In dicken Tropfen perlte das Wasser vom Lack ab. Der Dunst schlug ihm ins Gesicht, machte das Atmen schwer. Panisch irrte sein Blick umher. Kaum ein klar erkennbares Detail.
Die Geigen verstummten. Onno taumelte rückwärts. Seine Finger rutschten nach Halt suchend von den nassen Fliesen ab. Er schlug lang hin, prellte sich den Ellenbogen. »Oh, mein Gott, Hilde!« Kraftlos sank er in sich zusammen.
War es der Anblick des Blutes, der ihn fesselte? Dazu der nackte Körper. »Oh, mein Gott.«
Sein Magen verkrampfte sich als ihm bewusst wurde, auf wessen Körper er die ganze Zeit starrte. Er spürte wie Magensäure in seiner Speiseröhre aufstieg. Frerichs nestelte am Klodeckel herum, versuchte, den Deckel aufzuklappen.
Doch seine Finger rutschten immer wieder ab. Die Feuchtigkeit im Raum hatte das Holz schlüpfrig werden lassen. Endlich gelang es ihm und er hob den Klodeckel im letzten Moment auf.
Er übergab sich in die Keramik, bis der Magen leer war. Frerichs wusch sich am Waschbecken kurz das Gesicht und spülte den Mund aus. Abscheulich dieser Geschmack. Die tote Frau starrte ihn mit gebrochenem Blick an. Aus einer Kopfwunde sickerte Blut.
Er drehte das Wasser aus und öffnete das Fenster. Anschließend hockte er sich vor die Tote und schloss ihr die Augen. »Was hast du gemacht, Hilde?« Man stirbt doch nicht unter der Dusche, oder?
Mit bebenden Fingern zog er sein Handy aus der Tasche. Onno hatte Mühe die richtige Nummer zu finden, weil sein Gesichtsfeld verschwamm. Endlich fand er Bleekers Nummer. Der Daumen traf die grüne Taste auf Anhieb. Der Anruf ging raus. Als sich der Mediziner mit barscher Stimme meldete, nannte Frerichs die Adresse und bat ihn um Beeilung. Dann unterbrach er die Verbindung.
Statt das Mobiltelefon in die Tasche zu stecken, scrollte er im Menü herunter und wählte eine zweite Nummer.
»Wo bist du?«, fragte er ohne Begrüßung. Dann lauschte er.
»Ich habe eine traurige Nachricht für dich. Hilde ist tot! Ich habe sie unter der Dusche gefunden.«
Es war ein schweigsames Mahl, das die Geschwister Frerichs am Abend vertilgten, bis Anna den Blick plötzlich auf ihren Bruder richtete.
Es dauerte eine geraume Ewigkeit, ehe Frerichs aufsah. Er lächelte scheu und Anna antwortete in derselben Weise.
»Du musst nach ihm suchen«, sagte sie.
»Nach wem?«
»Hilde wurde ermordet. Ich spüre es ganz deutlich!« Frerichs klappte die Kinnlade herunter. »Ermordet, wieso?«
Anna schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Wir brauchen Beweise. Du musst noch einmal in ihr Haus. Noch heute Abend!«