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Karwe

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»Vivat et crescat gens Knesebeckiana in aeternum.«

I

Unser Weg führt uns heute nach Karwe. Es liegt am Ostufer des Ruppiner Sees, und ein Wustrauer Fischer fährt uns in einer halben Stunde hinüber. Ein besonderer Schmuck des Sees an dieser Stelle ist sein dichter Schilfgürtel, der namentlich in Front des Karwer Parkes wie ein Wasserwald sich hinzieht und wohl mehrfach eine Breite von hundert Fuß und darüber haben mag. An dieses Schilfufer knüpft sich eine Geschichte, die uns am besten in das starke und frische Leben einführt, das hier ein halb Jahrhundert lang zu Hause war und von dem ich Gelegenheit haben werde manchen hübschen Zug zu erzählen.

Es war im Jahre 1785. Der Sohn des alten Zieten auf Wustrau war Cornet im Leibhusarenregiment seines Vaters, und der Sohn des alten Knesebeck auf Karwe war Junker im Infanterieregiment von Kalckstein, das damals in Magdeburg stand. Der Zufall wollte, daß beide zu gleicher Zeit Urlaub nahmen und auf Besuch nach Haus kamen. Die beiden Nachbarfamilien lebten auf dem besten Fuß miteinander, und auch die jungen Leute unterhielten einen freundschaftlichen Verkehr. Man sah sich oft und machte gemeinschaftliche Partien. Es war im August, See und Himmel blauten, und der Schilfwald, der sich im Wasser spiegelte, stieg wie eine grüne Mauer aus dem Grunde des Sees auf. An solchem Tage begegneten sich Junker und Cornet am Ufer, plauderten hin und her von der Strenge des Dienstes und von der Lust des Krieges und kamen endlich überein, in Ermangelung wirklichen Kampfes, zwischen Karwe und Wustrau eine Seeschlacht aufzuführen. Man machte auch gleich den Plan. Die Knesebeckschen sollten von Karwe her heftig angreifen und die Zietenschen bis nach Wustrau hin zurückdrängen, dann aber sollten diese sich rekolligieren und die Knesebeckschen in ihren Schilfwald zurückwerfen. So war es beschlossen. Man schied mit herzlichem Händeschütteln und freute sich auf den andern Tag. Die Eltern nahmen Anteil, und beide Dörfer gerieten in Aufregung. Nach Ruppin hin ergingen Einladungen an befreundete Offiziere, Pulver wurde beschafft und während Cornet und Junker ihre Dispositionen trafen, verwandelten sich die Herrenhäuser von Karwe und Wustrau in Kriegslaboratorien, drin allerhand Feuerwerk, Schwärmer, Raketen und Feuerräder in möglichster Eile hergestellt wurden. So kam der ersehnte Abend. Mit dem Glockenschlage neun liefen beide Flotten aus, jede sechs Kähne stark, das Admiralboot vorauf. Als man aneinander war, begann die Schwärmerkanonade, vom Ufer her scholl der Jubel einer dichtgedrängten Menschenmenge, und als ein pot à feu seine Leuchtkugeln in die Luft warf, zogen sich verabredetermaßen die Zietenschen nach Wustrau hin zurück. Aber nur auf kurze Distance. Eh sie noch in die Nähe des Hafens gekommen waren, wandten sie sich wieder, und drei große Raketen fast horizontal über das Wasser hinschießend, gingen sie jetzt ihrerseits mit verdoppeltem Ruderschlag zur Attaque über. Die Karweschen hielten einen Augenblick stand, aber nicht lange, dann begann ihre Retraite. Die Wustrauschen setzten nach und waren eben auf dem Punkt die Fliehenden bis in das dichte Schilf hinein zu verfolgen, als ein lautes, staunendes Ah, das vom Ufer her herüberklang, die Verfolgenden stutzen ließ und ihre Blicke nach rückwärts lenkte. Die Sieger waren gefangen. Im Karweschen Schilf hatte sich eine Flottille versteckt gehalten, die der Junker vom Regimente von Kalckstein als Mietstruppe für diesen Tag angeworben und von seinem Taschengelde bezahlt hatte. Es waren Fischerboote von Alten-Friesack her, vierundzwanzig an der Zahl, jedes mit einer Laterne hoch am Mast. In langer Linie kamen sie aus dem Schilf hervor und legten sich quer vor. Das Laternenlicht war hell genug, die Fischergestalten zu zeigen, wie sie da standen mit vorgehaltenem Ruder, bereit, jeden Fluchtversuch zu vereiteln. Die Wustrauschen machten gute Miene zum bösen Spiel und sprangen lachend ans Ufer. Nie wurden Gefangene schmeichelhafter begrüßt. Als sie in den Karweschen Park traten, sahen sie dicht vor dem Herrenhause eine Ehrenpforte errichtet, an deren Spitze das von Lichtern umgebene Bild des alten Zieten leuchtete, darunter die Unterschrift: »Voilà notre modèle.« Am andern Tage erhielt der Junker von dem Knesebeck eine Einladung nach Wustrau. Der alte sechsundachtzigjährige Zieten, der gemeinhin einen grauleinenen Kittel trug, saß heut in voller Uniform auf seinem Lehnstuhle und rief den eintretenden Junker zu sich heran: »Komm her, mein Sohn, und küsse mich. Werde so ein braver Mann wie dein Vater.« Knesebeck trat heran und bückte sich, um dem Alten die Hand zu küssen. Dieser aber legte beide Hände auf den Kopf des Junkers und sprach bewegt: »Gott segne dich!«

Das ist die Geschichte von der Seeschlacht bei Karwe; sie kann es aufnehmen mit manchem großen Sieg. Wer aber am Ruppiner See zu Haus ist, den freut es zu sehen, was auf seinem schmalen Uferstreifen an Männern gewachsen ist.

Auch wir kommen heute von Wustrau – minder rasch, aber sicherer als damals der Cornet von Zieten – und nähern uns, ohne unsere Rückzugslinie gefährdet zu sehen, auf einer der vielen durch den Schilfwald sich hinziehenden Straßen dem Holzsteg, an dem die Boote anzulegen pflegen. Und nun springen wir ans Ufer und befinden uns in dem Park von Karwe. Er ist ziemlich groß angelegt, mit vielem Geschmack in einem einfach edlen Stile, das Ganze vorwiegend eine Schöpfung unseres »Junkers vom Regiment von Kalckstein«, des am 12. Januar 1848 verstorbenen Feldmarschalls von dem Knesebeck. Dieser ausgezeichnete Mann wird überhaupt den Mittelpunkt alles dessen bilden, was ich in weiterem zu erzählen habe, da er, wie der Hauptträger des Ruhmes der Familie, so auch zugleich derjenige ist, der am segensreichsten an dieser Stelle gewirkt und den toten Dingen entweder den Stempel seines Geistes aufgedrückt oder ihnen durch irgendeine Beziehung zu seiner Person zu einem poetischen Leben verholfen hat.

Wir haben den Park seiner Länge nach passiert und stehen jetzt vor dem Herrenhause. Es ist einer jener Flügelbauten, wie sie dem vorigen Jahrhundert eigentümlich waren, und erinnert in Form und Farbenton an das Radziwillsche Palais in Berlin. Nur ist es kleiner und ärmer an Rokokoschmuck. Auch das Eisengitter fehlt. Eine hohe Pfauenstange mit einem Pfauhahn darauf überragt vom Wirtschaftshofe her das Dach, und der vorgelegene Grasplatz steht in Blumen; aber trotz dieser Farbenpracht macht alles einen ernsten und beinah düstern Eindruck und läßt uns auch ohne praktische Probe glauben, daß das Karwer Herrenhaus ein Spukhaus sei.

Karwe gehört den Knesebecks in der vierten Generation. Der Urgroßvater des jetzigen Besitzers kaufte es im Jahre 1721 von dem Vermögen seiner Frau und errichtete das Wohnhaus, das wir, wenn auch verändert und erweitert, auch jetzt noch vor uns sehen. Die Umstände, die diesen Kauf und Bau begleiteten, sind zu eigentümlicher Art, um hier nicht erzählt zu werden. Der Urgroßvater Karl Christoph Johann von dem Knesebeck, zu Wittingen im Hannoverschen geboren, trat früh in preußische Kriegsdienste. Er war ein großer, starker und stattlicher Mann, aber arm. Die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. indes war just die Zeit, wo das Verdienst des Großseins die Schuld des Armseins in Balance zu bringen wußte und gemeinhin noch einen Überschuß ergab. Karl Christoph Johann war sehr groß, und so erfolgte denn eine Cabinetsordre, worin die reiche Witwe des Generaladjutanten von Köppen, eine geborne von Bredow, angewiesen wurde, den Oberstlieutenant von dem Knesebeck zu ehelichen. Die Hochzeit erfolgte, und Karwe wurde, wie schon erwähnt, erstanden. Aber die Huldbeweise gegen den stattlichen Oberstlieutenant hatten hiermit ihr Ende noch nicht erreicht. Im Kopfe des Königs mochte die Vorstellung lebendig werden, daß die reiche Witwe bis dahin eigentlich alles und die Gnade Seiner Majestät nur erst sehr wenig getan habe, und so versprach er denn dem jungen Paare, das neue Wohnhaus in Karwe einrichten und sogar zum Aufbau desselben die Balken und den Kalk liefern zu wollen. Und wirklich, bald stand das Haus da, und die zugesagte Möblierung erfolgte mit einer Munifizenz, die bei dem sparsam gewöhnten Könige überraschen mußte. Selbst königliche Familienportraits, zum Teil von der Meisterhand Pesnes, wurden geliefert und in einem Empfangssaale des ersten Stocks in das Mauerwerk fest eingefügt. Wir werden gleich sehen, wie wichtig es für den neuen Besitzer von Karwe war, diese stattliche Bilderreihe nicht aufgehängt, sondern eingemauert zu haben. Denn kaum noch, daß einige Monate ins Land gegangen waren, als ein großer Planwagen vor dem Knesebeckschen Hause vorfuhr und den Befehl überbrachte, das durch königliche Munifizenz erhaltene Ameublement wieder zurückzuliefern. Es waren nicht die Zeiten, um solcher Ordre nicht sofort zu gehorchen, und so versanken denn sämtliche Spiegel, Kommoden und Tische, die der gebornen von Bredow bereits lieb und teuer geworden waren, in die Heu- und Strohbündel des draußen harrenden Wagens. Was zu dieser Ordre geführt, ob einfach Laune oder aber die ökonomische Erwägung, »daß der von Knesebeck au fond reich genug sei, um nunmehro sich auch ohne geschenkte königliche Möbel behelfen zu können«, ist nie bekannt geworden. Der Planwagen fuhr ab und ließ nichts zurück als die eingemauerten Bilder und einen alten Eichentisch, den sehr wahrscheinlich seine Unscheinbarkeit gerettet hatte.

Wir treten nun in das Haus selber ein. Das erste Zimmer mit der Aussicht auf den Park ist das Bibliothekzimmer. Auf schlichten Regalen stehen schlichte Einbände, keine Goldschnittsliteratur zum Ansehen, sondern Bücher zum Lesen, »Krieger für den Werkeltag«. Es sind Bücher und Broschüren, die der alte Feldmarschall in seinem achtzigjährigen Leben gesammelt hat und über deren Inhalt und Richtung seine eigenen Worte Auskunft geben mögen: »Mit meinen Studien in Geschichte, Philosophie und schönen Wissenschaften ging es besser; sie interessierten mich über alles, besonders Geschichte und Lebensbeschreibungen, zu denen auch bis ins späte Alter mir die Neigung geblieben ist.« Die poetische Grundanlage des alten Herrn spricht sich in diesen Worten aus; hätte es je eine schaffende dichterische Natur gegeben, der nicht Biographien und Memoiren die liebste Lektüre gewesen wären!

Aus dem Bibliothekzimmer tritt man in das dahinter gelegene Empfangs- und Familienzimmer. Es ist groß und geräumig und macht vor allem den Eindruck behaglichen Geborgenseins. An Bildern weist es nichts von besonderem Interesse auf, außer einer Ansicht von dem in der Nähe von Salzwedel gelegenen Schloß Tylsen, dem alten Familiensitze der Knesebecks. Die eigentliche Sehenswürdigkeit dieses Zimmers ist jener alte Eichentisch, der der Versenkung in den Planwagen glücklich entging. Und doch war dies schlichte Wirtschaftsstück das eigentlichste Wertstück des Ameublements, wenn auch damals nicht, so doch jetzt. Dieser Tisch nämlich bildete seinerzeit einen Teil der langen Tafel, an der die Sitzungen des Tabakskollegiums gehalten wurden. Es existieren solcher Tische nur noch zwei, dieser Knesebecksche in Karwe und ein Zwillingsbruder desselben in Potsdam. Eine Decke von braunem schweren Seidenzeug verhüllt wie billig die eichene Derbheit dieses nicht salonfähigen Möbels, dessen Konstruktion ganz eigentümlicher Art ist. Die Platte besteht aus zwei abgestutzten Dreiecken und ruht auf sechs Füßen, die wiederum ihrerseits zwei Dreiecke bilden. Verbindungshölzer und Eisenkrampen halten das Ganze zusammen und stellen einen Bau her, der allen Anspruch darauf hatte, nicht beachtet zu werden, als die Trumeaux hinausgetragen wurden.

Links neben dem Empfangssaale befindet sich das Arbeitszimmer des gegenwärtigen Besitzers. Es ist sehr klein, etwas geräuschvoll gelegen und selbst zur Nachtzeit ohne wünschenswerte Ruhe. Die »Dame im schwarzen Seidenkleid« nämlich, als welche der Karwer Spuk auftritt, beginnt von hier aus ihren Rundgang, und wer mag ruhig und gemütlich ein Buch lesen, wenn er fürchten muß, die Schwarze Frau steht hinter ihm und liest mit, wie zwei Leute, die aus einem Gesangbuch singen.

Über dem Schreibpult im selben Zimmer hängt ein sehr gutes Crayonportrait des Feldmarschalls, und auf einem Tischchen daneben steht ein porzellanenes Schreibzeug mit einer Rosenguirlande, ein Geschenk vom alten Gleim, der dem Feldmarschall in seinen Halberstädter Lieutenantstagen nah befreundet war.

Zur Rechten des Empfangszimmers ist der Speisesaal. Hier befinden sich neben anderen Schildereien vier Familienportraits: zunächst der Ahnherr des Hauses, einem Grabsteinrelief nachgebildet, das sich in der Kirche zu Hannoverisch-Wittingen bis diesen Tag erhalten hat. Unmittelbar darunter hängen die Bilder des Urgroßvaters und Großvaters des jetzigen Besitzers, von denen wir den ersteren als stattlichen und reich verheirateten Oberstlieutenant bei der Garde, den andern als Vater des Junkers vom Regiment von Kalckstein bereits kennengelernt haben. Er wurde bei Kolin durch Arm und Leib geschossen und war der, auf den der alte Zieten die schon vorzitierten Worte bezog: »Gott segne dich, und werde so brav wie dein Vater.« Unter diesen beiden Portraits hängt das vortrefflich ausgeführte Ölbild des Feldmarschalls von dem Knesebeck, damals (unmittelbar nach dem Befreiungskriege) noch Generallieutenant in der Okkupationsarmee. Das Portrait zeigt in seiner linken Ecke den Namen: »Steuben; Paris, 1814«, kurze Worte, die genugsam für den Wert des Bildes sprechen.

Aus dem Speisesaale treten wir in das angrenzende Wohnzimmer, wo, über dem Schreibtisch der Dame vom Hause, eine Kopie des Correggioschen Christuskopfes auf dem Schweißtuche der heiligen Veronika unsere Aufmerksamkeit fesselt. Das Original bildet jetzt, wenn nicht neuerdings wiederum Änderungen stattgefunden haben, eine Zierde unseres Berliner Museums. Früher hing es im Wohnzimmer zu Karwe, an derselben Stelle, die sich jetzt mit der bloßen Kopie behelfen muß. Interessant ist es, wie das Original in den Besitz der Familie kam. Der Feldmarschall bereiste, wahrscheinlich 1819, Italien und kam nach Rom. Kurz vor seiner Rückreise wurd ihm von einem Trödler ein Christuskopf zum Verkauf angeboten, dessen hohe Schönheit auch seinem Laienauge auf der Stelle einleuchtete. Er kaufte das Bild für eine ansehnliche Summe. Kaum aber war er im Besitz desselben, als sich das Gerücht verbreitete, eins der italienischen Klöster sei beraubt worden – der Correggio'sche Christuskopf auf dem Schweißtuche der heiligen Veronika sei fort. Der nächste Tag brachte die amtliche Bestätigung, und Belohnungen wurden ausgesetzt für die Wiederbeschaffung und selbst für den Nachweis des berühmten Gemäldes. Knesebeck begriff die Gefahr und traf seine Vorkehrungen. Das Bild ward in ein Wagenkissen eingenäht, und der glückliche Besitzer, der bis dahin kaum selber gewußt haben mochte, was er besaß, nahm auf seinem neuen Schatze Platz und brachte so sein schönes Eigentum glücklich über die Alpen. Ich kann nicht sagen, wie lange das Bild in Karwe blieb, mutmaßlich nur kurze Zeit. Jedenfalls nahm das Haus Knesebeck, das zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von den Hohenzollern ein halbes Dutzend Familienportraits geschenkt erhalten hatte, zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Veranlassung, den Hohenzollern ein Gegengeschenk zu machen, und warf (in aller Loyalität sei es gesagt) einen Correggioschen Christuskopf gegen sechs Pesnesche Kurfürsten unzweifelhaft siegreich in die Waage. Friedrich Wilhelm III. akzeptierte in Gnaden das Geschenk und willigte gern in Erfüllung des einen Wunsches, den Knesebeck bei Überreichung des Bildes geäußert hatte, »daß dasselbe nämlich unwandelbar in der königlichen Hauskapelle verbleiben möge.« Diese Zubewilligung ist indessen im Laufe der Zeit entweder vergessen oder aber aus einem Humanitätsgefühle der Hohenzollern, »die nichts Schönes für sich allein haben wollen«, absichtlich geändert worden. Das Bild gehört nicht mehr der Hauskapelle, sondern dem Bildermuseum an. Nur bei Gelegenheit der Taufe des jungen Prinzen Friedrich Wilhelm, dessen Geburt im Januar 1859 alle loyalen Herzen in Stadt und Land mit Freudigkeit erfüllte, kam auch der Correggio wenigstens vorübergehend wieder zu seinem zugesagten Recht und wanderte auf vierundzwanzig Stunden aus den Museumssälen in den prächtigen Kuppelbau der Schloßkapelle hinüber.

Wir machen von den Zimmern des Erdgeschosses aus noch einen Rundgang durch die Räume des oberen Stockwerkes, inspizieren im Hof den historischen alten Kaleschwagen, in dem 1812 der damalige Oberst von Knesebeck die berühmte Reise nach Petersburg antrat, um dem Kaiser Alexander zuzurufen: »Krieg und wieder Krieg! Die Quadratmeilen Rußlands sind die Rettung Europas« – und kehren dann in das Empfangs- und Familienzimmer zurück, dessen bequeme Polsterstühle zu einer kurzen Rast einladen. In diesem Zimmer pflegte Knesebeck auch in seinen alten Tagen noch, die Hände auf dem Rücken und den kurzen Sammetrock durch eine Schnur zusammengehalten, mit großen Schritten auf und ab zu gehn. Hier war die Arbeitsstätte seiner Gedanken, hier, wo er im besten Mannesalter sein Gehirn zersonnen hatte, wie Rettung zu schaffen und dem Feinde seines Landes, zugleich dem Feinde alles echten Lebens, siegreich beizukommen sei. Und hier fand er es. Hören wir, was er selber darüber schreibt: »Die Karte von Rußland kam nicht von meinem Pult. Ich sah die unermeßliche Fläche, berechnete die möglichen Märsche des Eroberers, und siehe da, die beiden großen Alliierten Rußlands: der Raum und die Zeit, traten mit einer Lebendigkeit vor meine Seele, die mir keine Ruhe mehr ließ. Zur Gewißheit wurd es mir: so ist er zu besiegen, und so muß er besiegt werden.«

Wir alle wissen jetzt, wie praktisch-richtig das poetisch Geschaute jener nächtlichen Stunden gewesen ist. Das glänzendste Zeugnis aber stellt unserem Knesebeck Napoleon selber aus. Dieser hatte den Knesebeckschen Plan gekannt, aber ignoriert. Im Frühjahr 1813 fand folgende Unterhaltung zwischen ihm und dem bis dahin am preußischen Hofe beglaubigten Grafen von St. Marsan statt. Napoleon: »Erinnern Sie sich noch eines Berichtes, den Sie mir im Jahre 1812 von einem gewissen Herrn von Knesebeck geschickt haben?« St. Marsan: »Ja, Ew. Majestät.« Napoleon: »Glauben Sie, daß er im gegenwärtigen Kriege mitfechten wird?« St. Marsan: »Allerdings glaub ich das.« Napoleon: »Der Mensch hat richtig vorausgesehen, und man darf ihn nicht aus dem Auge verlieren.«

Das war im Frühjahr 1813. Andere Zeiten kamen, der sechsundvierzigjährige Oberst von dem Knesebeck war ein Siebziger geworden, und statt der Karte von Rußland und vorausberechneter Schlachten und Märsche lagen jetzt die Memoiren derer auf dem Tisch, die damals mit ihm und gegen ihn die Schlachten jener Zeit geschlagen hatten. Nach einer Epoche reichen und tatkräftigen Lebens war auch für ihn die Zeit philosophischer Betrachtung gekommen. Die Lieutenantstage von Halberstadt wurden ihm wieder teuer, das Bild des alten Gleim trat wieder freundlich vor ihn hin, und der Mann, der zeitlebens wie ein Poet gedacht und gefühlt hatte, fing als Greis an, auch jenem letzten zuzustreben, das den Dichter macht – der Form. Ähnlich wie Wilhelm von Humboldt in Tegel, saß der alte Knesebeck auf seinem väterlichen Karwe und beschloß ein bedeutendes und ereignisreiches Leben mit dem Konzipieren und Niederschreiben von Sinn- und Lehrgedichten, von Episteln und Epigrammen.

Sprecht mir doch nur immer nicht:

»Für die Nachwelt mußt du schreiben«;

Nein, das laß ich weislich bleiben,

Denn es lohnt der Mühe nicht!

Was die alte Klatsche spricht,

Die ihr tituliert Geschichte,

Bleibt, besehn beim rechten Lichte,

Doch nur Fabel und Gedicht,

Höchstens ein Parteigericht.

Das klingt hart, aber wenn irgendwer kompetent war, so war er es. Es nimmt der Wahrheit seines Ausspruches nichts, daß eine leise Bitterkeit seine Sentenzen gelegentlich färbte:

Wie du gelebt so geh zu Grabe,

Still, prunklos, wenig nur gekannt.

Was du für Welt, für Vaterland,

Für andere hier getan, sei stumme Gabe –

Des Gebers Name werde nie genannt.

So schrieb er am Abend seines Lebens.

Bis tief in die Nacht hinein saß er an seinem Pult. Die Schwarze Frau kam und ging, aber das Knistern ihrer Seide störte ihn nicht; er, der dem großen Gespenst des Jahrhunderts mit siegreichem Gedanken entgegengetreten war, war schußfest gegen die Geister.

Ein Jahr vor seinem Tode ward er Feldmarschall. Drei Jahre früher war ihm ein erster Enkel geboren worden, zu dessen Taufe der König versprochen hatte, nach Karwe zu kommen. Er kam nicht, aber statt seiner traf ein Entschuldigungsbrief ein, dessen Namenszug mit Hülfe eines angehängten Schnörkels in ein Wickelkind auslief. Vor diesem Wickelkind, das natürlich den kleinen Knesebeck repräsentieren sollte, stand der König selbst (ein wohlgelungenes Portrait von königlicher Hand) und machte dem Täufling seine Verbeugung. Darunter die Worte: »Vivat et crescat gens Knesebeckiana in aeternum.«

Wir verließen das Empfangszimmer und traten wieder in den Park. An einer der schönsten Stellen desselben hatte uns die Gärtnersfrau ein Nachmittagsmahl serviert: saure Milch mit einer überaus einladenden, chamoisfarbenen Sahnenschicht. Um uns her standen einundzwanzig Edeltannen und neigten sich gravitätisch in dem Winde, der ging. Diese einundzwanzig Tannen pflanzte der alte Feldmarschall im Sommer 1821, als die Nachricht nach Karwe kam, daß Napoleon am 5. Mai auf St. Helena gestorben sei. Auch dies Datum schuf noch eine letzte Berührung zwischen den alten Gegnern; der 5. Mai war der Geburtstag Knesebecks, wie er der Todestag Napoleons war.

Unter den Papieren des Feldmarschalls aber fanden sich bei seinem im Januar 1848 erfolgten Hinscheiden nachstehende Zeilen, die der Ausdruck seines Lebens und vielleicht ein treffendes Motto märkischen Adels sind:

Mit dem Schwerte sei dem Feind gewehrt,

Mit dem Pflug der Erde Frucht gemehrt;

Frei im Walde grüne seine Lust,

Schlichte Ehre wohn in treuer Brust.

Das Geschwätz der Städte soll er fliehn,

Ohne Not von seinem Herd nicht ziehn,

So gedeiht sein wachsendes Geschlecht,

Das ist Adels Sitt' und altes Recht.

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