Читать книгу Schnaps und Rosen - Theodor Kallifatides - Страница 7
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ОглавлениеAls ich in das Schlafzimmer kam, fand ich Bella genauso, wie ich es vorausgesehen hatte: im Bett liegend, das lange, goldbraune Haar über das weiße Kissen gebreitet, das ihr Gesicht schwach von unten anstrahlte und ihm eine neue Dimension verlieh. Die Dimension des Lichts, die Bella normalerweise durch ihre ungewöhnlich dunklen Augen bekam, die so dunkel waren, daß das Weiße darin unwirklich erschien.
Sie las einen neuen Roman von Fay Weldon, «Praxis». Sie schien ganz darin versunken zu sein, und ich sagte nichts. Ich legte mich neben sie, die Arme verschränkt, und dachte an die heroischen Jahre zwischen 68 und 70, als wir auf der Universität den Begriff «Praxis» beim jungen und beim älteren Marx diskutierten.
Da ist nicht mehr viel geblieben von all diesen Jahren. Das meiste ist in der Alltagsroutine aufgegangen, aber eines haben wir gelernt: offen zu reden. Sowohl Männer wie Frauen lernten in diesen Jahren, offen zu reden, und daran hatten wir einen verzweifelten Bedarf.
Ab und zu warf ich einen kurzen Blick auf Bella, in der Hoffnung, sie würde auf irgendeine Weise kundtun, daß meine neben ihr liegende Existenz in ihr Bewußtsein gedrungen war. Aber Bella las ungerührt mit ihren großen, dunklen Augen, die vor Konzentration glänzten.
Schließlich wandte ich ihr den Rücken zu und versuchte einzuschlafen. Sobald ich ihr den Rücken zugewandt hatte, löschte sie das Licht, und bereits nach ein paar Minuten hatte sie alle Stufen vom Einschlafen bis zum Tiefschlaf mit kleinen Grunzlauten und lustvollen Schnarchlauten durchlaufen. Ich konnte nicht einschlafen. Teils wegen der noch anhaltenden Erregung durch unsere Küsse und teils wegen einer unbestimmten Unruhe. Ich hatte das Gefühl, daß ich bereits auf dem Weg zu meinem Vater hätte sein sollen. Ich stieg aus dem Bett und ging in die Küche, wo ich mir einen großen Whisky einschenkte und mich mit einer Zigarette hinsetzte.
Aber ich stand abrupt wieder auf, ließ die Zigarette liegen und ging mit dem Glas in der Hand hinauf ins Obergeschoß, wo Vittorio sein Schlafzimmer hatte. Die Tür stand halb offen, und im vom Flur hereinfallenden Licht konnte ich ihn betrachten, wie er im Schlaf den Daumen im Mund hatte, umgeben von elf Schlümpfen, von denen die meisten während der Werkstunden in der Schule selbst produziert worden waren.
Er bastelte immer Schlümpfe, und er behandelte sie mit großer Vorsicht und gab ihnen Namen und Eigenschaften, und vor allem hatte jeder Schlumpf einen Platz in Vittorios Fußballmannschaft. Sein absoluter Favorit war ein ziemlich kleines, unförmiges Individuum, das einem Hund ähnelte und den Torwart spielte.
Eine Weile starrte ich Vittorio an, ohne an etwas zu denken. Er schlief ganz friedlich, atmete aber immer noch schwer. Wenn er da so schutzlos lag, mochte ich ihn, und ich mußte mich zusammennehmen, ihn nicht zu streicheln. Denn er hatte einen zu leichten Schlaf, und das war die Eigenschaft, die mich mehr oder weniger überzeugte, daß er mein eigen Fleisch und Blut war.
Ich habe auch einen sehr leichten Schlaf. Ein Schmetterling kann mich wecken, ein Lichtstreif kann mich wecken, und genauso leicht, wie ich geweckt werden kann, genauso schwer fällt es mir einzuschlafen. Ich erinnere mich nie an das Einschlafen, aber es kann sein, daß mir mein Gedächtnis hier einen Streich spielt.
Vittorio kann auch nicht einschlafen. Wird er einmal geweckt, bleibt er wach. Es passiert oft, daß wir ihn mitten in der Nacht in seinem Zimmer herumtappen hören, und manchmal kommt er zu uns herunter und legt sich zwischen Bella und mich, obwohl er selten irgendwelche ödipalen Beschwerden zeigt. Er mag nur zufällig Bella mehr als mich, und das beruht nicht nur darauf, daß ich sein Vater bin.
Irgend etwas gibt es an mir, das er nicht ausstehen kann. Ich weiß nicht was.
Schließlich gab ich meinem Impuls, ihn berühren zu wollen, nach und legte ganz vorsichtig meine Hand auf seine schwarzen Locken. Er wurde nicht wach, öffnete aber im Schlaf die Augen und sah mich mit dem gleichen wäßrigen und abwesenden Blick an wie damals, als er aus dem Schoße seiner Mutter kam.
Ich ging hinunter zu meiner Zigarette, die inzwischen ausgegangen war. Ich zündete mir eine neue an und nahm mir vor, ganz bewußt an meinen Vater zu denken, schaffte es aber nicht. Er zerlief ebenso wie nasser Schnee, der sich auflöst, sobald er die Erde berührt.
Ich hatte das unklare Gefühl, als sei ich zu falscher Zeit am falschen Ort. Ich müßte woanders sein, aber wo? Bei meinem sterbenden Vater? Lag er im Sterben?
Dann mußte ich an andere Dinge denken. Es schneite immer noch, und ich sah einen Fuchs relativ sorglos über das Grundstück laufen und in der schneehellen Dunkelheit verschwinden.
Ich trank meinen Whisky, drückte die Zigarette aus und legte mich wieder neben Bella. Sie erwachte nicht. Sie wacht praktisch nie auf. Das ist gut zu wissen – manchmal.
Lange lag ich still. Schließlich schlief ich ebenso still ein.
Ich war nicht vorbereitet auf den Traum, der meinen Schlaf heimsuchte. Ich verlebte einen langen und langsamen Nachmittag, und es war schätzungsweise ein Sonntag. Ort: Petersburg, inzwischen Leningrad, aber im Traum das alte Petersburg, das ich nie gesehen hatte. Auch Leningrad habe ich nie gesehen.
Das Eindrucksvollste war die Leichtigkeit. Alles war leicht, es war, als bewegte man sich in einem Vakuum. Ich schlenderte am Nevskij Prospekt entlang, die Menschen waren gekleidet wie zur Zeit von Dostojewski, und der Fluß war im unbarmherzigen Winter zu Eis erstarrt – wie es die russischen Klassiker beschreiben.
Vereinzelte Paare fuhren auf der gefrorenen Eisfläche des Flusses Schlittschuh in langen, weiten Kurven. Eine Großfürstin fuhr in einem Vierspänner vorüber. Hinter mir befanden sich keine Menschen.
Alle Menschen standen vor mir oder gingen mir entgegen. Ich hatte keine Angst. Ich war nur ein bißchen verwirrt. Von wo kam ich? Und warum kam hinter mir niemand mehr?
Mir fiel eine junge Frau auf, deren Gesicht mir bekannt vorkam und die ich allmählich wiedererkannte als die Frau eines bekannten Juristen, der im Traum allerdings Jude war. Aus welchem Grunde, weiß ich nicht.
Sie kam auf mich zu und fragte mich, ob ich mit ihr Schlittschuh fahren wolle. Ich antwortete, daß ich nicht Schlittschuh fahren könne, es nie gekonnt habe, ja es sogar verabscheute, Schlittschuh zu fahren, und ich war dabei, geschwätzig und einfältig zu werden, als die junge Frau lachte und ausrief:
«Aber Sie fahren ja wunderbar!»
Tatsächlich fuhren wir auf der zugefrorenen Neva Schlittschuh, was leider vor den hohen Mauern des Kreml zu Ende war, und ich war nicht einmal darüber erstaunt, sondern wandte mich an die junge Frau und flüsterte höflich:
«Ich liebe Sie!»
Die junge Frau verlor nicht die Fassung, sondern streichelte mir mit ihrer behandschuhten Hand über die Wange, lachte mich an und meinte herausfordernd:
«Beweisen Sie es!»
Auf diesen koketten Vorschlag reagierte ich nicht. Dafür zog ich ein paar verwegene Kurven und begann dann, die Kremlmauer hinaufzuklettern, die sich jedoch als sehr glatt erwies, und ich stürzte ab.
Ich erwachte und schlief nicht wieder ein. Draußen schneite es nach wie vor. Ich blieb im Bett liegen und wartete, bis es hell werden würde.