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Welche Bewandtnis es mit den beiden Londoner Kaufleuten Wildhall hatte und wie sich dieselben vertrugen.


n London lebten in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zwei Männer, welche leider, wie es übrigens allenthalben gar vielen Männern begegnet, keinen historischen Ruf erlangt haben, die aber gleichwohl eines solchen nicht ganz unwürdig wären, denn sie haben, wenn auch unwillkürlich, den Anlass zu einer Erfindung gegeben, der man wohl eine welthistorische Bedeutung ebenso gut wie mancher andern beilegen darf, die in Wahrheit minder wichtig ist.

Aber auch ohne den fraglichen Gegenstand, von welchem noch die Rede sein wird, waren die beiden Männer schon merkwürdig genug. Sie waren sehr nahe Verwandte, und doch konnte im Grunde keiner von beiden sagen, wie er mit dem andern verwandt war. Das hing aber in folgender Weise zusammen.

Die Mutter des Einen hatte sich geradezu derselben Zeit, als ihre Tochter mit einem Kaufmanne, Namens Hall, vermählt wurde, selber zum zweiten Male mit einem Arzte verheiratet, welcher Wild hieß. Die beiden Gatten aber, derjenige der Mutter sowohl, als jener der Tochter, waren keineswegs Engländer, sondern beide in Hamburg heimisch und hielten sich nur vorübergehend in England auf, wo beide Geschäfte hatten, der eine im Handel, der andere als Arzt eines reichen Reisenden. Der Aufenthalt derselben in diesem Lande hatte sich jedoch nach der beiderseitigen Verheiratung noch um mehr als ein halbes Jahr verlängert, bis endlich beide, nachdem sie ihre Angelegenheiten erledigt, mit einander nach Hamburg zurückreisten, um dort Alles zum Empfange der beiden Frauen einzurichten, welche sobald als möglich durch den Kaufmann nachgeholt werden sollten.

Dies geschah denn auch, wie man es verabredet hatte, jedoch in einem etwas bedenklichen Augenblicke, wo man die Reise lieber noch einige Zeit hätte ausschieben sollen. Beide Frauen waren nämlich nahe daran, Mutter zu werden. Sie fürchteten indes die kurze Meerfahrt keineswegs, und traten die Reise guten Mutes an. Sie sollten aber einen außerordentlich heftigen Sturm erleben, welcher mitten auf der Fahrt das Schiff überraschte und Alles in die größte Verwirrung brachte.

Da wollte nun das Schicksal, dass mitten in dem Tumulte und zwar etwas früher, als man außerdem hätte erwarten dürfen, gleichzeitig für beide Frauen die verhängnisvolle Stunde kam, wo jede einem jungen Weltbürger das Leben schenken sollte. Dieses Ereignis trat für beide in der nämlichen Nacht, fast um dieselbe Minute ein. Eine gemeinschaftliche Dienerin, von welcher sie begleitet waren, war zum Glück eine genugsam erfahrene Person, um beiden den unerlässlichsten Beistand leisten zu können. Auch lief doch Alles günstig genug ab. Der Sturm legte sich nach einigen Stunden und die Mütter durften hoffen, bei leidlichem Wohlsein ihren Bestimmungsort zu erreichen.

Ein Umstand waltete jedoch bei dem sonst glücklichen Ereignisse, welcher die wunderlichsten Folgen haben konnte. Auf einem Schiffe und bei einem Sturme kann man nicht füglich die strengste Ordnung in allen Dingen verlangen, wenigstens nicht in denen, wobei der Kapitän und seine Leute unbeteiligt sind. Die vortreffliche Dienerin, welche ausgezeichnete Dienste geleistet hatte, war doch in einem Punkte nicht recht vorsichtig gewesen. Sie konnte aber im Grunde nichts dafür; der Sturm, das Getümmel, die Angst und Unruhe waren allein an Allem schuld. Die beiden Kinder, zwei Knaben, waren nämlich verwechselt worden und es fehlte nun an jedem, auch dem leisesten Zeichen, um zu bestimmen, welcher der älteren und welcher der jüngeren Frau angehörte.

Gewöhnlich meint man, die Natur, nämlich die Neigung der Mutter, müsste in solchem Falle schon entscheiden können. Die Natur war aber wenigstens diesmal nicht so gefällig, weder auf Seiten der unverständigen Kleinen, noch auf Seiten der Mütter; vielleicht kam dies daher, weil die letzteren selber zu nahe verwandt mit einander waren. Die gute Dienerin war zu einfältig oder zu ehrlich gewesen, um jedem Streite und aller Verlegenheit vorzubeugen, denn dies würde sie ganz natürlich vermocht haben, wenn sie die Verwechselung verschwiegen und auf eigne Hand dem Schicksale zum Trotz einen Machtspruch gewagt hätte. Sie hatte diesen gescheiten Einfall aber nicht gehabt; im Gegenteil, sie hatte den bedauerlichen Umstand nicht nur den beiden Müttern gestanden , sondern selbigen auch vor dem einen anwesenden Vater, dem Kaufmanne, und zum Überfluss vor mehreren andern Personen offen ausgeplaudert.

Die ältere Mutter hatte selbst kaum die Mitte der dreißiger Jahre überschritten und glich der Tochter wie eine ältere Schwester. Auch die beiden Väter, obschon im Alter etwas verschieden, hatten eine gewisse Ähnlichkeit und es blieb nach alledem keine Hoffnung, dass die beiden einander aufs Haar (wenn sie schon eins gehabt hätten) gleichenden Kinder wenigstens mit den Jahren ein entscheidendes Merkmal zeigen möchten, um darnach ausfindig zu machen, nach welcher Seite sie gehörten.

Es war gewiss eine recht dumme und störende Verlegenheit. Wer war nun Neffe und wer war Oheim? Die Frau des Kaufmanns wusste nicht, wer ihr Söhnchen und wer ihr Brüderchen wäre. Der Arzt und dessen beklagenswerte Frau waren völlig im Dunkeln, wen sie Sohn und wen sie Enkel heißen sollten. Ebenso blieb auch der Kaufmann, der im besten Zuge war, ein großes Vermögen zu erwerben, durchaus in dem unseligen Zweifel, ob dies Vermögen dereinst durch seinen Sohn oder seinen leidigen Schwager unter die Leute gebracht werden würde. Nur die müßigen Spaßvögel fanden die ganze Sache ergötzlich und benutzten das Verwandtschaftsverhältnis zu sinnreichen Rätseln. Freilich konnten sich die sechs Mitglieder dieser Familie mit weit mehr als nur sechs liebreichen Namen benennen. Dem Kaufmanne aber war die Sache höchst fatal, denn er wollte gern wissen, für wen seine Bücher so gut ständen, und für wen er so fleißig korrespondierte. Am gelassensten betrachtete noch der Arzt Alles, denn in seinen Augen war vor der Hand Kind so gut wie Kind, und in der Folge, so schmeichelte er sich, würde man gar leicht zu erkennen im Stande sein, welcher von beiden Jungen der Sohn des gelehrten und geniebegabten Doktors Wild wäre. Noch unangenehmer war die Sache, wie sich denken lässt, den Müttern. Die ältere fügte sich zwar noch leicht genug in das Unvermeidliche; aber die jüngere wollte sich nun und nimmer trösten lassen. Es war nur noch gut, dass keiner der Söhne einen Thron zu erben hatte, sonst wäre es sicherlich nicht ohne Tragödie abgegangen. Sollten doch auch diese beiden Verwandten in der Folge in die Gefahr einer tragischen Entwickelung geraten!

Gern oder ungern, fügen mussten sich die beiderseitigen Eltern am Ende doch in das, was sie nicht ändern konnten, und die Sache ließ sich umso eher ertragen, da beide Familien ein und dasselbe Haus bewohnten. Die beiden Knaben schrien und gediehen, wuchsen beide rasch genug, schlugen sich und vertragen sich, hatten beide gleiches Haar und gleiche Augen, und bildeten sich unter ihren Gespielen nicht wenig auf die Auszeichnung ein, dass sie jeder zwei Väter und zwei Mütter hätten. Was aber den Charakter , die Talente und sonstige innere wie äußere Eigenschaften betraf, so waren sie oder die Natur so hartnäckig , durchaus kein so unterscheidendes Merkmal blicken zu lassen, dass man daraus einen bestimmten Schluss hätte ziehen dürfen. Überhaupt würde ja das auch wenig entschieden haben.

Beide Kinder blieben ohne Geschwister und leider sollten sie auch, noch ehe die Jahre der Reife und Selbständigkeit gekommen waren, verwaist werden. Sie zählten erst dreizehn Jahre, als die Frau des Arztes starb. Noch im nämlichen Jahre wurde auch die junge Frau und gleich nachher ihr Gatte von einer epidemischen Krankheit hingerafft, und im nächsten Jahre folgte ihnen der Arzt, wie man glaubte, in Folge einer zu starken Dosis von einem Gift, welches er zu sich genommen, keineswegs um sich umzubringen, sondern nur zur Übung, denn er bildete sich ein, ein zweiter Mithridates zu sein, und glaubte steif und fest, bereits alle Gifte vertragen zu können. Es tut mir herzlich leid, in wenigen Zeilen gleich auf einmal den Tod so vieler wackeren Leute berichten zu müssen. Man hat aber den Trost dabei, dass ihre Gegenwart für die beiden Erben eben nicht mehr unumgänglich nötig war.

Die Eltern hatten sich wohl oder übel schon in Zeiten entschließen müssen, für den Fall ihres Ablebens ihr Vermögen in eine gemeinsame Masse zu werfen, in welche sich beide Kinder dereinst teilen sollten. Dieses Vermögen war bedeutend genug, und beide Erben, der junge Neffe und der nicht ältere Oheim, die selber nicht wussten, was sie eigentlich waren, erlernten im Geschäft eines gemeinsamen Vormundes die Handlung, wozu beide gleiche Lust bezeigten, denn bei keinem Tat sich das ärztliche Genie kund, am allerwenigsten die Neigung des Giftessens, vielmehr gewannen beide mit den Jahren der Reife eine Neigung nach ganz anderen Genüssen, nach Getränken nämlich, welche der Welt unter den Namen Wein und Bier bekannt sind und die allerdings von gewissen übelgesinnten Misanthropen auch unter die Gifte gezählt werden.

Der einzige Unterschied, den man den beiden jungen Leuten hatte geben können, lag im Taufnamen. Der eine hieß Johannes, der andere Paul. Die Familiennamen mussten sie schon gemeinsam führen und da der eine Vater Wild, der andere Hall geheißen, so nannten sich die Söhne Wildhall. Was indes das Schicksal verdorben hatte — obwohl ich nicht sehe, wo im Grunde das Unglück lag — das schien die Natur wieder gut machen zu wollen. Die beiden Verwandten (und es findet sich das bei Verwandten, die einander genauer kennen, gar selten) waren nämlich einander von Herzen zugetan und unzertrennlich, obwohl ein oberflächlicher Beobachter oft das Gegenteil hätte vermuten können, denn bisweilen gerieten sie in heftigen Streit und schieden bitterböse voneinander; auch konnte man bisweilen hören, wie sich der eine, wenn er vom andern sprach, des Ausdrucks „mein Neffe, der Paul“, oder „mein Neffe, der Johannes“, im Tone einer gewissen Geringschätzung bediente. Ihr Zorn und Streit glich aber doch nur dem des gutmütigen Hitzkopfs und Polterers im Lustspiel. Sie fanden sich nach jeder Trennung stets bald genug wieder zusammen, denn keiner konnte ohne den andern leben und so hart sie auch aneinander zu geraten vermochten, so würde jeder doch sich lieber selbst das Leben genommen, als dem andern ein wirkliches Leid zugefügt haben. Ihre Neigungen und Liebhabereien waren fast immer dieselben und was der eine vornahm, machte auch bald der andere zu seiner Sache. Den gewöhnlichsten Anlass zum Streite, zumal wenn sie sich beim Weine erhitzten (und zu meinem Leidwesen muss ich anführen, dass dies nicht unter die seltenen Fälle gehörte), gab das im Dunkeln liegende Verwandtschaftsverhältnis. Jeder wollte nämlich durchaus Oheim sein. Das Gute war, dass dadurch bewiesen wurde, wie sie keineswegs wegen der Erbschaft Eifersucht hegten, denn der Arzt, dessen Sohn der unbekannte Oheim war, hatte im Verhältnis zu dem stattlichen Vermögen des Kaufmanns nur ein bescheidenes Erbe hinterlassen. Aber sowie der eine den andern als „Neffen“ bezeichnete, war auch jedes Mal gleich der Friede gestört. Jeder führte hundert Gründe an, weshalb er ganz sicherlich der Oheim wäre und wie der andere ihm ebendeswegen einigen Respekt schuldig sein müsste.

Bei alledem verging ihnen die Zeit angenehm genug. Sie wurden mündig, erhielten ihr Vermögen und begannen jeder selbst ein Geschäft. Das war fast das Einzige, was sie nicht gemeinsam taten und vielleicht hatten sie ganz recht damit. Als aber nach einigen Jahren der Eine Lust bekam sich nach London überzusiedeln, bekam auch der Andere Lust dazu. Beide führten diesen Plan aus und wurden Londoner Bürger und Kaufleute. Der Kaufmann ist ja überhaupt leicht überall zu Hause, sie aber konnten sich auf englischem Boden umso eher heimisch fühlen, als ihre Mütter diesen Lande angehört und sie auch noch einige Verwandte dort hatten. Auch noch in einer andern Hinsicht hielt es der Eine genau wie der Andere: sie verheirateten sich nämlich nicht, und daran war wohl hauptsächlich ihre Lebensweise schuld, an die sie sich nun einmal gewöhnt hatten. Des Tags beim Geschäft und des Abends in der gemütlichen Taverne; — mit Allem, was sie in dieser Lebensordnung gestört hätte, konnte ihnen nicht gedient sein. Möglich ist’s indes und wir wollen es hoffen, dass sie sich später noch des Bessern besonnen haben; allein es muss unbestimmt bleiben, da wenigstens die Tradition ein solches wichtiges Ereignis im Leben dieser beiden Biedermänner nicht erwähnt.

Humoristische Geschichten - Zweiter Band

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