Читать книгу Der Untertan von Heinrich Mann: Reclam Lektüreschlüssel XL - Theodor Pelster - Страница 4
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ОглавлениеDer Untertan ist Heinrich Manns zehnter Roman. Er erschien Die Erstausgabeerstmals vollständig in der heute maßgeblichen Form in einer Auflage von 100 000 Exemplaren im Dezember 1918 – also kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als der Krieg für die Deutschen verloren war und als Wilhelm II., der letzte deutsche Kaiser, abgedankt hatte und bereits im Exil lebte.
Auch jene Romane, die der Autor vorher veröffentlicht hatte, waren schon gesellschaftskritisch ausgerichtet. Zu ihnen gehört der 1905 erschienene Roman Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. In ihm werden auf satirische Weise die Entgleisungen eines Gymnasiallehrers namens Rat und das Abgleiten der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt ins Chaos thematisiert. Der Roman hatte eine nachhaltige Wirkung – auch durch die kongeniale Verfilmung mit dem reißerischen Titel Der blaue Engel, der die Hauptdarstellerin Marlene Dietrich zum Weltstar machte.
In seinen Anfängen durchaus nationalistisch und explizit antisemitisch eingestellt, wurde Heinrich Mann bekannt und erfolgreich, als er in einer radikalen Wende aus seiner Heinrich Mann, ein Weltbürgerweltbürgerlichen Gesinnung und seiner Sympathie für die französische Literatur und Kultur keinen Hehl mehr machte. Er schätzte die Ideen der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, mehr als die in der deutschen Monarchie verordnete Kaisertreue. Er verachtete nicht nur Tyrannen wie die von ihm entworfene Figur des Gymnasiallehrers Rat, sondern stellte alle angemaßte Macht, die festgefügte Monarchie und die autoritäre und militaristische gesellschaftliche Struktur in Frage – und machte sich damit nicht nur Freunde. Heinrich Manns Roman Der Untertan konnte erst erscheinen, als am Ende des Ersten Weltkriegs die Monarchie abgeschafft war und die Republik sich durchzusetzen begann – in einer Zeit der Krise und des Neuanfangs.
In einer Buchbesprechung aus dem Jahr 1919 wird der Inhalt des Romans so zusammengefasst: »Entwicklungsroman?Diederich Heßling, Sohn eines kleinen Papierfabrikanten, wächst auf, studiert und geht zu den Korpsstudenten, dient und geht zu den Drückebergern, macht seinen Doktor, übernimmt die väterliche Fabrik, heiratet reich und zeugt Kinder.«1 Dem Leser dieser Rezension wird das Buch als »ein Stück Lebensgeschichte eines Deutschen«2 vorgestellt – als eine Art Entwicklungs- oder Bildungsroman eines jungen Mannes aus bürgerlicher Familie. Aber: Es ist mehr.
Der Roman ist, wie der bekannte Rezensent Kurt Tucholsky warnt, »ein Ein »gefährliches Buch«?gefährliches Buch«.3 Die Gefahr geht vom Bezug der Handlung und der Figuren zur außertextlichen gesellschaftlichen und politischen Situation aus: Diederich Heßling, die Hauptfigur des Romans, ist als Typ seiner Zeit, als repräsentative Figur einer Epoche der deutschen Geschichte konzipiert – der sogenannten Wilhelminischen Zeit –, an der der Roman mit Hilfe der Ironie Kritik übt. In Diederich Heßling soll der Leser das Spiegelbild Wilhelms II. sehen, des letzten deutschen Kaisers, der Deutschland »herrlichen Tagen«4 entgegenführen wollte, der tatsächlich jedoch dieses Reich in den Ersten Weltkrieg und damit in die Vorphase des weiteren Untergangs führte. Damit aber wird der Roman zum engagierten und kritischen ZeitromanZeit- und Gesellschaftsroman.
Der Autor Heinrich Mann, der diesen Roman in den Jahren 1904 bis 1914 entwarf und vollendete, nimmt die Themen seiner Zeit auf, um seinen Lesern die »zeitgeschichtliche Wirklichkeit«5 vor Augen zu halten. Geprägt war diese Epoche einerseits durch den herrschenden Kaiser Wilhelm II., die höchste Autorität im Reich, und andererseits durch jenen Typ des ›Untertans‹, der dem Roman den Titel gab, der in sich »sklavisches Unterordnungsgefühl und sklavisches Herrschaftsgelüst«6 vereinigt und so das Bild der Epoche vervollständigt. Dem Zeitroman geht es nicht so sehr um einzelne historische Ereignisse; er will vielmehr »ein nicht nur gesellschaftlich, sondern auch geistig und kulturell, politisch und ökonomisch stimmiges Panorama [seiner] Zeit geben«.7 In dieses Bild sind sowohl Kritik als auch Appell eingearbeitet.
Als Zeitroman ist das Werk auf den zeitgenössischen Leser ausgerichtet, der die dargestellte Wirklichkeit mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen vergleichen kann und der Anspielungen auf Ereignisse, die er miterlebt hat, und auf Personen, die er direkt oder indirekt kennengelernt hat, versteht. Für die nächstfolgenden Lesergenerationen wird der Zeitroman jedoch zum Historischer Romanhistorischen Roman oder sogar zum historischen Dokument. Daraus ergibt sich einerseits das Problem, dass einst aktuelle Bezüge nicht mehr erfasst werden, und andererseits die vielleicht größere Gefahr, dass die im Roman vorgestellte Wirklichkeit als tatsächliche Wirklichkeit angesehen wird. Ein objektives Bild – eine in sich widersprüchliche Formulierung – kann und will der Roman aber nicht geben.
Im Gegenteil: Wie jede sozialkritisch engagierte Dichtung bezieht der Roman Heinrich Manns Stellung, kritisiert, urteilt, legt Maßstäbe für individuelles und politisches Handeln an, die nicht selbstverständlich sind, für deren Akzeptanz geworben und gestritten werden muss. Er greift an, verspottet, macht lächerlich, d. h., er bedient sich satirischer Mittel, um das Fehlverhalten von Personen und Institutionen bloßzustellen und um Einzelpersonen, Gruppen und Gesellschaftsschichten zu attackieren.
Als der Vorabdruck des Romans in der Wochenzeitschrift Zeit im Bild am 1. Januar 1914 begann, war der Untertan als ein »satyrische[r] Zeitroman[]« angekündigt worden, in dem »[s]charfe Kritik und beißende »Satyre«!Satyre […] vor nichts zurück[schrecken].«8 Gerade deshalb war der Abdruck zu Beginn des Krieges unterbrochen worden.
Für den heutigen Leser bilden die satirischen Elemente des Romans einen besonderen Reiz. Auch wenn er den Anlass für die satirische Attacke nicht unbedingt kennt, genießt er den »Gebrauch von Spott, Sarkasmus, Ironie usw., um Laster und Torheiten bloßzustellen, anzugreifen oder der Verachtung preiszugeben«.9
Dieser Spott trifft zunächst den autoritär regierenden Kaiser und den sich lächerlich gebärdenden Untertan Diederich Heßling. Im Nachhinein kann man den Roman aber auch als eine vorweggenommene Kritik am autoritären nationalsozialistischen Führerstaat und an der Gesellschaft, die ihn ermöglichte, deuten und verstehen.
Die kritische Lektüre des Romans mag Anlass sein, über Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens von Menschen im Staat nachzudenken – auch über die Rolle, die dem Einzelnen im Zusammenspiel mit seinen Mitmenschen aufgegeben ist.