Читать книгу Pat Browning und die goldene Spinne: Kriminalroman - Theodor Horschelt - Страница 8
3. Kapitel: Die Witwe
ОглавлениеWashington Street 48 war ein Haus wie die meisten anderen in der Stadt. Nicht schön, nicht hässlich, eben einfach ein Haus, in dem Menschen wohnten, gute, schlechte, alle Sorten Menschen, und alle bunt durcheinander.
Mistress Warner wohnte im dritten Stock. Bis vor zwei Stunden hatte das Ehepaar Warner im dritten Stock gewohnt. Norton hatte gesagt, dass sie Warner beurlaubt hätten. Beurlaubt, weil er ‘ne Brieftasche geklaut hatte. Jetzt war er ermordet worden. Bestimmt hatte es nicht der Brieftaschenbesitzer aus Rache getan. Und jetzt glaubte auch Norton nicht mehr an die Sache mit der Brieftasche. Warner sollte fertiggemacht werden. Aber warum?
Und dann hatte er vielleicht als Privatmann weitergemacht. Und dann war er als Privatmann fertiggemacht worden, aber endgültig. Jetzt lag er im Leichenschauhaus. Warum?
Ja, warum? Darüber dachte ich nach, als ich langsam die Treppen hochstieg. Einen Fahrstuhl gab es auch, aber es war einer von der üblichen Sorte: außer Betrieb.
Jimmy stampfte hinter mir her. Wir sagten keinen Ton, aber an seinen Schritten merkte ich schon, dass es keine angenehmen Gedanken waren, die ihn beschäftigten. Wieso auch.
Ich drückte auf die Klingel. Das Ding schepperte wie eine Kuhglocke. Es war eine ganze Weile still. Wir sahen uns schweigend an und warteten.
Dann drückte ich noch einmal auf die Kuhglocke.
Irgend etwas rührte sich in der Wohnung. Aber es dauerte noch eine ganze Zeit, bis Schritte aufkamen. Vorsichtig öffnete sich dann die Tür zu einem kleinen Spalt.
Sie wusste es schon. Ich sah es sofort. Sie hatte noch eine bunte Schürze um, aber sie hatte in den letzten zwei Stunden bestimmt keine Hausarbeiten mehr verrichtet. Sie hatte die letzten beiden Stunden dazu benutzt, um zu weinen.
„Sie wünschen?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte kaum merklich, und wenn man es ihrem Gesicht nicht angesehen hätte, aus ihrer Stimme allein war die Erschütterung kaum zu spüren.
„Wir würden gern einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Mistress Warner. Es betrifft Ihren Mann. Ihren ermordeten Mann.“
Ihre Augen weiteten sich schreckhaft, und jetzt spiegelten sie die Angst wider.
„Was wollen Sie von mir?“, stieß sie hervor.
„Auf keinen Fall hier im Treppenhaus mit Ihnen plaudern“, sagte Jimmy und schob die Tür auf.
Sie versuchte nicht, ihn daran zu hindern. Sie trat zurück und sah uns angsterfüllt an. Offenbar hielt sie uns für Abgesandte irgendeiner Gang.
„Wir dürfen wohl nähertreten?“, sagte ich, als wir schon im Flur waren. „Sind Sie allein?“
Sie nickte, und dann schluckte sie.
Ich sah mich suchend um.
„Hier, bitte!“, sagte sie und stieß eine Tür auf, die direkt hinter ihr lag. Ein gemütliches kleines Wohnzimmer. Mit ein paar Sesseln, einer Couch und einem weißlackierten Kakteenständer.
Wir setzten uns alle drei, wie auf eine geheime Verabredung.
Ich räusperte mich und fing an: „Mistress Warner, Sie haben keinen Grund, uns so angstvoll anzustarren. Wir sind keine Gangster, verzeihen Sie uns bitte. Mein Name ist Browning, Pat Browning, und dies hier ist Jimmy Flannegan, mein Teilhaber. Wir haben ein Detektivbüro, verstehen Sie? Und wir arbeiten wunderbar mit der Polizei zusammen. Ihr Mann muss uns gut gekannt haben, sicher durch den dicken Inspektor Norton. Und fünf Minuten, bevor es passierte, rief er uns an. Er hatte uns um unsere Hilfe gebeten.“
„Aber leider hatte er es sich zu spät überlegt“, sagte Jimmy. „Sonst wäre vielleicht alles anders gegangen.“
„Oh, ich verstehe“, sagte sie freundlich, und ich sah, wie sie tapfer gegen die wieder in ihr aufsteigenden Tränen ankämpfte. „Sie sind Freunde von Hugh.“
„Ja. Und wir haben nichts anderes im Sinn, als seine Mörder zu fassen und auf den Stuhl zu bringen.“
Ihr Gesicht, das sich dem Fenster zugewandt hatte, nahm plötzlich einen versonnenen Ausdruck an.
„Wenn Sie seine Arbeit zu Ende führen könnten“, sagte sie leise, fast flüsternd, „dann wäre er nicht ganz umsonst gestorben!“ Dann überfiel es sie wieder, und ich sah, dass sie uns sonst wohin gewünscht hätte, nur nicht in ihr Wohnzimmer in der Washington Street 48 im dritten Stock. Sie wollte mit ihren Gedanken allein sein.
„Wir wären später gekommen“, sagte ich schüchtern, „aber vielleicht verträgt die Sache keine Verzögerung. Können Sie uns sagen, was er für eine Sache bearbeitet hatte?“
Sie schüttelte den Kopf, und es war fast etwas wie Trotz in dieser Bewegung.
„Er hat zu mir nie darüber gesprochen. Er hat nur Andeutungen gemacht.“
Sie schwieg wieder und sah durch das Fenster auf die gegenüberliegende Steinwand. Und wieder war etwas Versonnenes, fast Verklärtes in ihren Augen.
„Was für Andeutungen? Sie müssten versuchen, es uns ganz genau zu sagen.“
„Er sagte, man würde sich sehr wundern, wenn er mit seiner Arbeit fertig wäre. Und die Leute, die ihn wegen dieser Brieftaschengeschichte rausgesetzt haben, würden noch ganz woanders hinkommen.“
„Und?“
„Nichts weiter. Ich weiß nicht einmal, worum es sich drehte. Er hat mir mit Absicht nie etwas von seiner Arbeit erzählt, um mich nicht zu belasten. Das sagte er jedenfalls.“
Und dann sah ich etwas, was mir gar nicht sehr gefiel. Der Ehering lag auf dem Radioapparat.
„Sie waren sicher sehr glücklich“, sagte ich, so ganz auf nachdenklich und romantisch.
„Oh, ja! Sicher, er hat oft nur Zeit für seine Arbeit gehabt, aber sonst war es schön. Es war schön, seine Frau zu sein.“
Ich sah sie mir genauer an. Jetzt, wo sie eine Weile gegen die aufsteigenden Tränen angekämpft hatte, sah man auch ein bisschen mehr. Sie war blond. Ihr blondes Haar war von der Art, die einen normalen Mann beunruhigen kann, wenn das Gesicht darunter dazu passt. Und ich sage euch, Freunde, das Gesicht passte. Selbst ihre Hausschürze und das von dem Weinen immer noch gerötete Gesicht konnten nicht verbergen, dass sie eine schöne junge Frau und dass ihr Körper gut geformt war.
„Wie alt war er eigentlich?“, fragte ich, so ganz nebenbei, nur um die Pause des Schweigens etwas besser zu überbrücken.
„Er war sechsundvierzig. Zwanzig Jahre älter als ich.“
„Haben Sie eine Ahnung, ob er mit irgendwelchen Leuten zusammen war? In den letzten Tagen, meine ich.“
„Nein!“ Sie sah mich kühl an. Ich wunderte mich darüber, dass ihr Blick plötzlich so kühl war. „Ich sagte Ihnen doch wohl schon, ich weiß nichts. Nichts!“
Na schön, also sie wusste nichts. Wir redeten noch eine Weile. Wir sagten, wie große Ehrfurcht alle Menschen davor haben müssten, dass ein Beamter für seine Pflicht sein Leben lässt, und wie sehr wir alles bedauerten, und wie sehr wir mit ihr fühlten, na, und all das, was keinen Toten wieder lebendig macht, und was die Leute immer wieder sagen, wenn‘s einen erwischt hat.
*
Als wir wieder unten in unserem Buick saßen, holten wir beide erst einmal tief Luft.
„Schrecklich, so was!“, seufzte Jimmy.
„Traurig, dass sie gar nichts weiß, nicht?“
„Ja“, sagte Jimmy. „Traurig. Und nun?“
Ich sah auf die Uhr.
„Wie ich dich kenne, hast du längst Hunger.“
„Ja, richtig. Ganz richtig. Ich habe es beinahe übersehen. Überfühlt, wollen wir mal sagen.“
„Also gehen wir jetzt essen. Und dann werden wir versuchen, den Affen auf dem roten Auto zu finden.“
Jimmy hatte sich hinter das Lenkrad gesetzt. Und da wir zum Essen fahren wollten, fuhr er schnell.
Als wir in dem Speiselokal saßen und bestellt hatten, stand ich auf, um ans Telefon zu gehen.
„Vielleicht gibt‘s einen Verband der Obstfahrer“, sagte Jimmy. „Oder eine Interessenvereinigung der Affenbenutzer für Werbezwecke. Oder den Club der roten Autobesitzer. Sieh mal im Telefonbuch nach.“
Ich ging in die Telefonzelle und schlug das Telefonbuch auf. Auf jeden Fall sah ich einmal unter „Obst“ nach.
Ich blätterte eine Weile. Dann fand ich im Branchenteil das Stichwort Obsthandel. „Siehe unter Südfrüchte“, stand da. Das verstand ich nicht, denn es gibt ja schließlich auch Obstsorten, die keine Südfrüchte sind.
Dann hatte ich es: „Südfrüchte“. Siehe unter Gemüse- und Obsthandel.
Ob ihr‘s nun glaubt oder nicht! Unter Gemüse- und Obsthandel stand nicht „siehe unter Grünkram“, sondern da stand‘s dann wirklich.
Leider stand nichts von einem Verband, einem Kegelklub oder einem Bridgeverein der Obsthändler da. Vielleicht spielen Obsthändler nicht Bridge. Ich habe nie darüber nachgedacht.
Ich sah die Adressen durch. Nichts von einer Firma, bei der das Wort Affe im Firmennamen vorkam. In den meisten kam nur das Wort Obst oder Gemüse vor.
Ich weiß nicht genau, ob ihr Sally Cohen kennt. Er ist dick. Er hat mehrere Sekretärinnen, und sie sind alle schön. Meistens hat er eine von ihnen auf dem Schoss. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wann er eigentlich arbeitet.
Na, das ist auf jeden Fall seine Sache. Er hat ohne Zweifel ein bemerkenswertes Talent, alles wunderbar zu organisieren. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mal einem ‘ne Antwort schuldig gebliebene ist.
Ich rief ihn an.
„Tag, Sally“, sagte ich, als er sich meldete. „Hier ist Pat. Hab ‘ne Frage!“
„Kann ich mir denken“, meckerte er. „Um mir ‘n schönen guten Tag zu wünschen, ruft doch kein Aas von euch an. Was ist‘n?“
„Kennst du ‘ne Obst- und Gemüse-Großhandlung, die rote Autos hat und hinten auf ihre Lkws einen Affen drauf gemalt hat?“
„Willst du mich veräppeln?“
„Nein“, sagte ich, „‘nur ‘n Mord aufklären. Ist nicht so schön, aber wichtiger.“
„Okay. Ich rufe dich an. Oder hast du dir eingebildet, ich wüsste so ‘n Blödsinn gleich? Wie ist‘n der Mord gemacht worden? Hat der Affe einen gebissen?“
„Dich vielleicht“, sagte ich und hängte an.
Ich ging zu Jimmy zurück.
„Sally?“, fragte er, als ich mich gesetzt hatte.
Ich nickte.
„Er will anrufen.“
Ich sah missbilligend auf die neue Portion, die Jimmy sich bestellt hatte. Ich würde noch eine
Viertelstunde warten müssen, bis er alles in sich hatte.
Hugh Warner war hinter einer Sache her gewesen. Sicher war er deswegen umgebracht worden. Aber ob er auch deshalb die Sache mit der Brieftasche über sich hatte ergehen lassen? Das war eine Preisfrage.
Sicher, Norton schien fest davon überzeugt zu sein. Aber es konnte auch ein zufälliges Zusammentreffen sein. Warner konnte wirklich ein krummes Ding gedreht haben. Er war dann auf irgendeine Sache gestoßen, und die Gang hatte schnell und hart reagiert.
Wahrscheinlicher allerdings war die Version, die ich von Anfang an hatte und zu deren Annahme auch Norton neigte: Irgendein Schmutzfink im Polizeigebäude selber hing mit drin. Erst haben sie ihm das mit der Brieftasche untergeschoben, um ihn kaltzustellen, und als das nichts nutzte und er als Privatmann weitermachte, haben sie zu dem Mittel gegriffen, das für solche Leute immer noch das sicherste ist: Zum Mord!
Das Motiv? Naheliegend war die Vermutung, dass er etwas gewusst hat, zu viel gewusst hat. Er war Leuten, die Dreck am Stecken hatten, zu gefährlich geworden. Also stank die Sache wirklich, genau wie Jimmy es gesagt hatte.
Man roch es förmlich, nur die genaue Richtung war noch nicht auszumachen.
Ich stand auf und ging noch einmal ans Telefon.
„Sally, hör mal!“, sagte ich, als ich ihn dran hatte. „Vielleicht könnte man bei den Hafenbehörden rückfragen. Du hast doch sicher da irgendeinen Kerl sitzen, den du kennst. Oder in der Markthalle.“
„Ja, das könnte man machen. Ich hätte es auch getan. Für dich tue ich alles. Für dich rufe ich sogar in der Markthalle an. Aber ich weiß es schon. Die Firma heißt Broderson und hat ihren Laden in der New Orleans Avenue.“
„Kenne ich ja gar nicht.“
„Ja, die Straße hat aus Versehen so ‘n schönen Namen gekriegt. Ist ‘ne kleine Gasse im Hafenviertel. Weiß der Himmel, was daran ‘ne Avenue ist.“
Er legte auf, ohne mir irgendwas weiter zu sagen. Aber das genügte ja auch.
*
Im Wagen erzählte ich es Jimmy.
„Also hin!“, sagte er.
„Aber wie?“ Ich dachte nach. „Sollen wir sagen, wir wären Detektive und auf der Suche nach Warners Mörder? Das würde uns nicht weit bringen. Wir müssen es ein bisschen schlauer anfangen. Könnte ja doch immerhin sein, dass da die Knaben sitzen, die wir suchen.“
„Ja. Aber wie?“
Wir grübelten eine Weile hin und her.
„Ich hab‘s“, rief Jimmy. „Als Gasmann!“
„Hör auf mit den abgestandenen Sachen.“
„Als Telefonarbeiter!“
„Hör auf, sag ich dir! Wenn die Kerls wirklich diejenigen sind, haben sie dich fertiggemacht, ehe du einmal Piep gesagt hast.“
„Würde ich eben nicht Piep sagen. Aber wie wär‘s als Steuerbeamter?“
„Na, da machen sie dich fertig, ob sie die Gangster sind oder nicht.“
„Hast recht. Das geht auch nicht. Aber als Geldbriefträger. Nein, das glaubt keiner. Als Postbote. Nein. Als, als …“ “
„Hör auf, sage ich dir!“
Ich hatte inzwischen den Buick gestartet, und wir bogen in die New Orleans Avenue ein. Es war eine ausgesprochen unfreundliche Gegend, die aus alten Schuppen und stinkenden Lagerhäusern bestand. Irgendwo roch es nach Fisch.
Und dann stand der Wagen vor dem Schuppen mit der Aufschrift:
BRODE ON
„Das wird es sein. Zwei Buchstaben fehlen.“
Jimmy dachte darüber nach, ob man nicht einen Witz darüber machen könnte, aber ich sah seinem verzweifelten Gesicht an, dass ihm nur etwas mit vier Buchstaben eingefallen wäre.