Читать книгу Der Morgen, der zur Nacht wurde - Theresia Emmersberger - Страница 5

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Müde kam ich nach Hause

Lange Jahre arbeitete ich als Pflegehelferin in einem Krankenhaus. Diese Ausbildung gab mir die Möglichkeit, die Krankenpflegeschule zu besuchen. Wieder einmal hatte ich Nachtdienst. Nach Mitternacht wurde es auf der Station ruhiger. Keine Neuaufnahmen von Patienten, oder andere Zwischenfälle. Es war eine gute Gelegenheit, mir etwas Lernmaterial anzusehen, da ein lang ersehntes Ziel in Erfüllung gehen sollte.

In diesen Morgenstunden wusste ich noch nicht, dass in wenigen Stunden ein grauenvolles Schicksal mein Leben in eine lange schmerzvolle Dunkelheit schleudern würde.

Nach Dienstschluss verließ ich wie immer das Krankenhaus und freute mich auf den wohlverdienten Schlaf. Als ich ins Freie trat, schlug mir ein eisiger Wind ins Gesicht. Ein kalter, frostiger Tag begrüßte mich. Die Straßenlaterne warf ihr schimmerndes Licht auf die schneebedeckte Fahrbahn. Schneeflocken ließen sich auf mein Gesicht fallen. Schüler hasteten an mir vorbei, um in ihre Klasse zu kommen. Ich holte mir noch Gebäck für das Frühstück und machte mich auf den Heimweg.

Jetzt kann ich gleich schlafen, dachte ich und gähnte lauthals vor mich hin. Als ich in die Wohnung kam, Jacke und Schuhe auszog, hörte ich einen Wecker klingeln. Das Geräusch kam aus Sonjas Zimmer, meiner jüngsten Tochter. Ich wunderte mich, weil sie um diese Zeit schon immer außer Haus war. Fast stolperte ich über meine Schuhe, eilte zur Türe, öffnete sie und sah, dass Sonja noch im Bett lag.

Ihr Oberkörper war gegen die Wand gedreht. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Leise ging ich auf Zehenspitzen an den Bettrand, um sie nicht zu erschrecken. „Sonja“, flüsterte ich, „Sonja, es ist Zeit aufzustehen, du kommst zu spät in die Arbeit“. Ich nahm sie an der Schulter und beugte mich über sie. Ihr Gesicht war bleich, der Mund halb offen, Erbrochenes bedeckte die Wand. Ein furchtbarer Gedanke erfasste mich … „Sonja was ist mir dir?“, rief ich halblaut und verlor den Boden unter meinen Füßen. Ich schwankte, hielt mich noch an der Bettkante fest. Halb auf dem Bett liegend zog ich verzweifelt die Bettdecke von ihrem Körper und sah blau verfärbte Flecken, die sich an ihren Beinen hochzogen. Nur zu gut kannte ich diese Todesflecken von Patienten. Eine unsichtbare Kralle bohrte sich in mein Herz und stach zu, ein unerträglicher Schmerz, löste einen Schrei aus meiner Kehle, der weit hinaus in den Gassen zu hören war. Dieser trieb die Nachbarn vor die Türe, aber warf auch Anna meine älteste Tochter aus dem Bett. „Sonja, nein Sonja, du darfst nicht tot sein!“, schrie ich immer wieder und hörte Anna nicht, die kreidebleich und am ganzen Körper zitternd in der offenen Türe stand.

„Mama, Mama, was ist los, was ist denn passiert?“ Ihre Hände bittend gefaltet, ganz verschlafen, noch gar nicht in der Lage zu begreifen, welches Szenario sich vor ihren Augen abspielte.

Sonja lag noch immer in meinen Armen, ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden.

Tränen, die aus meinen Augen rannen, ließen Anna erahnen, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. „Sonja ist tot, Sonja ist tot!“, schrie ich und weinte laut vor mich hin. Anna schlug die Hände vor ihr Gesicht und schrie: „Nein, nein Mama, warum soll sie tot sein, sie war doch nicht krank! Wir haben doch gestern noch so viel gelacht … es war so ein lustiger Film“ … Stockend rief sie nochmal: „Mama … sie darf nicht tot sein, bitte … bitte Mama hilf ihr … hilf unserer Sonja!“

Ich spürte da Beben meines Körpers, der mir nicht mehr gehorchen wollte, zog mich dann aber mit letzter Kraft hoch, beugte mich über Sonja, um sie zu reanimieren. Schon bei dem ersten Versuch kam Blut aus der Nase und den Augen. Anna rief den Notarzt, sank zu Boden, Weinkrämpfe schüttelten sie. Ich kniete neben ihr, nahm sie in die Arme und zog sie an mich. „Anna ich kann nichts tun, ich kann ihr nicht helfen, du hast ja gesehen was …“, meine Stimme versagte. Gerade ist eine Welt zusammengebrochen, unsere Welt, unsere Familie, nie mehr wird es so sein wie es einmal war.

Der Notarzt und die Sanitäter stürzten durch die schon offenstehenden Türen in die Wohnung. Das Team versuchte mit erneuter Reanimation meine Tochter zu retten, aber vergeblich, der Monitor zeigte keine Herztöne mehr. Nach einer Weile gaben sie auf. Betroffen teilten sie uns ihre Anteilnahme mit, dass sie nichts mehr tun können. Sie packten ihre medizinischen Utensilien in den Koffer und verschwanden wieder durch die offene Tür.

Kurz darauf kam der Amtsarzt, um den Tod festzustellen, später die Polizei, um Fremdverschulden auszuschließen.

Der Leichenwagen fuhr vor, der Bestatter, der einige Männer mit sich brachte, bat uns um Kleidung, die er Sonja nach der Obduktion anziehen wollte. Anna löste sich aus meiner Umarmung, schwankte zum Schrank und suchte nach einem Bekleidungsstück. Sie drehte sich hilfesuchend zu mir, noch immer weinend bat sie mich: „Bitte Mama, hilf mir!“ Gemeinsam suchten wir Sonjas Lieblingskleid und legten es in die Hände des Bestatters. Eine unübersehbare Erschütterung zeichnete sich in den Gesichtern der Männer ab.

Sie legten Sonja in den Sarg und verschlossen ihn. Schweigend, mit langsamen aber festen, sicheren Schritten trugen sie meine Tochter aus ihrem Zuhause fort, für immer. Die Endgültigkeit schlug jetzt erbarmungslos zu und nahm mit ihrer Gewalt jeden Raum ein. Eine unerträgliche Stille stellte sich ein. „Nein, nein!“, schrie es in mir, „ich lass es nicht zu, ihr dürft mein Kind nicht mitnehmen!“ Keiner hörte mein Schreien, einen Schrei, der nicht nach außen drang, sondern den die Vernunft in die Tiefe meiner Seele presste. Ich hörte nur noch, wie der Wagen langsam über die schneebedeckte Straße fuhr und sich eine unerträgliche, dröhnende Stille verbreitete, die kaum zu ertragen war.

Der Morgen, der zur Nacht wurde

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