Читать книгу Der Morgen, der zur Nacht wurde - Theresia Emmersberger - Страница 8

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Der Kampf von Realität und Verdrängung begann

Dieser erste Tag ohne Sonja war unendlich lang und kalt. Er war da, und wir mussten ihn leben, kein Umweg, kein Ausweg. Spontan dachte ich an meine Eltern, wie ein Kind wollte ich zu ihnen flüchten, sie um Hilfe bitten. Sie werden wieder alles gut machen, ja, alles wieder gut machen Ein Geräusch riss mich aus der Gedankenwelt und führte mich in die Realität zurück. Was denke ich da und erschrak, meine Eltern leben doch gar nicht mehr und wenn, auch sie würden nicht in der Lage sein, mein Kind zurückzubringen!

Es dämmerte schon, der Tag ging zu Ende. Noch immer kamen Menschen, die uns ihr Beileid wünschten, manche weinten vor sich hin. Wortlos teilten sie mit uns den Schmerz und bauten damit eine kleine Brücke zu unserem gebrochenen Herz. Maria war da, die beste Freundin von Anna. Schweigend nahm sie Anna in ihre Arme, trocknete immer wieder ihre Tränen. Sie wusste, wie sehr Anna an ihrer Schwester hing, welch dickes Band zwischen den Beiden bestand. Wie unbekümmert und lebensfroh sie waren, wenn sie sich hübsch machten und abends zusammen ausgingen. Oft lachend nach Hause kamen. Sich noch im Bett lange über die lustigen Abende unterhielten.

Schon aus den Kindergartentagen kannten Anna und Maria sich. Sie waren unzertrennlich bis hin zur erwachsenen Frau. Jetzt war sie da, um Trost zu spenden und zuzuhören, auch wenn es immer wieder um das gleiche Thema ging. Maria war dem nicht müde, denn auch sie litt unter Sonjas Tod.

Sabine war schon mehrere Stunden da. Unsere Freundschaft bestand schon seit Jahren. In ihrer Nähe fand ich etwas Ruhe. Ihr Schweigen und das Aushalten der wiederholten Weinkrämpfe, das Festhalten wollen vor dem tiefen Fall, der aber nicht aufzuhalten war, gab mir trotzdem ein wenig Kraft … in den schrecklichsten Stunden meines Lebens.

Der Schock saß in all meinen Gliedern. Sechsunddreißig Stunden war ich schon wach. Der Tag vor dem Nachtdienst und der Tag danach. Der Arzt verabreichte mir eine Injektion, die mir etwas Schlaf bringen sollte, doch nach kurzem Einnicken war ich wieder hellwach. Die Gedanken kreisten um Sonja.

Ich schrie in das Kopfkissen hinein: „Sonja, du darfst nicht tot sein! Ich kann so nicht mehr leben!“ Die Tränen liefen über meine heißen Wangen, mit einem Kissen, das neben mir lag, erstickte ich meine Schreie.

Immer wieder rissen mich Gedanken in kurzen Abständen aus dem Schlaf und drangsalierten mich. Es war eine lange Nacht, die längste meines Lebens.

Langsam, unwillig erhob ich mich aus meinem Bett, ich spürte das Beben meines Körpers, er wollte mir nicht gehorchen. Eine Schwäche überkam mich und ich kam vor dem Bett zum Knien.

Schwermütige Gedanken plagten mich: „Ich will nicht aufstehen, nein, es gibt keinen neuen Tag für mich! Es ist dunkel geworden in meiner Seele, so stockdunkel, nie mehr werde ich diese Dunkelheit verlassen können, nie mehr.“

Wimmernd flehte ich immer und immer wieder: „Sonja, bitte komm zurück, du darfst nicht gehen, bitte!“

„Mein Leben hat keinen Sinn mehr ohne dich!“ „Wir wollen doch noch so Vieles gemeinsam tun. Weißt du noch, was wir uns versprochen haben?!“ „Wir fliegen ans Meer, wir drei, Anna, du und ich! Es war solange schon unser gemeinsamer Traum. Am Strand bei Sonnenuntergang werden wir mit den Pferden durch die schlagenden Wellen galoppieren!“ „Wir drei, Anna, du und ich … wir haben uns das Wort gegeben! Du kannst es doch nicht brechen!!!“

„Du, mein Liebling, ich habe dir noch so viel zu sagen, Sonja, bitte!“

Doch plötzlich durchfuhr mich wieder der erbarmungslose Gedanke, wie ein riesiger Glaserhammer schlug er erneut zu. „Sie ist tot, niemals kann sie zurückkommen, nie mehr, es ist endgültig … gib auf, gib doch endlich auf!“

„Nein!“, … stammelte ich vor mich hin: „Ich gebe nicht auf, niemals! Ich habe immer gekämpft, wenn es um meine Kinder ging. Jetzt soll ich aufgeben, einfach zuschauen … Nein!“

Das Beben meines Körpers wurde immer stärker, die Tränen schossen aus den Augen, Verzweiflung und unendliche Wut kamen hoch. Ich bäumte mich auf, mit erhobenen Händen schrie ich zu Gott: „Wo bist du? … sag mir, wo bist du!!!!“

„Du bist ein grausamer Gott, warum … warum hast du das zugelassen? In der Blüte ihres Lebens musste sie gehen, einfach so, … über Nacht!“ „War jedes Gebet um Schutz für mein Kind umsonst? Warum hüllst du dich ins Schweigen?“

Lange kniete ich, mit Gott hadernd, vor meinem Bett. Ich erschrak, als mir jemand sanft über den Kopf streichelte. Es war Anna, die leise das Zimmer betrat und sich zu mir auf den Boden kauerte.

Als ich mich zu ihr drehte, sah ich ihre geschwollenen Augen. Auch Anna konnte nicht schlafen, wie elend und zerschlagen sie aussah. Die sonst fast immer ein Lächeln in ihrem Gesicht trug. Eine offene und lebensbejahende junge Frau, neben Johannes, deren Liebe zueinander nicht zu übersehen war.

Wie sollte ein so junger Mensch dieses Schicksal überwinden? Woher sollte sie die Kraft nehmen, wenn ich sie ihr nicht vorlebe? Anna braucht mich, braucht mich mehr, als je zuvor!

„Mama komm!“, sagte sie mit gebrochener Stimme, „ich habe uns Frühstück gemacht, du musst endlich etwas essen!“

Sie nahm mich an der Hand, zog mich langsam auf und führte mich in die Küche. Liebevoll war der Tisch gedeckt, der Duft vom gemahlenen Kaffee stieg mir in die Nase. Dieses Aroma war die Vorfreude für ein gutes Frühstück, auf das ich mich jeden Tag aufs Neue gefreut hatte. Doch heute nicht. Es war uns beide nicht möglich, einen Bissen zu essen. Schweigend saßen wir uns gegenüber. Anna starrte ins Leere. Ich blickte in ausdruckslose, unendlich tieftraurige Augen.

Leblos und ohne Glanz, die noch vor Tagen wie Sterne geleuchtet hatten. Sie wandte sich mir mit leiser, zitternder Stimme zu: „Mama, wie sollen wir ohne Sonja leben? Sie ist doch ein Teil von uns!“ Dieser Schmerz ist unerträglich, jeden Augenblick glaube ich sterben zu müssen! „Das, was gestern geschehen ist, kann doch nicht wahr … Mama, bitte sag, dass alles ein fataler Irrtum ist. Sonja ist nicht tot, es ist nicht wahr!!!“

Ihr flehender Blick, in Erwartung eine Antwort zu hören, versetzte mir einen neuerlichen Riss im Herzen, der die blutende Wunde mehr und mehr aufriss. Ich ergriff ihre zarte Hand, sie fühlte sich so kalt an. „Ach, Anna!“ … “Wir wissen beide …“, ich konnte nicht mehr sprechen. Weinend fielen wir uns in die Arme. Unsere Blicke zum Fenster gewandt, sahen wir die Schneeflocken tanzen. Wir wünschten uns, eine von diesen unbekümmerten, weichen, federleichten und gefrorenen Regentropfen zu sein. Diesen grauenhaften Schmerzen zu entfliehen, zu fliegen, zu schweben, zu tanzen und sanft im Ganzen zu verschmelzen.

Der Morgen, der zur Nacht wurde

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