Читать книгу Der Morgen, der zur Nacht wurde - Theresia Emmersberger - Страница 7
ОглавлениеDie Gerüchteküche
Wenige Stunden danach wurden Gerüchte verbreitet, Sonja hätte Selbstmord begangen. Ein Bekannter rief mich an, dass Zugreisende sich mit den Neuigkeiten des Tages, „… ein junges Mädchen hätte sich am frühen Morgen erhängt!“, auseinandersetzten.
Mittags erfuhren wir durch die Ärzte des Krankenhauses, dass Sonja an einem Aneurysma verstorben war. Eine Ausbuchtung einer Arterie im Gehirn, eine Zeitbombe, die ihr junges Leben einfach ausgelöscht hatte. Die Nachricht von Sonjas „Selbstmord“ war inzwischen zur Wahrheit der Öffentlichkeit geworden – unumstößlich! Nachbarn erzählten, wie sich die „Wahrheit“ von Stunde zu Stunde veränderte und sich weiter wie ein Feuer ausbreitete.
Noch am selben Tag wurde ich auf der Straße von einem Mann angesprochen, der mich ganz außer sich fragte: „Was hat sich deine Tochter dabei gedacht, warum hat sie das getan, weshalb nimmt sich so ein junger Mensch das Leben?“
Er stand dicht vor mir, in einer Haltung der Neugier und Lust, den Grund zu erfahren, ein verstecktes Grinsen im Gesicht. Ich spürte, wie meine Augen sich mit glühenden Tränen füllten, ein Gefühl der Schutzlosigkeit überfiel mich und trieb mich in eine Abwehrhaltung, um mich zu schützen. Doch dann kamen Wut und Verachtung über diese Darstellung seiner festen Überzeugung, die er als Wahrheit hinstellte. Ich spürte, wie sich meine Hände zu Fäusten formten, als wollte ich jetzt einfach zuschlagen.
Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals, der mich zu ersticken drohte. Fast tonlos und brüchig vernahm ich meine Stimme: „Sonja wollte nicht sterben, sie musste!!!“
Der Mann blickte mich entgeistert an, konnte meine Reaktion sichtlich nicht verstehen, wo er doch nur „Anteilnahme“ zeigen wollte! Er wich verdattert einen Schritt zurück, drehte sich kopfschüttelnd um und verschwand.
Ich befand mich in einer schrecklichen Verfassung, wusste in diesem Augenblick nicht mehr, warum ich auf der Straße stand. Die Tränen wollten nicht mehr aufhören zu fließen.
Fluchtartig verließ ich mit schnellen Schritten diesen Ort und stürmte in meine Wohnung. Zuhause verkroch ich mich in meinem Zimmer, wollte von der Außenwelt nichts mehr hören und auf gar keinen Fall Menschen wie diesen begegnen.
Gefühllos, ohne jegliche Sensibilität, ein Schmachten nach Sensation, ein sarkastisches Verhalten, dass jede Würde eines Menschen verletzt.
Zusammengerollt, die Hände schützend über den Kopf, kauerte ich am Boden. Gedanken schossen durch meinen Kopf, wie abgehackt und nicht fertig gedacht. Wie sollte ich das begreifen, was sich in diesen wenigen Stunden für ein grausames Schicksal abgespielt hatte?
Die Leugnung ergriff mich: „Sonja ist nicht tot, nein sie lebt, sie kommt gleich nach Hause!“ Fortlaufend wiederholten sich die Worte. „Es ist nur ein böser Traum und ich werde gleich aufwachen!“
Das Telefon klingelte ständig. Angehörige und Freunde wollten wissen, was geschehen war. Viele von ihnen brachten nur noch mehr Verwirrung in mein schon zerbrochenes Herz.
Eine Bekannte erkundigte sich nach meinem Befinden. Als sie meine Verzweiflung hörte, gab sie mir den Rat: „Geh zum Frisör oder in die Sauna, du musst dich ablenken!“ Der Hörer fiel mir aus der Hand, ich ergriff ihn wieder, hörte meine Stimme, sie klang wie ein hart fallender Beton auf Stein, dann legte ich auf.
In meinem Zimmer ließ ich den Tränen ihren Lauf, die Wut, die Enttäuschung über so unüberlegte, ja sogar herzlose Aussagen verwandelte sich in eine tiefe Traurigkeit.
Mein Kind ist gerade gestorben … und man empfiehlt mir die Sauna!!!!!!!!“ Ich will keine Sauna, keinen Frisör, ich will zu meiner Sonja, ich will sterben, nur sterben.
Halb erstarrt saß ich auf einem Stuhl, starrte ins Leere. Ständig schrie es in mir: „Ist niemand da, der meine Sonja zurückholt?“ Jemand, der diesen grausamen Film, der nicht in mein Leben gehört, zurückspult und mir sagt: „Alles ist gut, es ist ein Irrtum!“
Mitten in diesem inneren Kampf streifte mein Blick die ausdruckslosen Augen von Anna, die am Küchentisch mit gebeugtem Oberkörper saß, die Hände stützten ihren Kopf.
Ihr zarter Körper wurde immer wieder von neuen Weinkrämpfen geschüttelt. Johannes stand neben Anna, wortlos streichelte er über ihr langes Haar und versuchte, sie zu trösten.
Sein Gesicht war kreidebleich, immer wieder liefen Tränen über seine Wangen.
Johannes war der Freund von Anna. Seit einigen Jahren wohnte er schon bei uns. Er hat unser Dreimädchenhaus zu einer fröhlichen Gemeinschaft verwandelt, uns zum Lachen gebracht. Durch seinen Humor riss er uns oft aus einer schlechten Laune heraus.
Johannes fühlte sich auch für Sonja verantwortlich. Sie war für ihn in dieser langen Zeit wie eine Schwester geworden. Sie hatten sich gut verstanden, viel gescherzt und gelacht. Der blonde, gutaussehende Mann, aus dessen markantem Gesicht auffällig blaue Augen strahlten, war nun für Anna und mich eine tragende Kraft, um nicht in dieser ausweglosen Dunkelheit zu verenden.