Читать книгу Briefe aus Krähwinkel - Thilo Koch - Страница 6

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weißt Du wo die Blumen sind,

wo sind sie geblieben?

Kam mir doch tatsächlich eine Träne ins Auge . . . Du kennst mich ja, hab’ manchmal »nah’ am Wasser gebaut«. Also, es war so: die B.’s — alle schrecklich aufgeregt und furchtbar lieb wie immer — hatten mich von Tempelhof abgeholt. Bis zur Duden-Straße (jawohl, Duden das ist der Mann mit der deutschen Rechtschreibung, mach’ Dich mal besser mit ihm bekannt gefälligst, gelegentlich, Du teenager) ging alles gut. Dann sagte Schwesterleben jubelnd, emphatisch: »Na, wie findest Du es, Dein Berlin, unser Berlin?«

»Ziemlich kleen un’n bißchen provinziell«, sagte ich. Sie sind baff. »Wenigstens hier, wo wir gerade sind, in Schöneberg,« füge ich eilig hinzu. Ich kann nun einmal diese Appelle nicht verknusen. How do you like America? Wir haben es alle höflich beantworten gelernt, drüben. Klar, im Ausland. Aber dies war ja wirklich: mein Berlin, unser Berlin. Die Stadt, wo Du, Töchterchen, geboren bist. Olympische Straße 12 war das, British Sector, 500 Gramm Weißbrot täglich extra bekamen wir für Dich Baby. Du hast uns ernährt. Ich wog hundertachtzehn Pfund nach der Gefangenschaft. Du übrigens sieben — nach der Geburt.

Also, ich hab’ sie verstimmt, die B.’s, die Schwester. Es tut mir leid. Aber es würgte mich schon im Halse, seit ich durchs Flugzeugfenster das Roseneck ausgemacht hatte, wo wir unser erstes Haus gebaut haben, Richard-Strauß-Straße, auf dem Goldmark-Trümmer-Grundstück von Ilja Markewitsch Trotzky, nachmals New York.

Aber das ist eine Geschichte für sich. Siehst Du — das war’s, überall Geschichten, um jede Ecke eine — in diesem Berlin. Es bubberte infolgedessen immerfort da irgendwo in Deinem Vater. Und dann soll er sagen: Oh, I just love Berlin, it’s a marvellous city, isn’t it. Kann man doch bloß saaren: hamses nich’n bisken kleener.

Hätte Dich gern bei mir gehabt, in diesen Tagen, Tochter. Du bist ja ’ne echte Berlinerin, ich bloß ’n gelernter Berliner. Und die lieben det olle Dorf ja viel sentimentaler als Ihr Richtigen.

Anhalter Bahnhof sind wir auch vorbeigefahren. Alles tot, immer noch. Wie oft kam ich da an, in Deinem Alter und jünger, aus Elsterwerda, mit dem Dresdner Eilzug. Wie oft fuhr ich da ab. 16.44 Uhr, ich weiß es noch genau. Und wenn der Koffer im Netz war, das Fenster wieder hoch, das Taschentuch nach dem Winke-Winke zusammengefaltet, und wir ratterten durch Lichtenrade, Richtung Zossen, fing ein langes Selbstgespräch an: Mensch Junge, is det ne Stadt, wa? Mann, und da mußte mal durch . . .

Und da bin ich auch durch, wenn auch erst mit erheblicher Zugverspätung — so’n kleiner Weltkrieg kam dazwischen. Und da war ich nun wieder, paar Amerika-Jahre dazwischen, und da hatten sie mich am Hilton (ein Amerikaner in Berlin, hahaha) vorgefahren, in ihrem guten alten grünen VW, und der Zweimeterzehn-Portier hatte kaum heruntergereicht, und dann hatte mich ein Boy zehn Stock nach oben gefahren: »Sie war’n wo’ lange nich da, der Herr« — und dann mache ich das Kippfenster auf, es liegt zum Zoologischen Garten hin, und da ist Nachmittags-Tanztee, und da spielen sie ausgerechnet:

Weißt Du, wo die Blumen sind,

wo sind sie geblieben?

Immer hab ich dabei zwei Stimmen im Ohr. Marlenes natürlich, guttural-sinnlich, Gänsehautfördernd, schauerlichschön, und Deine, wie Du es summst an Deinem Bungalow-Fenster, Washington-Suburbia, abends, vor dem violetten Sonnenuntergang über den Wäldern von Virginia. Sah’ es nicht immer alles aus, wie von Grandma Moses gemalt?

Where have all the flowers gone,

picked by young girls everyone.

Where have all the young girls gone,

gone to young man everyone.

Where have all the young man gone,

gone to soldiers everyone.

Where have all the soldiers gone,

gone to graveyards everyone.

Where have all the graveyards gone,

gone to flowers everyone . . .

Kitsch, ich weiß. Aber dies — long time passing, long time ago, dies mir in Berlin. Es nahm mich hin, trug mich fort. Später stand ich auf dem Waldfriedhof, zuerst am Grabe meiner Mutter, später am Grabe Gottfried Benns. Sie waren ein Jahrgang: 1886. Sie starben fast im selben Jahr. Da gibt es diese Zeile von ihm:

Nicht im Sommer sterben,

wenn alles hell ist,

und die Erde für Spaten leicht.

Aber es war ein brennend heißer Sonntag mit tiefblauem Himmel, einem märkischen Himmel trotzdem, als wir ihn 1956 begruben. Mein liebster Benn-Vers:

Leben ist Brücken schlagen,

über Ströme die vergehn.

Where have all the graveyards gone? Meines Vaters Grab ist unerreichbar weit schon lange, hundert Kilometer von dem seiner Frau entfernt. Das wäre weit, heutzutage im Jet-Zeitalter? Oh, hundert Kilometer, das kann sehr weit sein, unerreichbar weit, wenn es hundert Kilometer sind, südlich von Berlin.

Aber Schluß. War froh, als ich wieder zu Hause war, in Krähwinkel, hier im südlich idyllischen Deutschland, ja: zu Hause. Berlin, das ist vielleicht noch einmal etwas für Euch, für Dich und Deinen Bruder. Warum nicht. Ich war bei dieser Reise immerfort à la recherche des temps perdus.

Für Dich, Tochter, ist das noch kein weiter Weg. Was heißt »verlorene Zeit« — mit Achtzehn. Oder ist es doch schon da, dieses Verloren, oh Verloren des Thomas Wolfe? Wenn ich mich recht entsinne, las ich Proust doch schon in Deinem Alter zum ersten Mal — Im Schatten junger Mädchenblüte. Welch ein poetischer Titel, fällt mir heute auf. Habt Ihr Nachkriegskinder einen Sinn für Poesie, für diese Poesie?

Du hast nie Chopin gespielt. Man hört auch im Radio kaum noch mal ein Notturno. Aber Elise von Beethoven, ich werde es nie vergessen, wie Du eines Sonntagmorgens an Deinem kleinen grauen Klavier saßest, das mit den Messing-Füßen, in dem rosa-weiß-karierten Kleidchen mit der Spitzenbordüre an Ärmeln und Ausschnitt (hast Du es noch?) und Elise spieltest, selber ganz und gar Elise. Deine Stirn war noch sehr rund und ernst.

Bin heute komisch weich gestimmt, ganz auf h-moll. Kommt, weil ich von Berlin erzähle. Dabei wird Krähwinkel jeden Tag schöner. Die Wiese vorm Haus brachte als neueste Attraktion Klatschmohn heraus. Lauter kleine Halt-Signale. Ach ja, möchte auch gar nicht mehr abfahren. Nach Berlin. Oder nach Bonn. Ich bin Dir aber — wie im letzten Brief versprochen — eine Beschreibung unserer Bundeshauptstadt schuldig. Und Du, Du bist mir endlich wieder einen schönen Schreibebrief aus München schuldig.

Mein Vater, Dein Großvater, erzählte gern eine Geschichte aus seiner Jugend. Die ging so: Seine Mutter, Deine Urgroßmutter, war eine westfälische Bauerntochter, eine geborene Hagensieker. Sehr genau und sparsam. Wenn sie ihren Ältesten, meinen Vater, Deinen Großvater, in den Keller schickte, etwas raufzuholen, mußte er immer pfeifen. Pfiff er mal nicht, rief es sofort: »Willi! Willi, warum pfeifst Du nicht?« Willi hätte ja einen Apfel oder ein Stück Wurst schnell im Vorbeigehen unten verspeisen können . . .

Tochter! Tochter, warum schreibst Du nicht? Was treibst Du? Verspeisest Du etwas, schnell im Vorübergehen, unten in München? Wart man lieber, bis es auf den Tisch kommt.

Das sagt Dir, mit einem Kuß, bei Euch in Bayern auch Busserl genannt,

Briefe aus Krähwinkel

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