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PROLOG: DER MANN MIT DER ZIGARRE

Ein Bier und einen Kurzen trinken und dabei eine Zigarre rauchen.

Willi Kuzorra, Bruder von Ernst

Ernst Kuzorra habe ich persönlich nie kennengelernt. Er war Jahrgang 1905, ich bin 49 Jahre später geboren, fast auf den Tag genau vier Jahre, nachdem Kuzorra am 12. November 1950 sein Abschiedsspiel für den FC Schalke 04 absolviert hatte. Aber ich bin Kuzorra oft begegnet - aus der Ferne. Natürlich hat er mich nie gesehen, diesen Knirps, mitten zwischen Tausenden von Schalke-Fans, die alle mindestens einen Kopf größer waren als ich, in der Mehrzahl Hüte trugen und blau-weiße Fahnen schwenkten.

Ich weiß aber noch genau, wann ich ihn das erste Mal zu Gesicht bekam. Es war der 27. November 1965, ein Samstag. An das Datum erinnere ich mich deshalb, weil mein Vater seine Eintrittskarte aufbewahrte - ich selbst kam damals einfach so ins Stadion - und weil damals sämtliche Spiele der Bundesliga samstags um 15 Uhr 30 angepfiffen wurden. Um 18 Uhr 15 zeigte die ARD-Sportschau Ausschnitte von drei Partien. Dann war der Fußballtag vorbei.

Wenn ich heute an die Samstage meiner Kindheit denke, fallen mir allerdings weder Schalke noch die Sportschau ein. Stattdessen steigt mir der Geruch von Graupensuppe mit Hackfleischklößchen in die Nase. „Sams- tach is Eintopftach!“, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich mal wieder lustlos in dem Durcheinander auf meinem Teller herumstocherte. „Haste kein Hunger? Wat anderet gibt et nich!“ Ich sagte nichts und dachte sehnsüchtig an eine Riesenschüssel voll dampfender Spaghetti mit Tomatensoße.

Doch an diesem Novembersamstag ist alles anders. Zwar rühre ich wie stets missmutig in den gräulichen Graupen herum, aber viel Zeit zum Trödeln bleibt mir heute nicht.

Wenige Tage zuvor hat meine Mutter mich mit einem blau-weißen Stück Stoff, das mit Reißzwecken an einem abgesägten Besenstil befestigt ist, überrascht. Und mein Vater hat versprochen: Samstag gehen wir „auf Schalke“.

Ich beeile mich also ausnahmsweise, würge schnell ein paar Löffel hinunter, und schon bin ich weg vom Tisch, ziehe Schuhe und Anorak an und stürze mit der Fahne in der Hand durchs Treppenhaus nach unten auf die Straße, wo mein Vater bereits wartet.

Es ist halb drei. Und es regnet in Strömen. In einer Stunde ist Anstoß. Bis zur Straßenbahnhaltestelle sind es keine hundert Meter. Wir wohnen in Bulmke, in der Oskarstraße, gegenüber vom „Werk“. Das Werk ist der Schalker Verein, nicht der Fußballklub, sondern ein gigantisches Stahlwerk, dessen flackernde Hochofenfeuer Nacht für Nacht den Himmel über Gelsenkirchen erleuchten.

Kurz hinter der Grenzstraße steigen wir aus der Bahn und gehen das letzte Stück zu Fuß, mein Vater und ich mit meiner blau-weißen Fahne. Am Schalker Markt angekommen, haben sich uns bereits zahllose „Schlachtenbummler“ angeschlossen, die alle nur ein Ziel haben: die Glückauf-Kampfbahn, jenen magischen Ort, an dem der FC Schalke 04 seine Heimspiele austrägt und den ich bislang nur vom Hörensagen kenne.

Doch erst einmal heißt es geduldig warten. Denn vor der GlückaufKampfbahn kommt die Glück-auf-Schranke, dort, wo die Gleise der „Con- sol“-Werksbahn die Kurt-Schumacher-Straße kreuzen. Und diese Schranke ist, wenn man Pech hat, geschlossen, denn noch rollen die Kohlenzüge nahezu unaufhörlich in Richtung der Verladehäfen am Rhein-Herne-Kanal.

Mit dem letzten vorbeiratternden Waggon öffnet sich endlich die Schranke. Ein vielstimmiges Brausen erfüllt die Luft, das langsam anschwillt, als wir uns dem Stadion nähern. Es herrscht ein unentwegtes Drängen und Schieben, untermalt von Geschrei und „Schalke“-Rufen.

Eine lange Reihe gelber Straßenbahnen markiert den Endpunkt unseres Fußmarsches. Zur Linken erstreckt sich ein von Bäumen gesäumter Vorplatz mit dem Eingangsportal, das an den Portikus eines antiken Tempels erinnert. Zunächst müssen wir durch die Drehkreuze zwischen den „Säulen“, die als Kassenhäuschen fungieren. Ein Stehplatz kostet 2,90 Mark, mich lässt man drei Tage nach meinem elften Geburtstag umsonst ins Stadion.

Bis zum Anpfiff bleibt noch etwas Zeit. Also bekomme ich eine Bratwurst, mein Vater gönnt sich ein Bier im Pappbecher. Wir erklimmen die Erdwälle, die als Stehplatzränge dienen. Oben angekommen, erhasche ich zum ersten Mal einen Blick auf das grüne Rechteck, das viel kleiner ist, als ich es mir vorgestellt habe. Etwa 20 Meter Luftlinie sind es bis zum Spielfeldrand schräg unter mir, wo auf der Aschenbahn gerade Kolonnen von Rollstuhlfahrern ihre Plätze einnehmen, flankiert von Johanniter-Unfallhelfern, deren rot-weiß-graue Uniformen nicht so recht zum Blau-Weiß aller anderen passen wollen. Ich recke pausenlos den Hals, um nur ja nichts zu verpassen.

Vor der Haupttribüne wird plötzlich etwas aufgebaut, das wie eine elektronische Orgel auf einer Art Bollerwagen aussieht, und tatsächlich wehen kurz darauf die ersten Musikfetzen zur Gegengeraden herüber - Unterhaltung in der Steinzeit der Bundesliga. Dazwischen plärren Werbesprüche örtlicher Geschäfte aus den Lautsprechern.

„Da isser“, raunt jemand neben mir und deutet mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Haupttribüne. Hälse recken sich, Hände beginnen zu klatschen, ich stelle mich auf die Zehenspitzen, klatsche ebenfalls, bin aber zu klein, um zu erkennen, um wen die ganze Aufregung sich dreht. „Da is wer?“, frage ich meine Nachbarn, den Kopf nach links und rechts wendend. „Na, wer wohl - der Kuzorra!“

Kuzorra. Den Namen kennt in Gelsenkirchen jedes Kind, genannt wird er meist in einem Atemzug mit dem von Fritz Szepan. Ernst und Fritz, das Schwägerpaar aus Ostpreußen, Begründer des „Schalker Kreisels“, Gewinner von sechs deutschen Fußballmeisterschaften, Legenden schon zu Lebzeiten.

Eingekeilt zwischen riesigen Erwachsenen, sehe ich Kuzorra natürlich nicht. Fast nicht. Denn hinten auf der Tribüne, dort, wo gerade der meiste Trubel herrscht, erblicke ich einen Hut, eine Zigarre und einen Mantel. Der Hut nickt, die Zigarre qualmt, Hände klopfen auf den Mantel, die Ränge applaudieren und die Orgel dudelt. Der Fußballkönig hält Hof.

Den Hut, den Mantel und die Zigarre sehe ich in den folgenden Jahren noch oft. Dem Mann aber komme ich nie näher als eine Spielfeldbreite.

Ernst Kuzorra ist ständiger Gast auf der Tribüne der alten GlückaufKampfbahn und später auch im Parkstadion, diesem zugigen Rund, das so gar nichts mehr hat von der Herrlichkeit der alten Schalker Spielstätte. Für Kuzorra ist das Parkstadion das Symbol einer Zeit, die nicht mehr die seine ist: Mit der räumlichen Entfernung von den Wurzeln des einstigen Bergarbeiterklubs im Gelsenkirchener Stadtteil Schalke wächst auch die Distanz zur goldenen sportlichen Vergangenheit des Klubs.

An das Einlaufen der Spieler Minuten später habe ich keine Erinnerung mehr, ebenso wenig an den Spielverlauf. Gegner und Ergebnis hat mein Vater später auf der Eintrittskarte notiert, den Rest kann man im Internet recherchieren: 14. Bundesligaspieltag, der Tabellenfünfzehnte Schalke gewinnt 1:0 gegen den Tabellenachten Hannover 96, das Tor erzielt Günter Herrmann in der 44. Minute. Die Partie der in diesen Jahren permanent abstiegsbedrohten Königsblauen lockt an diesem verregneten Samstagnachmittag magere 15.000 Zuschauer in die Glückauf-Kampfbahn. Ein durchschnittliches Bundesligaspiel und ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür schickt. Meiner Faszination für das Geschehen um mich herum tut all dies keinen Abbruch. Schließlich ist es mein „erstes Mal“. Und wenn ich heute die kleine grüne Eintrittskarte in die Hand nehme, dann habe ich wieder das Raunen von den Rängen in den Ohren und sehe gegenüber auf der Tribüne den Mann mit der Zigarre.

Als ich an der Hand meines Vaters die Stufen der Gegengeraden hoch- und an der anderen Seite wieder hinunterstapfe, knacken unter meinen Füßen Fetzen von Plastikbechern, beinahe rutsche ich aus auf einer der matschigen Pommesschalen, die zusammen mit unzähligen zerknüllten Bratwurstpappen den Boden bedecken. Die Luft riecht nach Bier, Schweiß und Urin. Und als wir hinter dem Eingangsbereich am Schalker Vereinslokal vorbeikommen, gesellt sich ein anderer Duft hinzu - der einer Zigarre.

Ernst Kuzorra

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