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3. GO WEST, YOUNG MAN!

Damals konnte man von unserem Fenster noch bis zur Stadt blicken, so frei war alles.

Willi Kuzorra

Preußens „Wilder Westen“

„Masuren! In rein ländlicher Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt ganz wie ein masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe, eine reizende, ganz neuerbaute Kolonie des westfälischen Industriegebietes. Diese Kolonie besteht vorläufig aus über 40 Häusern und wird später auf etwa 65 Häuser erweitert werden. In jedem Haus sind nur 4 Wohnungen, 2 unten, 2 oben. In jede Wohnung gehören etwa 3 bis 4 Zimmer. [...] Zu jeder Wohnung gehört ein sehr guter und trockener Keller, so daß sich die eingelagerten Früchte, Kartoffeln usw. dort sehr gut halten werden.

Ferner gehört dazu ein geräumiger Stall, wo sich jeder sein Schwein, seine Ziege oder seine Hühner halten kann. So braucht der Arbeiter nicht das Pfund Fleisch oder seinen Liter Milch zu kaufen. Endlich gehört zu jeder Wohnung auch ein Garten von etwa 23 bis 24 Quadratruten. So kann sich jeder sein Gemüse, sein Kumpst und seine Kartoffeln, die er für den Sommer braucht, selbst ziehen. [...] Die ganze Kolonie ist von schönen, breiten Straßen durchzogen, Wasserleitung und Kanalisation sind vorhanden. Abends werden die Straßen elektrisch beleuchtet. Vor jedem zweiten Haus liegt auch ein Vorgärtchen, in dem man Blumen und auch Gemüse ziehen kann. Wer es am schönsten hat, bekommt eine Prämie. [...]

Masuren, es kommt der Zeche vor allem darauf an, ordentliche Familien in diese ganz neue Kolonie hineinzubekommen. Ja, wenn es möglich ist, soll diese Kolonie nur mit masurischen Familien besetzt werden. So bleiben die Masuren unter sich und haben mit Polen, Westpreußen usw. nichts zu tun.

Jeder kann denken, daß er in seiner östlichen Heimat wäre. Es gibt Masuren, die bei der Zeche schon lange tätig sind und sich bei der anständigen Behandlung wohl fühlen. Als Beweis wird in Masuren bald ein solcher Arbeiter als Zeuge erscheinen.

[...] Die Zeche will keinen aus der Heimat weglocken, auch keinen seinen jetzigen Verhältnissen entreißen, sie will nur solche ordentliche Menschen, die in der Heimat keine Arbeit oder nur ganz geringen Verdienst haben, helfen, mehr zu verdienen und noch extra zu sparen, damit sie im Alter nicht zu hungern brauchen. Vorgetäuscht wird durch dieses Plakat nichts; es beruht alles auf der Wahrheit.“

Mit diesem „Masurenaufruf“ warb die Gewerkschaft Victor im Jahr 1887 in zahlreichen Wirtshäusern der Region im äußersten Osten des Deutschen Reiches in schwärmerischen Tönen um Arbeitskräfte. Bei der auf dem Plakat beworbenen Siedlung handelte es sich vermutlich um die Strittheidekolonie im heutigen Castrop-Rauxeler Stadtteil Bladenhorst.13 Die Gewerkschaft Victor hatte auf dem Gelände der damaligen Dörfer Rauxel und Ickern im Jahr 1872 mit dem Abteufen von Schacht Victor 1 begonnen. Von 1884 bis 1887 wurde dann ein Wetterschacht abgeteuft, und 1887 erwarb August Thyssen Anteile (Kuxe) an der Gewerkschaft. Das Unternehmen expandierte, der Bedarf an Arbeitskräften stieg.

Auch andernorts im rheinisch-westfälischen Industriegebiet suchten Unternehmen mit solchen und ähnlichen Aufrufen händeringend nach Arbeitskräften. Der Bergbau und die Montanindustrie waren Wachstumsbranchen, das Ruhrgebiet wurde in den 1880er-Jahren Jahren zum Motor der Industrialisierung des neugegründeten Deutschen Reiches. Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das Gebiet zwischen Rhein, Ruhr und Emscher weitgehend agrarisch geprägt gewesen und entsprechend dünn besiedelt.

* * *

Um 1850 lebten etwa 400.000 Menschen im heutigen Ruhrgebiet, jener Region, die in der Definition des 1920 gegründeten Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk (der sich heute, nach zahlreichen Umbenennungen, Regionalverband Ruhr, RVR, nennt) die kreisfreien Städte Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen umfasste sowie die Kreise Recklinghausen, Unna, Wesel und den Ennepe-Ruhr-Kreis, die den heutigen Landesteilen Rheinland und Westfalen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen angehören.

Die Landschaft ähnelte der des Münsterlandes oder der Soester Börde. Dörfer, Bauerschaften und Einzelgehöfte prägten das Bild, die größten Städte waren laut Volkszählung vom 3. Dezember 1849 Dortmund mit 10.532, Duisburg mit 8.948 und Essen mit 8.813 Einwohnern, während in dem südlich des Emscherbruchs gelegenen Kirchdorf Gelsenkirchen laut Zensus vom 3. Dezember 1852 gerade einmal 844 Menschen lebten.

Die Kirche im Bruchland

Das Kirchdorf Gelsenkirchen wird als „Geilistirinkirkin“ bzw. „Gelsten- kerken“ erstmals um 1150 bzw. 1265 in den Urbaren, den Verzeichnissen der Besitzrechte, des Klosters Werden erwähnt. Die Deutungen des Namens reichen von „Kirche bei den Siedlern im Bruchland“ (Robert Jahn 1960) bis zu der kühnen jüngeren Auslegung von Paul Derks (1984), der auf die ältere Schreibweise „Geilistirinkirkin“ zurückgriff und den Namen als „Kirche am Platz, wo sich geile Stiere tummelten“, übersetzte. Er berief sich dabei auf Franz Darpes Übersetzung aus dem Jahr 1908: „Kirche (am Bach) der üppigen Stiere“.14

Nur gut halb so viele Menschen (443) lebten im Jahr 1861 in dem Dorf Schalke, das in einer „fast urwüchsige[n], wenig fruchtbare[n] und fast unbesiedelte[n] Landschaft“ (Ermeling) lag, geografisch exakt ausgedrückt auf 51° 31’ nördlicher Breite und 4° 45’ östlicher Länge. Im alten Landkreis Gelsenkirchen war es der am tiefsten gelegene Ort, inmitten einer sumpfigen Bruchlandschaft, in deren Niederungen noch Wildpferde weideten und die noch nach der Wende zum 20. Jahrhundert häufig überflutet wurde, wenn die Emscher Hochwasser führte. Die Siedlung, deren Name auf „Scadelek“ („Siedlung in schädelförmiger Gegend“) oder „Scedelike“ („Siedlung der Adelsfamilie Schedelecke“) zurückgeht, war umgeben von den kleinen Flüssen Ah, Schwarzbach und Bullenbeke (Sellmannsbach). Die größten Gehöfte lagen an der Chaussee nach Essen, der heutigen Feldmarkstraße. Am Schwarzbach lag das Rittergut Haus Schwarze- mühle der Herren to de swarte Mölen, an das heute nur noch die Schwarzmühlenstraße erinnert. Es war eine Gegend im Dornröschenschlaf, aus dem ihre Bewohner Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung gerissen wurden.

Im Jahr 1850 stießen in der benachbarten Gemarkung Heßler mehrere Gewerke bei Probebohrungen unabhängig voneinander auf ergiebige Steinkohlevorkommen. Fünf Jahre später schlossen sie sich zur Gewerkschaft Wilhelmine Victoria zusammen, 1856 wurde mit den Abteufarbeiten für Schacht I der Zeche Wilhelmine Victoria begonnen. Im Jahr 1861 gründeten in Schalke auf Initiative des Essener Unternehmers Friedrich Grillo mehrere Gewerke die „Gewerkschaft des Steinkohlenbergwerks Consolidation“, die zwei Jahre später am Schalker Markt anfing, den ersten Schacht, „Gertrud“, abzuteufen, der 1865 die Förderung aufnahm.

Der Steinkohlenbergbau wurde zum Konjunkturmotor, der die Ansiedlung von Zulieferfirmen und weiterer Gewerbe nach sich zog. Im Jahr 1866 wurde das Blechwalzwerk Grillo, Funke & Co. gegründet, 1868 folgte die Zeche Graf Bismarck, die allerdings nur teilweise auf Schalker Gebiet lag, 1869 die Draht- und Hanfseilerei W H. Grillo, 1870 das Drahtwalzwerk Boecker & Cie., 1872 der Schalker Gruben- und Hüttenverein, 1872 die Schalker Eisenhütte und die Aktiengesellschaft für Chemische Industrie, 1873 der Schalker Verein für Kesselfabrikation Orange und 1873 die Glas- und Spiegelmanufactur Schalke. Initiator all dieser Gründungen war Friedrich Grillo, ohne dessen Pioniergeist und unternehmerisches Gespür Schalke möglicherweise ein unbedeutender Bauernflecken geblieben wäre. Das Denkmal des Schalker „Gründervaters“ zierte zu Zeiten Kuzorras, umrahmt von Platanen, den Schalker Markt.

Die neuen Industrien brauchten Arbeitskräfte, die anfangs, in den Jahren 1860 bis 1880, noch aus der näheren Umgebung kamen. Immerhin zählte das „Dorf“ Schalke im Jahr der Gründung des Deutschen Kaiserreichs (1871) bereits 3.758 Seelen, binnen zehn Jahren hatte sich die Einwohnerschaft also verzehnfacht. Doch das einheimische Arbeitskräftereservoir reichte bald nicht mehr aus, und die Unternehmen gingen dazu über, zunächst in der näheren Umgebung, dann in anderen Regionen Deutschlands, aber auch in Nachbarländern „Gastarbeiter“ anzuwerben. Dabei gerieten Gebiete in den Fokus der industriellen Werber, deren wirtschaftliche Basis nicht ausreichte, eine rapide wachsende Bevölkerung zu ernähren, sodass deren Bewohner aufgrund ihrer sich verschlechternden sozialen und wirtschaftlichen Lage keinen anderen Ausweg sahen, als auszuwandern. Die ersten Zuwanderer ins Ruhrgebiet kamen aus Hessen, Nassau und den Niederlanden. Im Raum Gelsenkirchen stammten zwischen 1865 und 1871 79 Prozent der Migranten aus dem Rheinland und aus Westfalen, 7,7 Prozent aus Hessen und 3,7 Prozent aus den Niederlanden.

Irgendwann war auch dieses Reservoir erschöpft, während der Hunger der Industrie nach Arbeitskräften unau&altsam weiter wuchs. Seit den 1880er- Jahren wurden für die Schwerindustrie an der Ruhr die deutschen Ostprovinzen (Posen, Schlesien, West- und Ostpreußen) zu bevorzugten Rekrutierungsgebieten. Dort malten Plakate wie das eingangs zitierte, die sich jeweils an bestimmte Volksgruppen wandten, die angepriesene Region in den blühendsten Farben. Dabei wurde weniger auf die konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort als auf „weiche“ Standortfaktoren, wie etwa Wohnverhältnisse, Infrastruktur, soziokulturelles Umfeld etc., gesetzt.

Die gesamte preußische Bevölkerung hatte sich zwischen 1819 und 1867 auf knapp 20 Millionen fast verdoppelt. Bis zur Jahrhundertwende stieg sie auf mehr als 34 Millionen an. Mit Ausnahme Oberschlesiens verfügten die preußischen Ostprovinzen jedoch über keine nennenswerte Industrie, die dieser rasant wachsenden Zahl an Menschen eine ausreichende Existenzgrundlage hätte bieten können. Zudem hatte sich die soziale und wirtschaftliche Lage der klein- und unterbäuerlichen Schichten im deutschen Osten seit der Bauernbefreiung 1811 vielfach verschlechtert. Während auf der einen Seite die Zahl der großen ostelbischen Güter zunahm, wuchs auf der anderen Seite die Zahl der überschul- deten und kaum existenzfähigen Kleinbauernstellen. Eine starke Teuerung in den 1880er-Jahren verschlechterte die Lebensverhältnisse der unteren Schichten weiter.

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Die entlegene ostpreußische Grenzregion Masuren zählte im wilhelminischen Deutschland, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Riesenschritten in die ökonomische Moderne marschierte, während seine politischen Eliten zugleich ständisch-autoritäre Herrschaftsstrukturen und strikte soziale Hierarchien zu bewahren suchten, zu den rückständigsten Gebieten des Deutschen Reiches. Den überwiegend polnischsprachigen Masuren, die mangels Industrie mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft, mit Fischerei, Forst- und Waldwirtschaft oder als kleine Beamte und Angestellte mit niedrigem Einkommen (Chausseewärter, Eisenbahner) eine bescheidene Existenz fristeten, dürfte die aufstrebende Industrieregion im fernen Westen wie das gelobte Land erschienen sein.

„Für masurische Verhältnisse herrschten im Ruhrgebiet bessere Konditionen - höhere Bezahlung, bessere Wohnung und ein Kohledeputat -, die vor allem junge Männer vor der Verheiratung, später auch junge Familien, abwandern ließen. Sie erwarteten bessere Wohnverhältnisse, eine weniger anstrengende Arbeit als auf den Kleinbauernstellen in der Heimat sowie die Chance eines sozialen Aufstiegs“ (Kossert).

Bis zum Ersten Weltkrieg verlor Masuren etwa ein Drittel seiner Bevölkerung durch Abwanderung. Das Ruhrgebiet entwickelte sich in dieser Zeit zum Hauptziel der Migranten aus dieser Region.

Bis zum Jahr 1900 waren mehr als 160.000 Ostpreußen - fast ausschließlich Kleinbauern und Landarbeiter, die meisten von ihnen Masuren - ins Ruhrgebiet eingewandert. Sieben Jahre später waren es bereits mehr als 240.000, darunter knapp 200.000 Masuren, von denen einer zeitgenössischen Studie zufolge im Jahr 1908 etwa 120.000 bis 130.000 polnischsprachig waren.

Ob die Zuwanderer tatsächlich polnisch sprachen oder vielleicht nur „masurisch“ (das Masurische hat polnische Wurzeln und weist je nach Region starke polnisch-litauische oder auch deutsche Einschläge auf), ist nicht zweifelsfrei zu klären, weil in offiziellen Sprachenstatistiken nicht eindeutig zwischen „Masuren“ und „Polen“ differenziert wurde. Manche Forscher halten das Masurische für eine eigenständige slawische Sprache, andere lediglich für einen „Sonderzweig des Polnischen“ (Gehrmann).

Der Durchschnittsdeutsche im Ruhrgebiet machte jedenfalls keinen Unterschied zwischen einem polnischsprachigen und einem masurischsprachigen Masuren und einem Polen. Die Neuankömmlinge aus dem Osten galten pauschal als „Ruhrpolen“, „wobei als Indikatoren Verhalten, Sprache, Name oder Geburtsort dienten“ (Kossert), oder wurden abwertend schlicht als „Polacken“ tituliert. Wenn es nach der offiziellen Statistik im Jahr 1910 im Ruhrgebiet nur noch 21.673 Masuren mit „masurischer“ Muttersprache gab, während zwei Jahre zuvor nach Angaben des Gelsenkirchener evangelischen Pfarrers Oskar Mückeley, der ab 1911 für die Masuren im Ruhrgebiet die deutschsprachige Monatszeitschrift Heimatgrüße herausgab, noch bis zu 130.000 Masuren polnisch (oder vielleicht auch masurisch) gesprochen hatten, so lag dem möglicherweise „eine nationalistische Sichtweise zugrunde, die gerade bei den Masuren eine Reduzierung des polnischen Sprachgebrauchs als Fernziel bereits in den Statistiken vorwegnahm“ (Kossert). Zu dieser „Abnahme“ passen die Zahlen aus der Studie von Stefan Goch und Norbert Silberbach Zwischen Blau und Weiß liegt Grau, wonach es im Jahr 1906 57.968 Masuren im Ruhrgebiet gab, von denen 15.854 in Gelsenkirchen lebten. Hier kann es sich dann ebenfalls nur um die Masuren mit „masurischer“ Muttersprache gehandelt haben.

In Masuren selbst war das Verhältnis von polnischsprachigen und masurischsprachigen Bewohnern regional sehr unterschiedlich. Während nach der Volkszählung des Jahres 1900 im Landkreis Ortelsburg 43,3 Prozent der Bewohner masurisch und 31,1 Prozent polnisch sprachen, lag das Verhältnis des Masurischen zum Polnischen im Landkreis Neidenburg bei 31,7 zu 37,6 Prozent, im Landkreis Osterode bei 10,9 zu 33,0 Prozent.

Das Zentrum der masurischen Migration in den Westen des Reiches war Gelsenkirchen, das zum Ziel von Auswanderern aus dem Landkreis Ortelsburg wurde. Migranten aus den Landkreisen Neidenburg und Soldau konzentrierten sich auf Wattenscheid, die Osteroder auf Bochum und die Lötzener auf Wanne. Die Stadt Gelsenkirchen, der 1903 der Amtsverband Schalke angegliedert wurde, der seinerseits 1876 aus dem Dorf Schalke sowie den Gemeinden Bulmke, Heßler, Hüllen und Braubauerschaft (ab 1902 Bismarck) gebildet worden war, hieß im Volksmund „Klein-Ortelsburg“. In Kuzorras Geburtsjahr 1905 waren 26,3 Prozent der Gelsenkirchener Bevölkerung in den deutschen Ostprovinzen geboren, im Jahr 1924 waren es noch 22,13 Prozent. Dieser Rückgang erklärt sich daraus, dass die noch in Ostpreußen Geborenen in ihrer neuen Heimat Kinder bekamen, die nur noch über die Abstammung und nicht qua Geburt mit Ostpreußen verbunden waren, sodass der Anteil der Ersteren zwangsläufig zurückging. Eine neuere Chronik Gel- senkirchens kommt daher zu dem Schluss, „daß wenigstens jeder dritte Einwohner Gelsenkirchens herkunftsmäßig an Ostpreußen gebunden ist“.

Was die Herkunft der Bevölkerung Schalkes betriffl, so waren im Jahr 1900 24,27 Prozent in Ostpreußen, Westpreußen und Posen geboren. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass „53,19 % aller [Schalker] Einwohner in Westfalen geboren waren, bedeutet dies, dass 52,60 % der außerhalb Westfalens gebürtigen Schalker Bevölkerung aus dem Osten stammte“ (Gehrmann, „Fußball in einer Industrieregion“). Dabei ist zu berücksichtigen, dass, wie im Falle Gesamt-Gel- senkirchens, auch in Schalke ein hoher Anteil der in Westfalen Geborenen seine Wurzeln in den deutschen Ostprovinzen hatte, sodass der tatsächliche Anteil der Bevölkerung mit nichtwestfälischen Wurzeln noch bedeutend höher gewesen sein dürfte. Legt man die Kirchenbücher der evangelischen Gemeinde im Stadtteil Schalke zugrunde, so ergibt sich für das Jahr 1900, dass 39 Prozent der Personen, die zwischen 1894 und 1914 eine Ehe eingingen, aus Ostpreußen, und das heißt zum überwiegenden Teil aus Masuren, stammten. Für den benachbarten Gelsenkirchener Stadtteil Rotthausen ergibt sich sogar ein Wert von 48 Prozent.

Die Belegschaft des größten Schalker Arbeitgebers, des Bergwerks Consolidation, umfasste laut einer Erhebung vom 31. Dezember 1899 zu 55,3 Prozent „fremd- oder gemischtsprachige Arbeiter, d. h. solche, die nur polnisch oder neben deutsch auch polnisch sprachen“. Damit gehörte „Consol“, wie auch die benachbarten Gelsenkirchener Schachtanlagen Hibernia (50,1 %), Wilhelmine Victoria (52,2 %) und Graf Bismarck (71 %), zu den 19 sogenannten Polenzechen im Ruhrgebiet, deren Belegschaften zu mehr als der Hälfte aus fremd- oder gemischtsprachigen Bergleuten bestanden.

In der neuen Heimat

Parallel zur Abteufung von Schacht II der Zeche Consolidation wurde 1872 die erste Bergarbeiterkolonie in Schalke errichtet, und 1913 konnte „Consol“ seinen 7.100 Beschäftigten immerhin bereits 1.100 werkseigene Wohnungen bieten. Diese Wohnungen verfügten über vier Zimmer und kosteten drei Schichtlöhne, etwa 15 Reichsmark, monatlich an Miete.

Doch nicht nur mit günstigem Wohnraum versuchten die Werbeagenten der Unternehmen, die Menschen ins Ruhrgebiet zu locken, sondern auch mit dem Versprechen, dass sie in ihrer neuen Heimat, quasi als Entschädigung für die ungewohnte Tätigkeit und die ungewohnten Arbeitsbedingungen, zumindest ähnliche Lebens- und Wohnverhältnisse sowie ein ihrer jeweiligen Herkunftsregion ähnliches soziales und kulturelles Umfeld vorfänden. Auf diesen letzteren Punkt wies der eingangs zitierte „Masurenaufruf“ nachdrücklich hin. Besonders betont wurde, dass die Zuwanderer in der neuen, ihnen fremden Umgebung, die im Fall der Masuren „ganz wie ein masurisches Dorf“ sei, ausschließlich unter Landsleuten leben würden, also unter Menschen gleicher Sprache und gleicher soziokultureller Prägung. Aus Sicht der strenggläubigen evangelischen Masuren besonders wichtig war die Zusicherung, dass sie nicht in Kontakt mit katholischen Polen kämen. Damit war eine künftige Ghettobildung in den isolierten, in unmittelbarer Nähe der Schachtanlagen oder sonstigen Betriebe errichteten Werkssiedlungen fernab der alten, gewachsenen Dörfer und Bauerschaften zwischen Ruhr und Emscher vorgeprägt.

Doch was heute angesichts neuer Migrantenströme in den Staaten der Europäischen Union sozialen Sprengstoff birgt, für politische Spannungen sorgt und Populisten rechter Couleur reichlich Zulauf beschert, wurde damals ausdrücklich als Standortvorteil angepriesen und von der Politik gutgeheißen. Im konkreten Fall bedeutete dies: An ihrem Arbeitsplatz arbeiteten die Zuwanderer unabhängig von Herkunft und Abstammung zusammen und wurden Teil der schwerindustriellen Arbeiterschaft, ansonsten aber galt: Masuren blieben unter Masuren, Polen unter Polen, Schlesier unter Schlesiern usw. Eine Vermischung der unterschiedlichen Kulturen fand nicht statt und war weder erforderlich noch erwünscht.

Der Raum zwischen Lippe und Ruhr wurde daher im Zuge der „größte[n] Binnenwanderung der deutschen Geschichte“ (Hering) keineswegs zu einem „Schmelztiegel“ der Völker und Kulturen. Vielmehr „schuf die überfallartige Industrialisierung eine äußerst vielgestaltige und differenzierte, von sichtbaren räumlichen wie unsichtbaren sozialen, weltanschaulichen, ethnischen und religiösen Trennlinien durchzogene Region“ (Hering).

Der einheimischen Bevölkerung fiel es angesichts dieser Separierung umso leichter, die Zuwanderer, ob Masuren, Polen oder andere, pauschal als „fremdes Pack“, oder „Gesocks aus dem Osten“ verächtlich zu machen. Diese Ablehnung, die sich eher aus Vorurteilen denn aus eigener Anschauung speiste, verstärkte bei den solcherart Abqualifizierten und Ausgegrenzten die Tendenz zur Abschottung in eigenen Subkulturen, die aufgrund der fremden Umgebung und der im Vergleich zu früheren agrarischen Tätigkeiten ungewohnten Industriearbeit ohnehin vorhanden war. Vor allem die Masuren wurden aufgrund ihrer polnisch klingenden Namen und ihrer dem Polnischen ähnelnden Sprache von Einheimischen und Behörden pauschal mit Menschen polnischer Abstammung gleichgesetzt, mit einer Gruppe also, die in Deutschland traditionell tiefste Verachtung hervorrief. Weil die Zuwanderer aus dem Osten zudem an ihren neuen Arbeitsplätzen eine hohe Leistungsbereitschaft an den Tag legten, dabei aber zugleich, weil an ein anspruchsloses Leben gewöhnt, bereit waren, für weniger als den ortsüblichen Lohn zu arbeiten, schlug ihnen in den Betrieben oft die Feindschaft der angestammten Belegschaft entgegen, die die Neuen als „Kriecher und Lohndrücker“ (Urban) verachtete.

Selbst linksgerichtete Presseorgane schürten die Vorbehalte gegen die Zuwanderer aus dem Osten. So stellte das sozialdemokratische Bochumer Volksblatt sie in seiner Ausgabe vom 23. April 1907 als Menschen dar, die „aus der Pollackei hergeschleppt“ worden seien und die „erst vor kurzem die Mistgabel, ihr bisheriges Handwerkszeug, fortgelegt“ hätten. Hintergrund war die im Anschluss an die vom Militär blutig niedergeschlagene „Herner Polenrevolte“ erlassene „Bergpolizeiverordnung des Königlichen Oberbergamtes Dortmund“ von 1899, die unter Verweis auf zahlreiche Arbeitsunfälle „unter Polen“ eine Weiterbeschäftigung von Zechenarbeitern nur bei ausreichenden Deutschkenntnissen erlaubte. Die Verordnung betraf allerdings auch die zugewanderten Masuren, von denen viele nur sehr schlecht oder gar kein Deutsch sprachen. Dabei ging es wohl weniger um die Sicherheit am Arbeitsplatz als darum, dem Unmut derer entgegenzuwirken, die sich beschwerten, dass kürzlich zugewanderte Ostmigranten als Vollhauer beschäftigt würden, während Einheimische jahrelang als Schlepper oder Lehrhauer arbeiten müssten.

Möglicherweise schmollte die Bochumer SPD-Zeitung aber auch, weil die Migranten aus dem Osten sich als resistent gegenüber den organisatorischen Bestrebungen der linksgerichteten Arbeiterbewegung erwiesen. So organisierten sich etwa die sehr traditionell eingestellten Masuren, wenn überhaupt, lediglich in den von Arbeitgebern und der evangelischen Kirche initiierten „Ostpreußischen Arbeitervereinen“, die den Nationalliberalen nahestanden. Ihre ausgeprägte Frömmigkeit, die konservative Grundhaltung, ihr Selbstverständnis als „Altpreußen“ und damit einhergehend ihre „patriotische königstreue Gesinnung“, die der ostpreußische Konsistorialrat Hermann Pelka 1898 bei einer Visitation beobachtete, immunisierte die Masuren weitgehend gegen die „Verlockungen der Sozialdemokratie“ (Kossert).

Die erste Akkulturation der Masuren im Ruhrgebiet vollzog sich daher hauptsächlich über die evangelische Masurenseelsorge. Im Jahr 1898 lebten schätzungsweise 25.600 erwachsene Masuren im Ruhrgebiet, die sich auf zwölf Kirchengemeinden verteilten, an deren Gemeindeleben sie in der fremden Umgebung regen Anteil nahmen. So besuchten am Karfreitag 1912 in Gelsenkirchen und Schalke 1.000 Masuren die in polnischer Sprache abgehaltene Abendmahlsfeier. Auch an der Weihnachtstradition der Jutrznia (Frühpredigt) wurde in der Schalker Kirche festgehalten:

„Kopf an Kopf stand die Menge in allen Gängen und Portalen, auf den Kanzel- und Altarstufen bis obenhin saßen die Angehörigen. [...] Und dann der Gesang aus dieser Gemeinde! Wie brauste es durch das Gotteshaus, daß schon allein hiervon die Herzen erfaßt und bewegt wurden!“,

frohlockten die Heimatgrüße in ihrer Ausgabe vom 9. September 1912.

Natürlich verfolgte die Masurenseelsorge ihre ganz eigene Agenda, die auf einer Linie mit der staatstreuen Grundhaltung des deutschen Protestantismus lag. So sah der bereits erwähnte Gelsenkirchener Pfarrer Mückeley die Aufgabe der kirchlichen Arbeit darin, „die Masuren vor den negativen Einflüssen in einer fremden Umgebung zu bewahren“, die für den Seelsorger in „Trunksucht, der Verwahrlosung, der Gottentfremdung“ bestanden, außerdem gelte es, die „Lockungen des Polentums, der Sozialdemokratie und der Sekten“ abzuwehren. In Preußens „Wildem Westen“ ähnelten die Masuren den Pionieren der amerikanischen Frontier, wenn sie sich im Streben nach Geborgenheit und Sicherheit an Althergebrachtes, die eigene Familie, die eigene Kultur und den eigenen Glauben klammerten.

Das Industriedorf Gelsenkirchen

Im Jahr der Stadtwerdung 1875 zählte die Gemeinde Gelsenkirchen mit den heutigen Stadtbezirken Altstadt und Neustadt 11.282 Einwohner. In dem nördlich gelegenen Dorf Schalke lebten im selben Jahr 7.828 Menschen. Zahlreiche neue Zechen- und Werksgründungen, deren Arbeitskräftebedarf aus der einheimischen Bevölkerung längst nicht mehr gedeckt werden konnte, sorgten für einen stetigen Zustrom von Migranten. In die Jahre 1880 bis 1910 fiel der Höhepunkt der masurischen Zuwanderung ins Ruhrgebiet. Die rasante Industrialisierung und das damit einhergehende Bevölkerungswachstum beschleunigten in den kommenden Jahrzehnten die Entwicklung einst unbedeutender Bauer- schaften zu städtischen Gemeinwesen.

Als Alt-Gelsenkirchen im Jahr 1903 mit dem Amt Schalke, bestehend aus Schalke, Heßler, Braubauerschaft, Bulmke und Hüllen, sowie der Gemeinde Ückendorf zusammengelegt wurde, verfügte die neue Großstadt auf einen Schlag über 138.098 Einwohner und zählte, gemessen an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft, zu den größten Städten des Deutschen Reiches. Vier Jahre später lebten bereits 154.585 Menschen im Raum Gelsenkirchen, von denen 59.612 aus der Stadt selbst, 44.019 aus Rheinland und Westfalen, 3.496 aus Hessen-Nassau, Hessen und Waldeck, 34.325 aus Ost- und Westpreußen und Posen, 10.432 aus anderen Teilen des Deutschen Reiches und 2.701 aus dem Ausland stammten. Zudem ist davon auszugehen, dass unter den 59.612 gebürtigen Gelsenkirche- nern des Jahres 1907 bereits viele Zuwanderer der zweiten Generation waren.

Die Neuankömmlinge wurden von der Aussicht auf Arbeit und den im Vergleich zum Reichsdurchschnitt erheblich höheren Löhnen im Bergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie an die Ruhr gelockt. In der neuen Umgebung blieben sie weitgehend unter sich, ihre sozialen Aktivitäten entfalteten sich streng getrennt nach landsmannschaftlicher Zugehörigkeit und Konfession, etwa in kirchlichen Vereinen und Bruderschaften, deren Ziel Geselligkeit, Brauchtumspflege, Rechtshilfe, Musik oder Bildung waren. Die plötzlich zu Großstädten mutierten Dörfer und Bauerschaften fingen gerade erst an, eine ihrer Bevölkerungszahl entsprechende soziokulturelle Infrastruktur aufzubauen. In ihrem Kern blieben sie Dörfer, in deren Umgebung sich industrielle Betriebe ansiedelten, deren Belegschaften in isolierten Kolonien ohne Anbindung an gewachsene Siedlungsstrukturen lebten.

Ein solches „Industriedorf“ war auch die Großstadt Gelsenkirchen, deren wirtschaftliche Bedeutung längst über den ursprünglichen dörflichen Rahmen hinauswies. Im Jahr 1897 förderten im Stadt- und Landkreis Gelsenkirchen 30.112 Bergleute, die etwa ein Zehntel der Gesamtbelegschaft aller Zechen im Staat Preußen ausmachten, gut ein Zehntel der preußischen Gesamtproduktion an Steinkohle. Die bunt zusammengewürfelte, wenig selbstbewusste Einwohnerschaft identifizierte sich zu dieser Zeit noch längst nicht mit „ihrem“ Gemeinwesen, das eine der für das Ruhrgebiet der Hochindustrialisierungsphase typischen Gemengelagen aus Industriebetrieben, Versorgungsleitungen, alten Dorfcernen, neuen Werkssiedlungen, Straßen- und Schienenwegen aufwies. Noch drückten Stahlmagnaten und Bergwerksherren den im Schatten der Industrieanlagen ungebremst wachsenden Gemeinden ihren Stempel auf. Und deren Siedlungspolitik orientierte sich am Wohl des Unternehmens, nicht dem der Gemeinde, in deren Nachbarschaft es sich niedergelassen hatte. Dabei suchten die Firmen durch die Koppelung von Arbeits- und Mietverträgen Arbeiter längerfristig zu binden und zu disziplinieren, um auf diesem Wege die starke Fluktuation teils ganzer Belegschaften einzudämmen. Diesem Zweck dienten auch Unterstützungskassen, Konsumvereine und andere Einrichtungen betrieblicher Fürsorge. Erst allmählich entwickelten sich von unternehmerischen Eigeninteressen unabhängige städtische Strukturen, entstand eine leistungsfähige kommunale Verwaltung.

Am 15. Mai 1847 erhielt Gelsenkirchen in unmittelbarer Nachbarschaft der Zeche Hibernia, in der Nähe des Siedlungsschwerpunkts Wiehagen, seinen ersten Bahnhof. Es war eine sogenannte Durchgangsstation, die erst 17 Jahre später, am 9. Dezember 1864, den Namen „Bahnhof“ erhielt. Von hier aus verteilten sich im 19. Jahrhundert die Zuwandererströme auf die „Industriedörfer“ der Umgebung. Vom Bahnhof führte ein etwa 700 Meter langer Trampelpfad zum eigentlichen „Stadtkern“, dem alten Dorf Gelsenkirchen. Ab 1895 verkehrte hier eine elektrische Straßenbahn, die den Pferdeomnibus ablöste und, von Schalke kommend, weiter bis nach Bochum fuhr, bis 1910 eingleisig, danach bis 1941 zweigleisig, bevor die Straßenbahn in die parallel verlaufende Husemannstraße verlegt wurde.

Im Jahr 1904 wurde mit dem Bau eines repräsentativen Bahnhofsgebäudes begonnen. Der Neubau, der die Bahn näher an die wachsende Stadt rückte, war keineswegs unumstritten. Bürgermeister Friedrich Wilhelm Vattmann sprach sich im tiefsten westfälischen Platt vehement gegen das Projekt aus: „Nää, wi wollt den groten Bahnoff nich hebben. Dann kumm al die slechten Lüe nach Cheskerenk. Die wollt wi nich.“ So fern die Sprache heute erscheint, so aktuell ist die Argumentation.

Die bis dahin ebenerdig quer über den Bahnhofsvorplatz verlaufende Bahntrasse wurde im Zuge des Bahnhofsneubaus höher gelegt, unterhalb der Bahnsteige verband fortan eine Unterführung die bislang von den Gleisen zerschnittenen Bezirke Altstadt und Neustadt. Das lichtdurchflutete Bahnhofsrestaurant gab sich luxuriös und großstädtisch, in gediegenem Ambiente samt Palmen und holzgetäfelter Decke konnten Bahnreisende sich die Wartezeit mit Speisen und Getränken verkürzen. Seit 1906 verfügte die neue Station, die sich nun „Hauptbahnhof“ nannte, auch über ein Kino, die „Bahnhofs-Lichtspiele“.

Aus dem unbefestigten Feldweg zwischen Bahnhof und altem Dorf wurde die Bahnhofstraße, die auf Betreiben des Industriellen Heinrich Mönting („Vater der Bahnhofstraße“) zur Hauptverkehrsachse ausgebaut wurde und sich in Konkurrenz zur Schalker Straße im benachbarten Stadtteil Schalke zur wichtigsten Gelsenkirchener Einkaufsstraße entwickelte. Zahlreiche Kaufleute und Gastwirte siedelten sich hier an. Zeitweise besaß Gelsenkirchen 78 Gaststätten, aber nur 70 Laternen, die ab 1863 die Bahnhofstraße beleuchteten. Dass sie noch bis 1913 dazu diente, Schlachtvieh zum Schlachthof in Rotthausen zu treiben, schmälerte den Glamour der neuen Gelsenkirchener Pracht- und Flaniermeile mit ihren zahlreichen Hotels, Cafés, Warenhäusern und Spezialgeschäften sowie vier Kinos kaum. Im Jahr 1904 öffnete hier Gelsenkirchens bis dato wohl modernstes Gebäude seine Pforten: das von dem Architekten Bruno Paul im Bauhausstil gestaltete Kaufaaus der Firma Sinn, dessen dreigliedrige Schwarzweißfront einen kühlen Kontrast zu den barock-überladenen Fassaden der Gründerzeitbauten auf der Bahnhofstraße bildete. Ein architektonischer Gegenentwurf zum Sinn-Gebäude war das ein Jahr später in der Nähe des alten Dor&erns eröffnete Warenhaus Overbeck & Weller, dessen mit Marmor und Mosaiken, antiken Säulen, schwülstigem Zierrat und einem Springbrunnen im Eingangsbereich versehenes Interieur den Kunden eine „bildungsbürgerliche Wohlfühlatmosphäre“ (Oehlert) versprach, sprich: sie in einen Konsumrausch versetzen sollte. Im Jahr 1909 öffnete dann auf der Bahnhofstraße der erste sogenannte Vollsortimenter - das, wie ein Werbeprospekt verhieß, „mit allen Errungenschaften moderner Warenhaustechnik“ ausgestattete Kaufaaus der Gebrüder Alsberg: „Statt einzelner Fachbetriebe gab es alles unter einem Dach. [...] Vom Orientteppich bis zur Buchdruckerei konnte der Kunde hier, unterstützt von 450 Mitarbeitern, alles finden“ (Oehlert). Passend dazu erhielt die Bahnhofstraße eine neue Gasbeleuchtung und ein Pflaster aus geteertem Lärchenholz, „Klötzchen“ nannten die Einheimischen den neumodischen Straßenbelag.

Gelsenkirchen wurde zur Großstadt, und der preußisch-wilhelminische Obrigkeitsstaat beeilte sich, der städtebaulichen Entwicklung mit eigenen Repräsentativbauten seinen Stempel aufzudrücken. Zu diesen steinernen Machtdemonstrationen zählten der Schlachthof (1886), das neue Rathaus, ein verspielter Bau mit Spitztürmen, Erkern und gotischen Fenstern, der eher an Schloss Neuschwanstein denn an einen Verwaltungsbau erinnerte (1894), das Amtsgericht (1900), die Badeanstalt (1904), die erste ihrer Art im Ruhrrevier, deren Gründung hygienischen Notwendigkeiten entsprang, da die meisten Wohnungen weder über Toiletten noch über Bäder verfügten, und die Hauptpost (1911), die zusammen mit dem Hauptbahnhof den neu gestalteten Bahnhofsvorplatz nach Osten hin abschloss.

In der angrenzenden Ortschaft Schalke bestimmte hingegen nicht der Staat den Takt der Stadtentwicklung, sondern die Industrie. Keimzelle und Zentrum der neuen Ortschaft war das Bergwerk Consolidation, an das im Süden unmittelbar der Schalker Markt angrenzte. Im direkten Umkreis siedelten sich bald andere Industriebetriebe an, von denen aus sich das „neue“ Schalke anfangs planlos auf den bislang landwirtschaftlich genutzten Freiflächen zwischen den Industrieanlagen ausbreitete. Erste Impulse zu einer planvollen Stadtentwicklung gingen von der Industrie aus. Der Stadtteil Schalke wurde rasterförmig angelegt, die Hauptachsen bildeten in Nord-Süd-Richtung die Kaiser- bzw. König-Wilhelm-Straße und die Schalker Straße (ein alter Wiesenweg, der von der Zeche 1870 zunächst zur „Friedrichstraße“ ausgebaut wurde) und in WestOst-Richtung die Magdeburger bzw. Gewerken- und Grenzstraße. Erst im Jahr 1903 erhielt Schalke, das nun zur neuen Großstadt Gelsenkirchen gehörte, nach einer Typhusepidemie eine Kanalisation.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte sich die Kaiserstraße zwischen Kaiserplatz und Schalker Markt zur repräsentativen Prachtstraße, gesäumt von Bäumen und klassizistischen Villen. Hier wohnten Bergwerksund Fabrikdirektoren, höhere städtische Beamte und Fabrikanten. Treffpunkt der Schalker Oberschicht war um 1900 der holzvertäfelte „Fürstenberger Hof“.

Etwas profaner waren die Vergnügungen in der parallel verlaufenden Schalker Straße, wo sich Geschäfte und Gaststätten aneinanderreihten, wo „normale“ Schalker ihre Einkäufe tätigten und die Kumpel sich nach der Schicht oder sonntags nach der Kirche mit Bier und „Kurzen“ stärkten. Durch die Schalker Straße ratterte im Jahr 1910 auch die Straßenbahn, die Alt-Gelsenkirchen mit dem Industrievorort verband und bis zur Endstation Schalker Markt fuhr.

Ein wenig der baulichen und kommerziellen Entwicklung hinterher hinkte die soziale Fürsorge der sprunghaft gewachsenen Großstadt für ihre Bewohner. Sie beschränkte sich auf das Polizeiwesen und die Armenpflege sowie den Bau von Straßen und Schulen. „Die Säuglingssterblichkeit ist hoch, die Schulbildung schlechter als in älteren Städten. Seuchen grassieren“, heißt es in der Schalker Vereinschronik Königsblau aus dem Jahr 2015. Für einen rudimentären soziokulturellen Unterbau durch „ein ausgebautes Netz von Umfeldorganisationen“, zu denen „Jugendverbände und Gesangsvereine ebenso wie Sportvereine“ zählten, sorgten die Kirchen und die verschiedenen politischen Lager. Weil diese Aktivitäten sich in gesonderten sozialen, konfessionellen und landsmannschaftlichen Subkulturen entfalteten, entstand in den neuen „Industriedörfern“ eine „politisierte Sozialstruktur“ (Königsblau) - der „Masurenaufruf“ hob ausdrücklich darauf ab -, innerhalb derer die einzelnen sozialen Gruppen ein relatives Eigenleben führten.

Aufgebrochen wurde diese Struktur durch eine Bewegung, die, aus England kommend und zunächst bürgerliche Pennälerkreise erfassend, nach dem Ersten Weltkrieg in der Industriearbeiterschaft: wachsenden Zuspruch fand und sich in den folgenden Jahren zu einem klassenübergreifenden Massenphänomen entwickelte: den Fußballsport.

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13 Vgl. dazu https://www.kuladig.de/Objektansicht/A-P363L310-20100420-0007, zuletzt aufgerufen am 19. Juni 2017.

14 Vgl. https://www.gelsenkirchen.de/de/stadtprofil/stadtgeschichten/stadtname_und_stadtwappen/index.aspx, zuletzt aufgerufen am 26. Juni 2017.

Ernst Kuzorra

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