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1. DER STOFF, AUS DEM LEGENDEN SIND

O Ernst Kuzorra, ich hab’ dich spielen geseh’n. Und deine Technik, die war wunderschön!

Gesungen zur Melodie des Schlagers „Oh, Donna Clara“

„Da hab’ ich ihn einfach reingewichst!“

Der 24. Juni 1934 ist ein schwüler, drückend-heißer Frühsommertag mit Temperaturen um die 25 Grad. Dunkle Gewitterwolken hängen über der Reichshauptstadt Berlin. Im alten Poststadion an der Lehrter Straße in Moabit fiebern an diesem Sonntagnachmittag 45.000 Zuschauer dem Anpfiff des Endspiels um die Deutsche Fußballmeisterschaft zwischen dem 1. FC Nürnberg und dem FC Schalke 04 entgegen. Unter ihnen sind auch etwa 3.000 Schalker Schlachtenbummler aus dem gesamten Ruhrgebiet, von denen einige in Ermangelung des Geldes für eine Zugfahrkarte die gesamte Strecke mit dem Fahrrad zurückgelegt haben.

Zum ersten Mal seit sieben Jahren wird der deutsche Fußballmeister wieder in Berlin ermittelt, entsprechend groß ist der Andrang, auch wenn es - für die Berliner enttäuschend - keine einheimische Mannschaft ins Finale geschaffl hat. Der Meister der Gauliga Berlin-Brandenburg, der Berliner FC Viktoria 1889, ist im Halbfinale mit 1:2 am fünfmaligen Deutschen Meister Nürnberg gescheitert. Für den „Club“ ist es die sechste Finalteilnahme, die Schalker stehen nach der überraschenden Vorjahresschlappe gegen Fortuna Düsseldorf zum zweiten Mal im Endspiel um die „Deutsche“.

Die Nürnberger Mannschaft befindet ich im Umbruch und tritt bis auf den 41-jährigen Luitpold Popp mit einer „Jungen Garde“ an, im kicker-Buch Endspielfieber heißt es, dass sich „das Aussehen der Elf gründlich gewandelt“ habe. Schalke hingegen bietet mit Hans Mellage, Ferdinand Zajons, Valentin Przy- bylsky, Fritz Szepan, Ernst Kuzorra, Emil Rothardt und Hermann Nattkämper sieben Spieler auf, die seit 1932 in sämtlichen Endrundenpartien um die Deutsche Meisterschaft auf dem Platz standen. Und die wollen es diesmal wissen, nachdem sie im Vorjahr den fast schon sicher geglaubten ersten nationalen Titel leichtfertig verspielt haben. Damals kassierten sie in der kompletten Endrunde nur ein Gegentor, im Achtelfinale beim 4:1 auf heimischem Platz gegen die Berliner Viktoria 1889. Dann hatten wir in Köln gegen Fortuna Düsseldorf aber keine Chance, wir verloren 0:3.

Die Schalker sind diesmal direkt mit der Bahn nach Berlin gereist, statt wie im letzten Jahr unmittelbar vor dem Finale noch für ein paar Tage in ein „Trainingslager“ zu fahren. Damals hatte man die Spieler im Vorfeld des Endspiels aus dem gewohnten Alltagstrott genommen und an den Halterner Stausee im nördlichen Ruhrgebiet verfrachtet, wo sie stundenlang in der Sonne lagen, sich langweilten, abends nicht einschlafen konnten und irgendwann von Fußball die Nase voll hatten. Am Finaltag waren dann alle zwar braungebrannt, aber unausgeschlafen, matt und unkonzentriert und unterlagen folgerichtig hellwachen Düsseldorfern. „Das sonst so quicklebendige Spiel der Schalker Mannschaft machte einen merkwürdig verkrampften Eindruck, man hatte den Eindruck, als ob fast alle Spieler Blei in den Knochen hätten“, erinnerte die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung ihre Leser neun Jahre später aus Anlass des bevorstehenden neunten deutschen Finales mit Schalker Beteiligung in ebenso vielen Jahren.

Ein Jahr nach der unverhoffien Schlappe gegen die Düsseldorfer Fortunen wissen die Schalker es besser und nehmen Quartier im Hotel „Russischer Hof“ nahe dem Bahnhof Friedrichstraße, wo die Mannschaft sich abschottet, um sich ganz auf das bis dato wichtigste Spiel der Vereinsgeschichte zu konzentrieren. „Seit sechs Jahren kämpfen wir nun um die Deutsche, machten viermal den Westdeutschen und sind bis auf 1933 immer vor dem Endspiel rausgeflogen“, äußerte Schalkes Vorsitzender Fritz „Papa“ Unkel vor der Abreise gegenüber Vertretern der heimischen Presse, um optimistisch hinzuzusetzen:

„Ich vertraue mit ganz Gelsenkirchen auf unsere Mannschaft - und es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn’s danebenginge. [...] Ja, wir fahren mit der festen Überzeugung nach Berlin, dass es zum Deutschen Meister reicht. Ein bisschen noch den Daumen halten - vielleicht geht’s dann noch besser.“

Als die Schalker im Finale nach starkem Auftakt den Faden verlieren, sieht es zunächst nicht so aus, als würde Daumendrücken helfen. Als ob wir Blei an den Füßen gehabt hätten, so haben wir gespielt. Weder beim Fritz [Szepan] noch bei mir oder den anderen lief es, der Kreisel rollte nicht. Während die Nürnberger vor allem durch ihren 25-jährigen halbrechten Angreifer Max Eiberger, der erst vor einem Jahr vom TSV Schwaben Augsburg zum Club gestoßen ist, immer wieder für Gefahr im Schalker Strafraum sorgen. Die erste Halbzeit ist ein einziges großes Zittern - auf dem Rasen, auf den Rängen und bei allen Schalkern, die irgendwo an den Rundfunkgeräten hängen. Meist nicht allein, denn noch steht in den wenigsten deutschen Privathaushalten einer jener „Volksempfänger“, die im August 1933 auf der Berliner Funkausstellung erstmals vorgestellt worden sind. Die erste Halbzeit endet torlos. Nach dem Wiederanpfiff brauchen die Nürnberger genau neun Minuten, um durch ihren Mittelstürmer Georg Friedel 1:0 in Führung zu gehen. „Nürnberg hat sich freigemacht, wiedergefunden, zieht eine wunderschöne Kombination auf, die von einem Stürmer zum anderen läuft und die Schalker Hintermannschaft in Verwirrung bringt“, heißt es später im Fachblatt Fußball. Nun entfaltet sich „unter Gewitterwolkenkulissen ein Kampf mit grandioser Steigerung in den letzten Minuten“ (Endspielfieber), während es aus der Nürnberger Kurve tönt: „He-ha-ho, Schalke ist k.o.!“ Die Nürnberger ziehen sich jetzt zurück. Kuzorra winkt Szepan aus der Vorstopperposition nach vorne, Mittelstürmer Nattkämper geht zurück. Die Schalker Angriffe werden immer drängender, die Nürnberger schlagen den Ball einfach nur noch weg, egal wohin. „Jetzt wird es unerhört aufregend. Von Minute zu Minute wird es aufgepeitschter. Gleicht Schalke aus? Nürnberg ist ja gänzlich aus dem Leim“, wundert sich der Fußball. Während die Nürnberger weiter versuchen, die knappe Führung über die Zeit zu schaukeln, gelingt den Schalkern das schier Unmögliche. Von Trainer Hans „Bumbas“ Schmidt von der Seitenlinie angefeuert und auf dem Platz angetrieben von Kuzorra, entfachen die Schalker einen wahren Angriffswirbel. In der 78. Minute setzt „Ala“ Urban mit einem Lattenkracher das erste Ausrufezeichen in dem wütenden Schalker Sturmlauf. Dennoch: Als die Nürnberger noch drei Minuten vor Schluß mit 1:0 führten, da hätte keiner eine Mark auf unseren Sieg gewettet, ich auch nicht. Zwei Minuten vor dem Abpfiff ist es dann Szepan, der nach einer von Kuzorra erzwungenen Ecke, die Linksaußen Rothardt mit Effet in den Strafraum befördert, höher steigt als sein Bewacher Popp und das Leder mit dem Kopf an dem herausragenden Köhl im Tor der „Clubberer“ vorbei im rechten Eck versenkt. „Ein Kreischen, Jubeln und Brüllen - unbeschreiblich, Schalke hat ausgeglichen!!!“, berichtet der Fußball. Eine Verlängerung scheint unausweichlich. Aber auf ein solches Vabanque-Spiel wollen sich die Schalker nicht einlassen. Wir schnürten die Nürnberger ein, wir wollten den Sieg. Noch einmal will sich Kuzorra den Titel nicht vor der Nase wegschnappen lassen. Bis zum Umfallen haben wir gekämpft. Und als Valentin 60 Sekunden vor Schluss an den Ball kommt, auf Kalwitzki passt, der von rechts quer zu dem sich frei laufenden Kuzorra flankt, passiert, was heute fester Bestandteil der königsblauen Folklore ist:

Ich war eigentlich schon vollkommen platt. Ich war platt, geschaffi, aber Fritz [Szepan] hatte eben den Ausgleich geschossen. Und die schreien alle: Schalke! Schalke Schalke! Da warren et noch 120, 180 Sekunden zu spielen, der Ala [Urban] hatte auch noch einen vor die Latte gewemst. Der Schiri guckte schon so, als würde er gleich abpfeifen. Und dann kricht der Kalli [Kalwitzki] die Pille. Der überrennt den Abwehrspieler von die Nürnberger, watt weiß ich, wie der hieß ... ja, und dann flankt er zu mir. Ich krich den Ball außen Schlappen, stopp’ den Ball, lass’ zwei Mann ins Leere laufen ... Ja, und dann ... als ich nich’ wusste, wohin mit dem Ball... da hab’ ich ihn einfach reingewichst!

Im Spielbericht der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung vom 25. Juni 1934 liest sich das so:

„Kalwitzki rechtfertigt nun seinen guten Ruf: mit der besten Leistung des Tages legt er das Leder Ernst Kuzorra vor, der allein weiterdribbelt und schließlich nur noch dem Hüter gegenübersteht. Mit einem Bombenschuß schließt er die Aktion ab, und placiert landet der Treffer, der den Schalkern die Deutsche Fußballmeisterschaft bringt.“

Der Legende nach, die Kuzorra selbst zeitlebens mit zahlreichen Varianten vom Geschehen in der Schlussminute im Berliner Poststadion nach Kräften befeuerte, brach der seit Monaten unter einem „Leistenbruch“ leidende Torschütze Sekunden nach dem Torschuss ohnmächtig zusammen. Daß der Ball zum Siegtor im Netz landete, habe ich erst später von meinen Kameraden gehört. Diese Version verbreitete unmittelbar nach dem Finale bereits die Gelsenkir- chener Allgemeine Zeitung in ihrem Spielbericht, und sie ist seitdem in der Literatur immer wieder aufs Neue kolportiert worden. Wahrer ist sie dadurch jedoch nicht geworden. Denn schaut man sich den „Videobeweis“ an, jene 13 flimmerigen Filmsekunden vom dramatischen Schlussmoment des Endspiels, so sieht man, dass Kuzorra zum einen nach dem Zuspiel von Kalwitzki keine Sekunde zögert oder überlegt, was er mit dem Ball anfangen soll, und zum anderen nach seinem Siegtreffer trotz des angeblichen Leistenbruchs jubelnd Luftsprünge vollführt.3 Seiner Behauptung, er habe nicht gewusst, „wohin mit dem Ball“, und ihn deshalb „einfach reingewichst“, hat der Torschütze später übrigens selbst widersprochen: Wir hatten uns schon auf eine Verlängerung eingerichtet, da bekam ich von Kalli Kalwitzki den Ball. Ich verschaffie mir mit ein paar schnellen Schritten freie Schußbahn - und dann habe ich nur gedacht: Hau drauf! Es ist auch kaum vorstellbar, dass ein „Knipser“ wie Kuzorra im Moment der Torchance groß überlegt haben sollte: „Wohin mit dem Ball?“ Bei dem „Leistenbruch“ handelte es sich womöglich „nur“ um eine Leistenverletzung, die der 28-Jährige sich in den Spielen der Endrunde zugezogen hatte, die aber offenbar eine Operation erforderte.

Kuzorra selbst sprach später ebenfalls von einem „Leistenbruch“, der ihn die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1934 gekostet habe. Während des ItalienKursus in Duisburg-Wedau stellte Dr. Gebhardt nach gründlicher Untersuchung einen Leistenbruch fest. Daß da an eine Teilnahme an den Weltmeisterschaften nicht mehr zu denken war, bedurfte keiner weiteren Frage. Reichstrainer Dr. Otto Nerz riet ihm jedenfalls zu einer Operation, die der Schalker Stürmer dann aber aufschob. Wenn ich das gemacht hätte, wäre ich für die Spiele um die Deutsche ausgefallen. Und Schalke war mir wichtiger als die Weltmeisterschaft. Eine besondere Kompresse werde ich mir anlegen lassen, es wird auf die Zähne gebissen und dann muß es klappen - und es wird auch! Erst nach dem Gewinn der ersten Deutschen Meisterschaft ließ er sich in der Sportheilstätte Hohenlychen im Sauerland von dem Spezialisten Dr. Gebhardt operieren.

Mit letzter Kraft ...

Dass der Torschütze Ernst Kuzorra im Moment des Siegtreffers in der Schlussminute des Finales von Berlin erschöpft zusammengebrochen sei, gehört zu den unausrottbaren Legenden, die sich um den Aufstieg des FC Schalke 04 in den 1930er-Jahren ranken.

Am Anfang der Legendenbildung steht der Spielbericht der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung vom 26. Juni 1934, in dem es hieß, „[...] daß unmittelbar nach dem siegreichen Treffer Kuzorras zwei Spieler zusammensanken: Ernst Kuzorra, der Torschütze selbst, und sein Namensvetter Kalwitzki, der ihm die Flanke hereingab. [...] Es bemühen sich Leute so nebenher um diese Spieler, aber es dauert eine Weile, bis sie wieder zu sich gekommen sind“ („Deutscher Meister durch 10 Minuten“, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung, 26.6.1934). Noch heißt es aber lediglich, dass die Spieler „zusammensanken“, weil sie nach der körperlichen und nervlichen Anspannung des dramatischen Finales mit ihren Kräften am Ende waren.

Der Sportjournalist Theodor Krein spann in seinem erstmals 1948 unter dem Titel Die blau-weißen Fußballknappen erschienenen Buch Die Königsblauen das Garn dann weiter: „[...] da ist Kuzorra am Ball, ein Nürnberger rennt ihm entgegen, der Schalker kommt vorbei, schießt und bricht zusammen. Im Fallen sieht er, wie das Leder den Weg ins Tor nimmt. In letzter Minute ist der Siegtreffer gefallen!“ (S. 86) Unter einem Foto, das den nach dem Schlusspfiff tatsächlich am Boden liegenden Kuzorra zeigt, heißt es: „Und hier sehen wir ihn in restloser Erschöpfung zusammengebrochen auf der Kampfstätte liegen.“ Aber schließlich hatte Kuzorra vor dem Spiel versprochen: Ich werde kämpfen, bis ich umfalle.

Hans Holz geht in seinem Kuzorra-Erinnerungsbuch Der blau-weiße Kreisel noch einen Schritt weiter: „Unmittelbar vor dem Schlusspfiff hatte Kuzorra das Siegtor geschossen - danach war er ohnmächtig zusammengebrochen. [.] die Szene nach seinem Siegtreffer [bemerkte] er, bewusstlos, schon gar nicht mehr“ (S. 10 f.).

Der Historiker Siegfried Gehrmann beruft sich auf das 1936 erschienene Buch vom Deutschen Fußballmeister, wenn er feststellt: „Nach dieser mit letzter Anstrengung erzwungenen Energieleistung [dem 2:1-Siegtreffer] brach der Schalker ohnmächtig zusammen“ (Gehrmann, „Fußballidole“).

Dass Kuzorra nach dem Torschuss ohnmächtig wurde, ist inzwischen fester Bestandteil der Legende und findet sich so auch in Georg Röwekamps Geschichte des FC Schalke 04 Der Mythos lebt: „Und dann erläuft sich Kuzorra, trotz Schmerzen, in der 90. Minute eine Steilvorlage, schießt mit letzter Kraft und bricht ohnmächtig zusammen“ (S. 91). Kuzorra selbst formulierte es später so: In der letzten Minute habe ich eine Steilvorlage erwischt und voll getroffen. Der Ball saß. Keine Rede von Ohnmacht und Zusammenbruch.

Aus einem leicht angeschlagenen Spieler, der wegen einer Verletzung in der Leistengegend bandagiert auflief und in den Schlusssekunden eines kräftezehrenden Spiels mit einer entschlossenen Aktion eine Entscheidung in der regulären Spielzeit erzwingt, ist im Laufe der Jahrzehnte ein mythischer Held geworden, der schier übermenschliche Kräfte entwickelt, sich für seine Mitstreiter aufopfert und im Moment des Sieges der Realität entrückt ist.

Wie sehr die Mannschaft auf Kuzorra angewiesen war, hatten die Gruppenspiele der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft 1933/34 gezeigt, als die Schalker viermal ohne ihren Kapitän an treten mussten. Im März 1934 hatte sich Kuzorra in einem belanglosen Freundschaftsspiel gegen den STV Werne bei einem unglücklichen Fall einen Sehnenriss zwischen Schlüsselbein und Schulterknochen zugezogen.

In der ersten Partie auswärts gegen Werder Bremen sorgte dann „Bulle“ Nattkämper mit fünf Toren quasi im Alleingang für den Schalker 5:2-Sieg. Gegen den zweiten norddeutschen Gegner TV Eimsbüttel in der Dortmunder Kampftahn Rote Erde schossen die Schalker nach einem 1:1 zur Pause erst in der zweiten Halbzeit einen klaren 4:1-Sieg gegen einen Gegner heraus, der „durch den Kreisel müde und matt gehetzt“ (Koch)4 worden war. Als jedoch nach zwei unerwarteten Niederlagen gegen den VfL Benrath (0:1) und im Rückspiel gegen Eimsbüttel (2:3) plötzlich die Halbfi nalteilnahme in Gefahr geriet, kehrte Kuzorra mit geschienter Schulter in die Mannschaft zurück. Ich konnte die Jungens doch nich’ im Stich lassen. Im Rückspiel gegen Bremen in der Glückauf-Kampftahn gab es einen glatten 3:0-Sieg, und im letzten Gruppenspiel wurde der VfL Benrath in Duisburg 2:0 bezwungen. Im Halbfinale setzten sich die Schalker souverän mit 5:2 gegen den SV Waldhof 07 durch, der in Otto Siffling über einen der besten Mittelstürmer seiner Zeit verfügte, weil Szepan den gerade von der Weltmeisterschaft in Italien zurückgekehrten 31-fachen Nationalspieler so genau deckte, dass der ohne Wirkung blieb.

Kuzorras Sehnenriss an der Schulter war ausgeheilt, die Leistenverletzung natürlich nicht. Zur Finalpartie in Berlin trat er ohne Wissen der ihn behandelnden Ärzte an. Der kolportierte körperliche Zusammenbruch in der 90. Minute des Endspiels passt so immerhin perfekt in das Bild eines Kapitäns, der sich für seine Mannschaft um des gemeinsamen Zieles willen aufopfert. Wir waren eben eine echte Mannschaft, deren größte Stärke die Kameradschaft war. Die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung kam in ihrem Bericht über das Finale zu einem ähnlichen Schluss: „Festzustellen ist, daß diese beiden [Kuzorra und sein Flankengeber Kalwitzki] nicht einem harten Spiel, einer robusten Abwehr zum Opfer gefallen sind, dafür war auch in diesem gigantischen Kampf kein Raum; festzustellen ist, daß beide ihre letzte Kraft an den Sieg hingegeben haben.“

Dass Kuzorra nach seinem Siegtreffer nicht auf dem Platz in Ohnmacht fiel, ist die prosaische Wahrheit. Aber dass er hätte in Ohnmacht fallen können, ja, als Mannschaftskapitän geradezu in Ohnmacht fallen musste, um seiner Rolle als Schlüsselspieler, die er schon damals innehatte, gerecht zu werden und die erste Deutsche Meisterschaft der „Knappen“ durch sein „Leiden“ zu veredeln, ist konstitutiv für die Legende von der Aufopferung des Individuums für die Gemeinschaf . Es war die Bedingung dafür, dass Kuzorras Versionen seines Siegtreffers in späteren Jahrzehnten niemals in Zweifel gezogen wurden. Für die historische Wahrheit gab es schlichtweg keine Verwendung mehr, und niemand interessierte sich später dafür, wie es „wirklich“ gewesen war.

Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Kuzorra’schen Legende schimmert in der Wertung der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung bereits die von den neuen braunen Machthabern propagierte Idee der „Volksgemeinschaf“ durch, und das martialische Gerede von „Kampf“ und „Sieg“, wiewohl in der Sportberichterstattung der Zeit durchaus gängig, mochte im Kontext des seit mehr als einem Jahr wütenden nationalsozialistischen Terrors bei manchem Beobachter bereits düstere Vorahnungen wecken.

Mehr als 1000 Tore

So legendär Kuzorras Treffer zum 2:1-Sieg im Finale von 1934 bis heute ist, so legendär ist seine Torausbeute insgesamt. In der damaligen taktischen W-Staf- felung des Sturms mit drei vollwertigen Stürmern und zwei versetzt agierenden „Halbstürmern“ dahinter war Kuzorra „offiziell“ auf der Position des linken Halbstürmers gesetzt. Im Grunde war er ein Sturmtank mit untrüglichem Torinstinkt, schuss- und kopftallstark, aggressiv, athletisch und robust im Zweikampf. Ich spielte auch gerne Mittelstürmer, weil es da Tore zu ernten gab, war aber ebenso leidenschaftlich Halbstürmer, weil mir das Spiel mit dem Ball immer Freude bereitete. „Er konnte auf engstem Raum dribbeln und hatte einen Mordsbums“, urteilte Herbert Burdenski, linker Läufer in den Schalker Meistermannschaften 1940 und 1942, über das Spiel seines Kapitäns. Wie viele Tore Kuzorra im Lauf seiner Karriere erzielte? Darüber haben wir damals noch nicht Buch geführt, aber mehr als 1000 waren es ganz bestimmt. Und das mit einer Mannschaft, der es „nicht vornehmlich darum ging, Tore zu schießen, sondern [...] das Publikum zu unterhalten“ (Grüne). Wir haben immer gesagt, der Ball muss laufen. Wenn wir auf den Platz kamen, dann gab es keine Pause. Den Ball durch die eigenen Reihen „kreiseln“ zu lassen, bis sich in der gegnerischen Abwehr eine Lücke auftat, und dabei den Gegner schwindelig zu kombinieren, ihn buchstäblich ins „Kreiseln“ zu bringen, das war die Essenz des legendären „Schalker Kreisels“. Dessen Grundlagen waren in den 1920er-Jahren von den Brüdern Hans und Fred Ballmann gelegt worden, die das kunstvolle Flachpass- und Kombinationsspiel aus England an den Schalker Markt gebracht hatten.

In den vier Spielen der Meisterschaftsendrunde 1934, die Kuzorra bestritt (in den übrigen vier Partien musste er wegen des Sehnenrisses pausieren), erzielte er drei Treffer, darunter einen der wichtigsten seiner Karriere, den zum 2:1-Endstand im Finale. Insgesamt hatte Kuzorra damit seit dem Schalker Gauligaaufstieg 1926 in 89 Spielen in der 1. Ruhrbezirksklasse bis 1934 137 Tore erzielt, dazu kamen 57 Treffer in 59 Endrundenspielen zur Ruhrbezirks-, Westdeutschen und Deutschen Meisterschaft.

Am Ende seiner aktiven Lauftahn 1949 werden es in 475 Pflichtspielen für Schalke 443 Tore gewesen sein, was einer Trefferquote von 0,93 entspricht. Dazu kamen noch 376 nachweisbare Tore in 592 Freundschaftsspielen zwischen 1923 und dem 31. Dezember 1947, bis 1949 dürfte sich die Zahl auf etwa 600 erhöht haben.5 Kuzorra lag mit der Vermutung hinsichtlich seiner Treffsicherheit also keineswegs daneben.

Zum Vergleich: Klaus Fischer wird es Jahrzehnte später in 343 Pflichtspielen für Schalke „nur“ auf 223 Tore bringen (0,65). Fast so gut wie Kuzorra waren seinerzeit nur Adolf „Ala“ Urban (151 Spiele, 121 Tore, 0,80) und Ernst Kal- witzki (245 Spiele, 195 Tore, 0,79). Besser als alle zusammen ist, was die Torquote betriffl, bis heute Ernst Poertgen, der „kaltblütige Anstreicher“. In 101 Spielen für Königsblau erzielte er sagenhafte 104 Tore, was eine Quote von 1,03 ergab. Nimmt man jedoch nur die Gauligaspiele, ist einer allerdings noch besser: Georg Gawliczek. Der brauchte gerade mal vier Partien in der Spielzeit 1944/45, um 16 Tore zu erzielen. Die Quote von 4,0 dürfte Ewigkeitswert haben, ist in der Schalker „Torgeschichte“ jedoch nur eine Fußnote.

Kuzorras Sturmpartner Fritz Szepan brachte es mit 234 Toren in 342 Pflichtspielen „nur“ auf eine Quote von 0,68. Ein Rekord für die Ewigkeit dürften Kuzorras zehn „Buden“ beim 24:0 in einem Spiel gegen Langendreer 04/07 zugunsten der Winterhilfe am 26. November 1933 sein. Am Vortag hatten die Schalker in einem ersten Winterhilfsspiel bereits den SSV Remscheid 07 mit 14:0 abgefertigt. „In 180 Minuten 38 Tore!“, jubelte Turnen und Sport, die Sportbeilage der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung, anderntags - auch das dürfte ein Rekord für die Ewigkeit sein. „Bombensieg der Schalker Knappen“ musste der Remscheider Anzeiger dann auch neidlos anerkennen. Der Bochumer Anzeiger formulierte kriegerischer: „Trommelfeuer - Schalker Stürmer kennen kein Erbarmen“. Im Spielbericht fand Kuzorra besondere Erwähnung, der „als Sturmführer seine Leute glänzend dirigierte und auch an dem Torreigen den größten Anteil hatte. Er erzielte nicht weniger als zehn Treffer.“ Während die National-Zeitung lapidar vermerkte: „[Kuzorra] schoß mit 10 Treffern den Vogel ab.“ In Kuzorras Erzählungen am Stammtisch im Schalker Vereinslokal und in den Berichten einiger Chronisten waren es gelegentlich zwölf oder noch mehr Tore. Auch in diesem Fall siegte am Ende wohl die Legende über die Wahrheit. Und sollten es tatsächlich „nur“ zehn gewesen sein, konnte der Schütze immer noch behaupten: Es wären mit Sicherheit noch mehr geworden, wenn ich mich in der letzten Viertelstunde nicht freiwillig nach rückwärts orientiert hätte. Auch Kuzorras Hintersinn war legendär.

Dabei mussten - was aber offenbar nur für Pflichtspiele galt, siehe oben - Tore für Kuzorra stets einen Zweck erfüllen, und der lag nicht darin, möglichst hoch zu gewinnen. Was andere Schalker ähnlich sahen: „Denn ins Tor schießen [...], das war wahrhaftig nicht der Zweck des Spieles. Schön spielen, zaubern und kreiseln sollten alle. Tore wollten die Zuschauer gar nicht sehen, die waren lächerlich“, erinnerte sich Rechtsverteidiger Hans Bornemann, der mit den „Knappen“ sechsmal Deutscher Meister wurde, in der Jubiläumsschrift zum 50-jährigen Vereinsjubiläum augenzwinkernd.

Dennoch waren angesichts der Schalker Überlegenheit Kantersiege gegen Stadt- und Lokalrivalen schon seit den 1920er Jahren keine Seltenheit. Allerdings hatte das zur Folge, dass sich häufig nur ein paar Hundert Unentwegte ins Stadion verirrten. Am 13. Februar 1938 erlebten gerade mal 700 Zuschauer in der Kampffahn Glückauf ein 8:1 gegen Hüsten 09, zu dem Kuzorra zwei Tore beisteuerte. Auch deshalb waren die in solchen Partien ohne große Anstrengung herausgespielten Treffer im Grunde gar nicht wichtig, ebenso wenig wie Tore, die am Ende nicht zum gewünschten Erfolg verhalfen, etwa Kuzorras von ihm selbst als „ärgerlich“ bezeichnete beide Tore im Wiederholungsspiel um die Deutsche Meisterschaft 1938 gegen Hannover 96. Ärgerlich waren sie deshalb, weil sie nichts einbrachten! Denn die Partie ging in der Verlängerung mit 3:4 verloren. Und der Titel ging an Hannover 96.

Ein Tor, das etwas „einbrachte“, war Kuzorras Treffer zum 2:1 gegen den 1. FC Nürnberg im Meisterschaftsfinale 1934, „wieder mal eine der alten Kuzorra- Bomben“, wie die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung anderntags schrieb. Es bescherte Schalke die erste Deutsche Meisterschaft, war aber nicht Kuzorras erster spielentscheidender Treffer in einem entscheidenden Spiel. Acht Jahre zuvor hatte er ein ähnlich wichtiges Tor erzielt. Eines, mit dem der damals 20-Jährige das Fundament für die Schalker Erfolge der nächsten anderthalb Jahrzehnte legte.

Als Sieger in der Gruppe Gelsenkirchen der zweitklassigen Emscher-Kreis- liga trafen die Schalker am 18. April 1926 im Endspiel um die Kreismeisterschaft und den Aufstieg in die 1. Ruhrbezirksklasse im Altenessener Kaiserpark auf die Sportfreunde 07 Essen. Zur Halbzeit lagen sie 0:1 hinten. In der Kabine gab es fragende Gesichter in Richtung des Kapitäns, der sich siegesgewiss gab. Das Spiel gewinnen wir, wollen wir und müssen wir gewinnen! Tatsächlich glich Schalke nach der Pause durch Huppertz aus, und in der 114. Minute traf Kuzorra zum siegbringenden 2:1. Knapp zweieinhalb Jahre nach seiner zweiten „Gründung“ und pünktlich zum Ablauf der vom Westdeutschen Spielverband 1922 verfügten vierjährigen Auf- und Abstiegssperre stieg der Verein damit in Westdeutschlands höchste Spielklasse auf.

„6 Minuten vor Schluß fällt endlich das Siegtor, das schönste, das die Zuschauer seit langer Zeit gesehen haben. Eine Flanke von halbrechts nimmt Kuzorra und köpft zum ,Gauligaaufstieg‘ ein. Der Rest der Spielzeit war ein Drängen Essen’s, jedoch Schalke war nicht mehr zu schlagen“,

schrieb die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Montagsausgabe vom 19. April 1926 über diesen Treffer, der ebenfalls etwas „einbrachte“.

Dreifach gegründet hält besser

Im Jahr 1904, nicht überprüffaren mündlichen Überlieferungen zufolge am 4. Mai, einem Mittwoch, gründeten ein paar Jungbergleute und Handwerkslehrlinge aus der Gegend um die Herzog-, Hammer- und Gewerkenstraße in Schalke den SV Westfalia Schalke. Um den Makel des „wilden Vereins“ loszuwerden, schloss man sich acht Jahre später, am 17. März 1912, dem Schalker Turnverein 1877 an und bemühte sich erfolgreich um Aufnahme in den Westdeutschen Spielverband (WSV).

Nachdem der Spielbetrieb im Ersten Weltkrieg zum Erliegen gekommen war, wurde 1915 auf Initiative des aus Essen-Kray stammenden Bankangestellten Robert Schuermann mit einigen Gleichgesinnten aus bürgerlichen Kreisen erneut ein Verein unter dem Namen „SV Westfalia Schalke“ ins Leben gerufen, der noch im selben Jahr Aufnahme in den WSV fand. Nachdem sein Gründer Schuermann und die meisten Spieler zum Militär eingezogen worden waren, konnte aber auch dieser Verein keine Spiele mehr austragen.

Am 25. Juli 1919 schlossen sich nach Streitigkeiten um die Nutzung eines gemeinsamen Spielfeldes an der Grenzstraße die „zweite Westfalia“ und der Schalker TV 1877, der bereits die „erste Westfalia“ geschluckt hatte, zum „Turn- und Sportverein Schalke 1877 e.V.“ zusammen.

Nach der von der Deutschen Turnerschaft zum 31. Dezember 1923 verfügten „reinlichen Scheidung“ zwischen Turnern und Sportlern verließen die Fußballer den TuS Schalke 1877 vier Jahre später wieder und gründeten am 5. Januar 1924 in der Gaststätte Oeldemann an der Ecke Wilhelminen- und Grenzstraße in Gelsenkirchen den FC Schalke 04.

Ein Jahr später sicherte Kuzorra dem Aufsteiger quasi im Alleingang die erste Ruhrbezirksmeisterschaft, als er in den beiden Finalpartien gegen den BV Altenessen (1:0, 2:2) alle drei Schalker Treffer erzielte. Zuvor hatten die Essener noch getönt: „Wir werden es diesen Schalker Jungens schon zeigen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Kuzorra belehrte sie eines Besseren. Auch im Spitzenspiel um die Westdeutsche Meisterschaft gegen den punktgleichen Duisburger Spielverein wenige Wochen später war es der junge Nachwuchsstürmer, der beide Schalker Tore zum 2:2-Endstand erzielte. Die reichten jedoch nicht, um den Schalkern in ihrem ersten Gauligajahr zur „Westdeutschen“ zu verhelfen, denn die letzte Endrundenpartie gegen Fortuna Düsseldorf ging mit 3:4 verloren, während die Duisburger ihr letztes Spiel gewannen.

Auch Treffer, die nach Kuzorras Philosophie „nichts einbrachten“, waren natürlich Tore, und die produzierte der Schalker inzwischen am Fließband. In seinen 89 Gauligaspielen zwischen dem Aufstieg 1926 und der ersten „Deutschen“ 1934 blieb er lediglich in 21 Spielen torlos. In 59 Endrundenpartien zur Ruhrbezirks-, Westdeutschen und Deutschen Meisterschaft traf er lediglich 21-mal nicht, netzte in den übrigen 38 Spielen aber 57-mal ein. In den Gauliga-Spielzeiten von 1926 bis 1934 war er für etwa ein Drittel der Schalker Torausbeute verantwortlich. Nur Hermann Nattkämper erzielte in den Spielzeiten 1931/32, 1932/33 und 1933/34 für die Königsblauen mehr Treffer als Kuzorra; das Torverhältnis der beiden betrug in diesen Jahren 19:18, 23:19 und 24:18.

Schönheit und Effizienz

In den acht Jahren des Schalker Aufstiegs von der Emscher-Kreisliga bis zur ersten Deutschen Meisterschaft war Kuzorra Schalkes „Tormaschine“. Seine Treffer hatten entscheidenden Anteil daran, dass die deutsche Meisterschaftstrophäe „Viktoria“ im Sommer 1934 erstmals an den Schalker Markt kam. Dabei war das Kreiselspiel, wie Aussagen von einigen Mitspielern Kuzorras bestätigen, gar nicht primär aufs Toreschießen angelegt. Durch schnelle Flachpässe, verwirrende Kombinationen und häufiges, wie man heute sagen würde, „Verschieben“, eröffnete es den Spielern jedoch immer wieder Räume, die Torgelegenheiten schufen. Wir haben den Ball laufen lassen - und plötzlich kam der Steilpaß. Die filigrane Schalker Spielweise, das jeden Gegner langsam zermürbende schnelle Kurzpassspiel und die bullige Aggressivität eines Ernst Kuzorra ergänzten einander perfekt. In seinen besten Momenten spielte Schalke schön und erfolgreich. In seinen dunkelsten wurde man hingegen Opfer des schönen Spiels. Nach dem 3:3-Unentschieden gegen Hannover 96 im Meisterschaftsfinale 1938 schrieb die Fußball-Woche: „Es wurde wunderschön kombiniert, aber über lauter Abspielen und Quergepasse wurde das Schießen vergessen.“ Und als das Wiederholungsspiel 3:4 verloren ging, urteilte dasselbe Blatt: „Schalke ist in der zweiten Halbzeit wieder in seine beliebte Kreiselmanie verfallen und hat über dem Kreiseln den Meistertitel eingebüßt.“

Dieses schöne Spiel des gut eingespielten Schalker Kollektivs (Unser Spiel lief hinterher fast maschinenmäßig - wie eine Uhr) brauchte die Aggressivität, die Entschlossenheit und die, wie es 1941 in Endspielfieber heißt, „Kuzor- rasche[r] Schußgewalt“, um den durch das ständige „Kreiseln“ eingelullten Gegner im entscheidenden Moment zu überrumpeln. Der damalige Dresdner Spieler und spätere Bundestrainer Helmut Schön erinnerte sich: „ Sie passten quer und zurück. Das Spiel schien sich auf der Stelle zu drehen. Aber dann kam die Explosion, der Steilpass, der Schuss.“ Dabei durfte die Schönheit des Spiels niemals der puren Effizienz geopfert werden. Wenn ich heute sehe, wie die Verteidiger die Bälle rausschlagen, das hätten sie bei mir früher nicht machen dürfen. Bei uns wurde von hinten herausgespielt. Eine Spielweise, die sich Jahrzehnte später im niederländischen Totaalvoetbal, im „Tiki-Taka“ des FC Barcelona unter Pep Guardiola und in der spanischen Welt- und Europameisterelf von 2008, 2010 und 2012 wiederfinden sollte. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass nun alles in sehr viel höherem Tempo passierte. Denn dass beim „Schalker Kreisel“ der Ball stets besonders schnell durch die eigenen Reihen lief, gehört ebenso ins Reich der Legenden wie Kuzorras angebliche Ohnmacht im Finale von 1934. „Da hieß es dann immer: der Schalker Kreisel. Und der Kreisel ist ja dann noch einige Jahre fortgeführt worden. Das war dann ungefähr so: An der Mittellinie hat man sich gegenseitig die Bälle zugespielt, und der Gegner hat hinten drin gestanden. Die kamen gar nicht raus“, erinnerte sich Willi Kos- lowski, Rechtsaußen der Schalker Meistermannschaft von 1958, 2017 in einem interview.

Dass Schönheit und Effizienz im Schalker Spiel zueinander fanden, dafür sorgte ab 1933 ein gebürtiger Fürther. Mit Hans „Bumbas“6 Schmidt, der 1914 als 20-jähriger Spieler mit der SpVgg Fürth Deutscher Meister geworden war und diesen Erfolg 1924, 1925 und 1927 mit dem 1. FC Nürnberg dreimal wiederholte, kam ein Trainer an den Schalker Markt, der den „phlegmatischen und temperamentlosen westfälischen Dickköppe[n]“, wie er die Schalker scherzhaft nannte, jene Portion Entschlossenheit und Zielstrebigkeit im Strafraum einimpfte, die sie 1934 an die Spitze führen sollte. Schmidt legte auch Wert auf eine verstärkte Abwehr. „Er machte Schalke härter, selbstbewusster und siegessicherer“, erinnerte sich später Hans Bornemann, der alle Schalker Endspiele bis 1942 mitmachte und an sämtlichen Schalker Erfolgen der „goldenen Jahre“ beteiligt war. Schmidts taktische Anweisungen waren an Aussagekraft kaum zu überbieten: „So, ihr Arschlöcher, geht da rein und gewinnt!“

Die Legende sagt, dass Mannschaftskapitän Ernst Kuzorra nicht nur auf dem Platz die bestimmende Figur war, sondern auch, wenn es um Fragen des Trainings, der Mannschaftsaufstellung und der Prämiengestaltung ging. Diese Legende hat Kuzorra nach Kräften selbst befeuert: Wissen Sie, ein Mannschaftsführer muß gleichberechtigt neben dem Trainer sein. Dabei offenbarte er ein recht eigenwilliges Verständnis von Gleichberechtigung: Wir hatten immer einen Trainer, aber die Aufstellung habe ich gemacht. Nach drei Jahren wurde gewechselt. Manche haben gebettelt: Ernst, lass mich noch ein Jahr, doch ich habe gesagt: Nix da!

Der Wahrheitsgehalt der Legende lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei bestimmen. Aber sicher musste sich jeder Trainer mit Kuzorra gut stellen, wollte er im Schalker Fußballverein erfolgreich sein. Daran sollte sich selbst Jahrzehnte nach Kuzorras Lauffiahnende nichts ändern. Als Friedel Rausch 1977/78 wegen der sportlichen Talfahrt der Mannschaft sowie aufgrund des Vorwurfs, Gelder veruntreut und im Juni 1973 zwei Jugendspiele durch finanzielle Zuwendungen manipuliert zu haben, in Bedrängnis geriet, schaltete sich der damalige Schalker Vizepräsident Ernst Kuzorra ein: Friedel Rausch sollte von sich aus von seinem Amt zurücktreten, um dem Verein weitere Belastungen zu ersparen. Tatsächlich wurde Rausch am 20. Dezember 1977 entlassen und durch seinen Assistenten, den früheren Jugendtrainer Uli Maslo, ersetzt.

Welch herausragende Rolle Ernst Kuzorra nicht nur als Spieler für den FC Schalke 04 bekleidete, verdeutlichen spätere Aussagen ehemaliger Mitspieler: „Der Ernst Kuzorra? - Der war für Schalke 04 alles“ (Ernst Kalwitzki). „Er bestimmte nicht nur die Taktik und war Chef, er war auch für die sogenannten Drecksarbeiten da, wenn es mal irgendwo überhaupt nicht lief“ (Ernst Poertgen). „Er war der Chef unseres Teams, er bestimmte immer, wie wir spielten“ (Otto Tibulsky).

Dennoch hatten Trainer in Schalke durchaus gestalterische Möglichkeiten, wie Kuzorra nach dem Gewinn der vierten Westmeisterschaft 1933 (1:0 gegen Fortuna Düsseldorf ) gegenüber einem Reporter auch selbst freimütig eingestand:

Und nicht zu vergessen ist der Mann, der uns überhaupt so weit führte: unser Trainer Kurt Otto. Er hat uns zusammengeschmiedet zu einer Einheit, in der Kameradschaftsgeist und Einigkeit bis zum letzten herrschten. Er hat uns so weit gebracht, daß wir einfach so spielen mußten, wie wir es taten!

Unter Otto erreichte Westmeister Schalke 1933 erstmals das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Einen Tag vor dem Finale - erneut gegen Fortuna Düsseldorf - in Köln widmete die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 10. Juni 1933 eine ganze Seite dem Training der Mannschaft in der Glückauf-Kampfoahn. Für die damalige Zeit beinahe revolutionär, bestand es in erster Linie aus Lauf- und Konditionstraining. Ein abschließendes Raufoallspiel mit einem Medizinball sollte die Zweikampfstärke verbessern. Mit gymnastischen Übungen wurden „Kraft, Ausdauer und Wendigkeit“ trainiert. Es waren die Kernelemente der „Lauf- und Körperschule“ von Trainer Kurt Otto.

Die Spieler wurden vom Trainer körperlich fit gemacht und taktisch geschult - und von Kuzorra aufgestellt. Oder auch nicht, nämlich dann, wenn sie nicht „spurten“: Einmal kamen zwei jüngere Spieler und wollten mehr Geld. Da habe ich sie zwei Wochen lang nicht aufgestellt. Als sie dann wieder mitspielen durften, waren sie ganz klein. Dann aber haben sie auch die richtige Prämie

gekriegt. Denn auch in finanziellen Dingen redete Kuzorra ein gewichtiges Wort mit, wobei er sich, glaubt man seiner Darstellung, sowohl als ein sich seiner Position sehr bewusster wie auch taktisch gewiefter Vermittler zwischen Mannschaft und Vereinsführung erwies:

Als Schalke genug Geld hatte, wollten die Mannschaftskameraden über meinen Kopf mehr Prämie beim Vorstand herausholen. Ich bekam Wind von der Sache, bin zum Vorstand gegangen und habe gesagt, wenn die anderen kommen, dann bleibt hart, meine Unterstützung habt ihr. Meine Mitspieler blitzten ab. Später dann habe ich beim Vorstand das Mehrfache herausgeschlagen.

Trainer Kurt Otto wurde knapp drei Wochen nach dem verlorenen deutschen Meisterschaftsfinale gegen Fortuna Düsseldorf zum 30. Juni 1933 entlassen und durch erwähnten Schmidt ersetzt, der dann entgegen Kuzorras „Vorgaben“ nicht nur „drei Jahre“ blieb, sondern gleich fünf, bis zum Sommer 1938. In taktischen Dingen ließ sich der sture Franke von niemandem reinreden. Auch nicht vom Schalker Kapitän. So verbannte er nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Linksaußen Rothardt Adolf „Ala“ Urban, der nach einem einjährigen Zwischenspiel beim von den Nationalsozialisten verbotenen Arbeitersportklub Schalke 24 zu Schalke 04 zurückgekehrt war, im Meisterschaftsfinale 1935 auf die linke Außenbahn. Alle Proteste des Rechtsfußes fruchteten nichts, und tatsächlich entwickelte sich Urban auf links zu einem wichtigen Aktivposten im Schalker Spiel. Er war schnell, dribbelstark und konnte präzise flanken, wenn er es nicht vorzog, von links nach innen zu ziehen und einen angeschnittenen Ball hart und platziert ins lange Toreck oder unter die Latte zu setzen. Mit 79 Treffern in 80 Gauligaspielen und 30 Toren in 47 Endrundenpartien hatte er enormen Anteil an den Schalker Erfolgen der Jahre 1933 bis 1942.

Die Ära von Trainer Schmidt wurde zur größten Zeit der Königsblauen, und Kuzorra erlebte unter dem Franken die Glanzpunkte seiner Karriere mit drei Deutschen Meisterschaften und einem deutschen Pokalsieg - die damals obligatorischen Gauliga-Titel gar nicht mitgerechnet.

In Gelsenkirchen bekamen wir kein Bein auf die Erde

In den acht Jahren seines Aufstiegs zur Nummer eins im deutschen Fußball schuf der FC Schalke 04 die Grundlagen seines Mythos. Dieser Mythos hat die vielen Jahrzehnte des Mittelmaßes, die auf die acht goldenen Jahre von 1934 bis 1942 folgten, bis heute unbeschadet überdauert. Die wichtigsten Schalker Spieler wurden schon zu Lebzeiten zu Legenden. Die Erfolge dieser Frühzeit waren die moderne Version des mythischen Kampfes zwischen David und Goliath, und der Schalker Mythos erzählt vom Triumph der Unterdrückten und Benachteiligten über ihre Widersacher, vom Sieg des „kleinen Mannes“ über „die da oben“.

Laut Brockhaus (2005) bieten Mythen „Identität und Integration im kulturell-sozialen Kontext“. In ihnen spiegelt sich die „Suche nach Sinn in einer von technisch-bürokratischen Zwängen beherrschten Welt“. Mit den Schalker Helden konnte sich eine ganze Region identifizieren. Ihre sportlichen Großtaten wurden für die Menschen im Ruhrgebiet und weit jenseits der Grenzen des Kohle- und Stahlreviers legendär. Die prosaische Wahrheit interessierte im Augenblick des Triumphs und danach niemanden mehr. „Noch nie hat der Gewinn einer deutschen Fußballmeisterschaft einen so ungeheuren Widerhall in den Herzen der Bevölkerung einer ganzen Stadt, ja eines ganzen Reviers gefunden, und man kann behaupten, daß der Volkssport Fußball noch nie volksnäher gewesen ist als in dem Augenblick, wo er Schalke 04 mit der Meisterwürde krönte“, hieß es am 5. Juli 1934 im offiziellen DFB-Organ Deutscher Fußball-Sport.

Damals erhielten die Schalker auf der Rückfahrt von Berlin am Montag nach dem Finale einen Vorgeschmack auf das, was sie in Gelsenkirchen erwartete. Erste westfälische Station der Meisterelf war Bielefeld, wo Gratulanten der Arminia und des VfB 03 auf den Bahnsteig kamen. „Schalke, wir grüßen Dich“ prangte auf Transparenten in den Bahnhöfen entlang der Strecke. Den Spielern wurden Blumensträuße, Kränze und Geschenke überreicht. In Dortmund tranken sie aus goldenen Bechern, trugen sich Mannschaft, Trainer und Vereinspräsident im Rathaussaal ins Goldene Buch der Stadt ein. Ernst Kuzorra als Erster, ganz oben, mit großem, selbstbewusstem Schwung, verschnörkeltem „E“ und einem Bogen auf dem „u“, es folgten in einem bunten Buchstabensalat aus Sütterlin- und lateinischer Schrift Ferdinand Zajonz [Zajons], Hermann Mel- lage, Fritz Szepan, Ernst Kalwitzki, Emil Rothardt, Otto Tibulsky, V. Valentin, A. Urban, H. Bornemann, H. Nattkämper, F. Unkel und Hans Bumbas Schmidt.

„Tausende von Menschen stehen auf dem Bahnhofsvorplatz schon eine Stunde, bevor die Schalker überhaupt in Gelsenkirchen sein können. [...] So etwas hat Gelsenkirchen, hat Deutschland noch nie erlebt. Man weiß nur eins: eine ganze Stadt, eine Stadt von dreihundertdreißigtausend Einwohnern steht Kopf. Fast eine halbe Million Augen gucken, wenden ihren Blick zu dem Zentralknotenpunkt des Haupteinganges, um die Ankunft des Deutschen Fußballmeisters zu erwarten“,

schrieb die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 26. Juni 1934 („So empfängt Gelsenkirchen seinen und Deutschlands Meister“). „Die SS erhält Befehl, das Publikum, das sich in beängstigender Anzahl auf Bahnsteig 2 eingefunden hat, zurückzudrängen. Es werden Verhaltensmaßregeln herausgegeben, aber Frauen fallen in Ohnmacht und werden die Treppe heruntergetragen.“

Pünktlich um 19 Uhr 18 lief der Zug im Gelsenkirchener Hauptbahnhof ein. Sonne Fahrt wie von Berlin nach Hause hab ich nie wieder mitgemacht. Überall blau-weiße Fahnen und jubelnde Menschen. In Gelsenkirchen bekamen wir kein Bein auf die Erde, vor dem Bahnhof war alles schwarz vor Menschen, erinnerte sich Kuzorra später. Vom Bahnhofsvorplatz aus erstreckten sich die Menschenmassen die Bahnhofstraße hoch und weiter über die Kaiserstraße bis zum Schalker Markt. Dort erwarteten ebenfalls Tausende Anhänger die Spieler, deren Konterfeis die Front der „Kaiserhalle“, des Schalker Vereinslokals, schmückten. „Als erster steigt Mellage aus, und man weiß noch nicht, wie das alles weitergeht. Ein Hochrufen, ein Rufen, Schreien, Drängen und Wehren ist auf dem Bahnsteig, daß man gar nicht weiß, was man tun soll“, so die Gelsen- kirchener Allgemeine Zeitung.

„Sie sind da, sind wieder in der Heimat, und die Minute steht ihnen bevor, da die Stadt, diese vielen tausend Menschen ihnen den Dank abstatten wollen dafür, daß sie dem Namen der viel verrufenen Stadt solche Ehre heimbrachten“, fasste das Lokalblatt die unglaubliche Atmosphäre zusammen, auf welche die siegreichen Schalker Fußballer trafen. Und die freuten sich: „Heute haben wir alle Sympathien für uns.“ Fritz Szepan, der die Schalker in der 87. Endspielminute mit seinem Kopftalltor zum 1:1-Ausgleich wieder ins Spiel gebracht hatte, bevor Ernst Kuzorra Sekunden vor dem Schlusspfiff die Entscheidung herbeiführte, und der nun zusammen mit Kuzorra auf den Schultern der Fans aus dem Bahnhofsportal herausgetragen wurde, konnte es nicht fassen: „Wenn die Leute doch vernünftig wären [...].“

Der Finalsieg von Berlin gab dem Selbstwertgefühl nicht nur der Gelsen- kirchener, sondern der gesamten Revierregion enormen Auftrieb. Schalkes Triumph vereinte Menschen, die seit Jahrzehnten unter einem „sozialen Minderwertigkeitskomplex“ litten, so der Sozialhistoriker Siegfried Gehrmann, und sich als StieMnder des sozialen und materiellen Fortschritts empfanden. Sie identifizierten sich mit einer Mannschaft, deren Spieler demselben sozialen Milieu entstammten wie sie selbst. Die diesem Milieu über ihre Arbeitsplätze und Familien weiter verbunden waren und die als Kollektiv bewiesen hatten, dass es möglich war, sich gegen Hindernisse und Widerstände zu behaupten, wenn man nur unbeirrt sein Ziel verfolgte.

Dass die Schalker in Berlin, angeführt von Kapitän Kuzorra, bis zum sprichwörtlichen Umfallen gekämpft hatten, entsprach der Lebenserfahrung der Anhänger. Auch sie mussten tagtäglich für ihren Lebensunterhalt kämpfen und dabei immer wieder Rückschläge hinnehmen. Schalkes Triumph war der sichtbare Beweis, dass es sich lohnte, niemals aufzugeben und immer weiter für seine Interessen zu kämpfen. Sechsmal hintereinander waren die Schalker zuvor in den Endrunden um die Deutsche Meisterschaft am großen Ziel gescheitert, beim siebten Mal erreichten sie ihr Ziel. Sie hatten sich nie entmutigen lassen, und am Ende war ihr Einsatz belohnt worden. Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind.

Zwischen Amateur und Profi

Wie sehr Schalke zur Legendenbildung taugte, hatte der Verein bereits drei Jahre vor dem erfolgreichen Finale unter Beweis gestellt. Als die erste Mannschaft am 1. Juni 1931 in der Glückauf-Kampffahn auflief, drängten sich gut 70.0 Menschen im und vor dem Stadion. Kuzorra & Co. hatten seit Oktober 1930 kein Spiel mehr bestritten und lösten mit ihrem ersten Auftritt nach Aufhebung einer vom WSV verfügten Sperre zum 30. Mai 1931 einen Massenansturm aus, wie ihn Fußballdeutschland noch nicht erlebt hatte.

Knapp ein Jahr zuvor, am 25. August 1930, hatte die Spruchkammer des WSV acht Funktionäre des Vereins ausgeschlossen und 14 Spieler wegen Berufs- spielertums gesperrt, also praktisch die gesamte erste Ligamannschaft des FC Schalke 04. In der Saison 1930/31 spielte Schalke mit einer Notmannschaft aus Akteuren, die kaum jemand kannte. Das Verfahren habe

„aufgrund der vorliegenden buchlichen Belege und der Geständnisse der beteiligten Vorstandsmitglieder und der Spieler ergeben, dass 1. die Spieler der ersten Mannschaft regelmäßig Spesenbeträge erhalten haben, die über das satzungsmäßige Maß weit hinausgingen; 2. neben den Spesen regelmäßig für die spielerische Mitwirkung eine regelrechte Entlohnung gezahlt wurde; 3. mehrere dieser Spieler außerdem weitere Zuwendungen in Gestalt von Geschenken, Darlehen und Vorteilen in ihrer beruflichen Stellung angenommen haben“,

womit alle Betroffenen „in weitestem Maße“ gegen das Amateurstatut von 1920 („Berufsspieler ist jeder, welcher für die Ausübung des Fußballspiels [...] eine Entschädigung in Geld oder Geldeswert annimmt“) verstoßen hätten.

Weltfremde Moralapostel

Der Deutsche Fußball-Bund und die regionalen Fußballverbände verstanden sich von Anfang an nicht nur als sportpolitische Organisationen, sondern auch als ethische Instanzen und moralische Wächter über einen Sport, der nach ihrem Verständnis ausschließlich von Amateuren ausgeübt werden durfte. Geld für etwas zu nehmen, das man aus Sicht der Funktionäre zur eigenen Körperertüchtigung und zum Wohle der Nation betrieb, galt als anrüchig: „Wir bekämpfen das Berufsspielertum aus ethischen Gründen. [.] Es wäre ein Frevel an unsrer deutschen Jugend, wollten wir das Berufsspielertum in Deutschland auch nur im Geringsten begünstigen“, hieß es im Amateurstatut des DFB von 1920. „Wir spielen um die Ehre“, lautete das Credo, und wer Amateur war, hatte der DFB bereits 1902 in seiner Satzung in verschnörkeltem Behördendeutsch festgeschrieben:

„Als Amateur ist derjenige zu betrachten, der wissentlich noch nie um einen Geldpreis oder um eine Vergütung in baar [sic] oder in Gegen- ständen Fußball gespielt oder zum Zwecke des Lebensunterhaltes Unterricht in irgendwelchen Sportzweigen erteilt oder der für Reisen als aktiver Spieler eine Entschädigung in baar oder in Gegenständen erhalten hat, die seine Reise- und Hotelkosten nach Ansicht des Ausschusses des D.F.B. in erheblichem Maaße übersteigen, oder der für verlorene Zeit eine Entschädigung erhält“ (zit. nach: Grüne/Schulze-Marmeling, S. 37).

Dass die Verbände beim Amateurideal zweierlei Maß anlegten, schien indes keinen der Verantwortlichen zu stören. Manchen Vereinsspielern hingegen stieß es sauer auf, dass Länderspielteilnehmer hohe Tagesspesen vom DFB bekamen und gelegentlich in luxuriösen Schlafwagen reisten und in teuren Hotels logierten. Zeitungen schrieben von einer ,,vergiftete[n] Atmosphäre“ (zit. nach: Königsblau, S. 105), welche die Großzügigkeit gegenüber den Nationalspielern und die Strenge gegenüber den Vereinsspielern schaffe. Auch sonst bestachen die Funktionäre eher durch Inkonsequenz: So zahlte der Dresdner SC seinen Spielern Siegprämien, 50 Reichsmark für ein Spiel gegen den SV Guts Muts 1902 Dresden und einmal sogar 100 Reichsmark in der Zwischenrunde der Deutschen Meisterschaft gegen die SpVgg Fürth. Gerüchten zufolge zahlten Klubs in Süddeutschland ihren Spielern 50 Reichsmark Handgeld pro Spiel. Mitunter profitierten sogar Dritte: Als der Abwehrspieler Hans Appel vom Berliner SV 92 zu Hertha BSC wechselte, erhielt seine Mutter eine monatliche Rente von 60 Mark vom Verein, was die Verbände ebenfalls stillschweigend hinnahmen.

Dabei war im Amateurstatut penibel geregelt, was erlaubt war und was nicht: „Berufsspieler ist jeder, welcher für die Ausübung des Fußballspiels [...] eine Entschädigung in Geld oder Geldwert annimmt.“ Handgelder, Siegprämien und Tagesspesen über einer bestimmten Höhe waren ebenso untersagt wie Geschenke, Darlehen, Gefälligkeiten oder die Vermittlung von Arbeitsstellen, um Spieler an einen Verein zu binden. Wären diese Bestimmungen rigoros angewendet worden, hätte der deutsche Spitzenfußball seinen Betrieb allerdings komplett einstellen müssen. Die Anschubfinanzierung für den Tabakladen von Ernst Kuzorra und Fritz Szepan, die spätere Vermittlung einer Arbeitsstelle für Szepan beim Jugendamt der Stadt Gelsenkirchen, die Rente für Hans Appels Mutter - all das verstieß gegen die Amateurregeln. Regeln, die aus einer Zeit stammten, als vornehmlich bürgerlichen Kreisen entstammende Sportler nicht auf Einnahmen angewiesen waren. Seitdem der Fußball sich jedoch zum kommerziellen Mas- senzuschauersport entwickelte, wirkte das Amateurideal zunehmend antiquiert. Wie andere Sportarten wurde auch der Fußball zusammen mit den neuen Massenmedien Rundfunk und Film Teil einer Populärkultur, deren Erzeugnisse breite Bevölkerungsschichten faszinierten und allen Beteiligten ungeahnte Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten boten. Bei einer neuen Generation von Spielern aus dem proletarischen Milieu weckten die mit den Zuschauerzahlen steigenden Einnahmen der Vereine den nicht zuletzt aus der wirtschaftlichen Not der 1920er-Jahre geborenen Wunsch, aus ihrem Sport auch materiellen Nutzen zu ziehen, sahen sie doch, „dass mit dem Fußball ,etwas zu verdienen war“‘ (Goch/Silberbach). Die Spieler des FC Schalke 04 machten da keine Ausnahme.

„Paragraphen erschüttern den F.C. Schalke 04“, titelte die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung am 27. August 1930: „Während der westdeutsche Meister in Mitteldeutschland Siege erfocht, wurde er in Duisburg erschlagen. Buchstaben standen gegen die Vernunft - und die Vernunft mußte weichen. - Die unerbittliche Lehre: Fort mit veralteten Satzungen!“

Die Buersche Zeitung bemühte die 1918 von der deutschen Obersten Heeresleitung verbreitete Verschwörungstheorie, wonach dem im Felde unbesiegten kaiserlichen Heer gewissenlose „Vaterlandsverräter“ in der Heimat in den Rücken gefallen seien, die somit die Schuld an der deutschen Niederlage trügen, um das Verdikt des WSV ins rechte Licht zu rücken. „Der Dolchstoß gegen Schalke 04 - Die Sportbürokratie erwürgt den Meisterverein Schalke 04“, titelte das Gelsenkirchener Blatt am selben Tag. Und das Fachblatt Fußball sprach von einem „aufreizenden Fehlurteil, das nur den in allen Fugen krachenden deutschen ,Amateurbetrieb‘ verschleiern möchte“. Dass der DFB in der Tat mit seinen Länderspielteilnehmern sehr viel großzügiger verfuhr, als er dies den Vereinsspielern zugestehen wollte, und dass Verstöße anderer Klubs gegen die Amateurstatuten nicht oder nur halbherzig geahndet wurden, bot durchaus Stoff für Verschwörungstheorien. So wurden in die gleiche Richtung zielende Ermittlungen gegen die SpVgg Köln-Sülz 07 im Jahr 1931 eingestellt. Lediglich Borussia Mönchengladbach hatte es elf Tage vor Verkündung des Schalker Urteils ähnlich getroffen: Fünf Spieler wurden gesperrt und zu Geldstrafen verurteilt, zwei Funktionäre aus dem WSV ausgeschlossen bzw. für ein Jahr gesperrt. Dass hingegen der Dresdner SC seinen Spielern seit Jahren Handgelder und Siegprämien zahlte oder dass mindestens ein Spieler der Frankfurter Eintracht nach Auskunft eines Mitspielers vom Verein entlohnt wurde („Wozu bekommt der Kerl denn 250 Mark im Monat?“), schien beim DFB niemanden zu kümmern. Die Schlussfolgerung der Buerschen Zeitung, dass mit dem Bann des WSV gegen Schalke an einem proletarischen Verein ein Exempel statuiert werden sollte, weil dessen phänomenaler Aufstieg vielen bürgerlichen Verbands- und Vereinsfunktionären ein Dorn im Auge sei, erscheint vor diesem Hintergrund nicht ganz abwegig. Das sah auch Ernst Kuzorra so: Das Geld spielte eine Rolle und der Neid vieler anderer auf die immer größer werdenden Erfolge des FC Schalke 04. Wir haben statt der erlaubten fünf Mark Spesen zehn Mark bekommen. Was die Buersche Zeitung rechtfertigte:

„Kuzorra und Czepan werden die Zuwendungen, die sie vom Verein erhielten, restlos dafür verbraucht haben, dass sie ihr Geschäft7 während ihrer häufigen Abwesenheit von fremden Leuten beaufsichtigen lassen mussten. Das ist nur gesagt, um den Gerüchten die Spitze zu nehmen, die besagen, dass die Schalker Spieler ein Herrenleben von den Einkünften des Vereins geführt hätten.“

Kuzorra und die übrigen gesperrten Schalker Fußballer galten fortan als Profis - in einem Land, in dem es offiziell keine Profis gab. Die haben uns rausgeschmissen, schimpfte Kuzorra.

Ein Gedicht, das „von der kaltgestellten Mannschaft zusammengereimt wurde“ (GAZ, 28.8.1930), hielt dem WSV vor, dass er sich mit der Sperre ins eigene Fleisch schneide:

Großer F.C.S., stolzer F.C.S.

Denke nicht mehr an die Zeiten,

Als Du warst sehr groß,

Hattest sehr viel „Moos“,

Konntest Dir ein Stadion leisten ...

Doch der WSV

Nahm es ganz genau

Mit Spesen und Diäten -

Und er setzte mit Gewalt

Dann die ganze Mannschaft kalt,

Die so oft sein Stolz gewesen ...

Dennoch würde es zu kurz greifen, das Problem des Amateurismus im deutschen Fußball der 1920er-Jahre nur aus der Perspektive der sich als Opfer einer vorgestrigen Sportbürokratie empfindenden Schalker zu sehen. Seit der Fußballsport sich vom elitären Freizeitvergnügen materiell abgesicherter Angehöriger des Bürgertums zum Element einer im Entstehen begriffenen Unterhaltungsindustrie entwickelte, welche die breiten Massen faszinierte und über Eintrittsgelder und Werbeeinnahmen Gewinne erwirtschaftete, erhitzte die Frage, wer in welcher Weise von diesen Geldern profitieren sollte, die Gemüter aller Beteiligten. „Die Logik war ganz einfach: Spiele ortsbekannter Mannschaften füllten aufgrund ihrer Anziehungskraft die Kassen der Vereine, und weil es die Aktiven waren, die die Zuschauer anzogen, stand ihnen ein angemessener Anteil an der Einnahme zu“, heißt es dazu im Goldenen Buch des deutschen Fußballs (Grüne/Schulze-Marmeling).

Die Schalker Fußballer hatten das Pech, in einem Verbandsgebiet zu kicken, dessen Funktionäre dem Amateurgedanken besonders verbissen anhingen. Im diesbezüglich fortschrittlicheren Südwesten Deutschlands wäre es wahrscheinlich gar nicht zu einem „Fall Schalke“ gekommen. Zwar hatte es auch hier bereits Anfang der 1920er-Jahre einen handfesten Skandal gegeben, als Josef „Sepp“ Herberger für 10.000 Reichsmark vom Sport- und Turnverein Waldhof zum Lokalrivalen MFC Phönix und kurz darauf zum VfR Mannheim wechselte, worauMn dem späteren Reichs- und Bundestrainer „infolge seiner zahlreichen Vergehen gegen die Amateurparagrafen des DFB das Recht als Amateur abgesprochen und [er] zum Berufssspieler erklärt wurde“, doch die Begnadigung und erneute Berufung in die Nationalelf folgten auf dem Fuße. Hinter den Kulissen ging es hier eher um die Eitelkeiten lokaler Sportfunktionäre, die einen Spieler nicht an einen ungeliebten Lokalrivalen verlieren wollten, als um die reine Lehre vom Amateursport. Denn das „verkappte Berufsspielertum“ war allgemein bekannt und längst anerkannt (im Süden mehr als im Westen und Norden Deutschlands), und „im Grunde genommen kam es nur darauf an, sich nicht erwischen zu lassen“ (Grüne/Schulze-Marmeling).

Letztlich war es die Aussicht, mit dem Fußball Geld zu verdienen und damit die eigene soziale Lage zu verbessern, die dem Amateurprinzip langfristig den Garaus machen sollte. Sie ermöglichte aus dem proletarischen Milieu stammenden Aktiven einen sozialen Aufstieg und bescheidenen materiellen Wohlstand. Und weil der geldbringende Erfolg im Unterhaltungssport Fußball mehr Training und häufigere Spiele auf Kosten des ausgeübten „normalen“ Berufs erforderte, stellte sich von Anfang an die Frage nach einem finanziellen Ausgleich. Da mit der Wandlung des Fußballsports zum Massenvergnügen, für das man bereit war, Geld zu bezahlen, auch die Erwartungshaltung der Zuschauer an eine entsprechende Gegenleistung wuchs, führte am Profispieler kein Weg vorbei. Was der DFB auch längst erkannt hatte: „Der Berufsspieler wird das Spiel technisch auf eine Höhe der Vollendung bringen, die der Herrenspieler nur in seltenen Fällen erreichen kann“ (DFB-Jahrbuch 1918/19). Ohne geregeltes Training und viele Spiele war diese „Vollendung“ nicht zu erreichen. Dass DFB-Vizepräsident Felix Linnemann dennoch unverdrossen das „Schreckensszenario vom kapitalisierten Sport“ an die Wand malte, „in dem Spieler zu reinen ,Spekultaionsobjekten‘ verkommen würden“ (Grüne/Schulze-Marmeling), zeigt, mit welchen ideologischen Scheuklappen die Profidebatte in den 1920er-Jahren geführt wurde. Man wollte guten Fußball, war aber nicht bereit, die notwendigen Vorbedingungen zu schaffen, frei nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Und dann waren da noch jene Verfechter des Amateurideals, die der Kommerzialisierung des Fußballsports mit der Moralkeule beizukommen suchten: „Was nützen mir die ungeheuren äußere Erfolge ... der ungeheure Mitgliederzuwachs, die überfüllten Sportplätze, das Interesse der Öffentlichkeit? Was nützt uns das, wenn der Geist krank ist?“ In diesem Zusammenhang wurde schließlich die Frage diskutiert, ob eine „deutsche Dominanz“ im internationalen Vergleich überhaupt erstrebenswert sei. Dem WS V-Funktionär Guido von Mengden war es 1926 lieber, „zehn Millionen Deutsche sind waschechte Sportsleute und unsere Nationalelf verliert gegen die halbe Welt, als zehn Millionen schauen nur zu, wie die deutsche Profi-Über-Ober-Extraklasse die ganze Welt verprügelt“.

„Dass die Spieler als selbstlose ,Helden“ fürs Vaterland und nicht für Geld kämpfen sollten, war der Hauptgrund für die Unterdrückung der unübersehbaren Tendenz zur Kommenzialisierung des Fußballs durch den DFB und seine Landesverbände“,

lautet das Fazit, zu dem die Sozialhistorikerin Christiane Eisenberg in ihrer Studie „English Sports“ und deutsche Bürger kommt.

Vor diesem Hintergrund war es leicht, die Schalker Spieler, die „dem tristen Arbeitsalltag zu entfliehen und das Geld für das tägliche Überleben (und vielleicht ein kleines bisschen ,Reichtum‘ nebenbei) auf etwas angenehmere Art zu verdienen“ suchten (Grüne/Schulze-Marmeling), zu „Sündern“ und „bösen Buben“ zu erklären. Dabei hatten die Schalker Fußballer, wie viele ihrer Kameraden auch, lediglich ein System genutzt, das ihnen hinter vorgehaltener Hand schon seit Langem die Möglichkeit des Zusatzverdienstes bot. Sie nun an den Pranger zu stellen, mochte das Gewissen manches Amateurapostels beruhigen, war aber realitätsfremd und zeugte von einer gehörigen Portion Scheinheiligkeit. Die Verwandlung des Fußballs zu einem Bestandteil der Unterhaltungsindustrie eröflnete allen Beteiligten die Chance, Geld zu verdienen, und der Versuch der Spieler, sich ein Stück vom kommerziellen Kuchen abzuschneiden, war umso weniger verwerflich, als dahinter der Wunsch stand, die sozialen und materiellen Schranken der eigenen Existenz zu überwinden.

Zurück zu Schalke. Unter der Überschrift „Wo bleibt Gerechtigkeit für Schalke 04?“ befasste sich die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 7. Dezember 1930 mit den wirtschaftlichen Folgen der Schalker Sperre, die über den Fußball hinausgingen. Der zweifache Westmeister galt als attraktives Team, das die Massen anlockte und seinen Gegnern volle Kassen bescherte. Auch die Geschäftswelt und die Verkehrsbetriebe freuten sich über die vielen Zuschauer und die wertvollen Einnahmen. Eine Auftebung der Sperre war daher nicht nur eine sportliche, sondern auch eine ökonomische Notwendigkeit.

Während sich der Verein um einen Ausgleich mit dem WSV bemühte, setzten einige der gesperrten Spieler auf eine professionelle Karriere, die einen Vereinswechsel nicht ausschloss: Wir Spieler wussten aber nicht, wie es weitergehen sollte. Da haben der Fritz [Szepan] und ich einen Vertrag bei Wiener Managern unterschrieben.

Der Vertrag mit dem Wiener Klub Vienna FC wurde am Sonntag, den 5. Oktober, in der Wohnung von Kuzorra unterzeichnet. Der Vertreter des Klubs, Herr Friedmann, hatte mehrere Tage lang in Gelsenkirchen mit den beiden Schalker Stars verhandelt. Die Gelsenkirchener Zeitung berichtete am 6. Oktober 1930 in ihrer Sportbeilage unter der Überschrift „Zwei berühmte Fußballspieler verlassen Deutschland!“ ausführlich über den bevorstehenden Wechsel von Kuzorra und Szepan ins österreichische Profilager:

„Unser Mitarbeiter hatte Sonntagvormittag während der Zusammenkunft Gelegenheit, sowohl mit Herrn Friedmann als auch mit Kuzorra und Zepan zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt war eine bindende Zusage von Seiten der Spieler noch nicht gemacht worden. Ein später geführtes Telephongespräch brachte dann die Bestätigung. Herr Friedmann betonte, daß er keineswegs gekommen sei, um die beiden Innenstürmer zum Berufssport zu ,keilen. Man habe von Seiten seines Vereins den Verlauf der Dinge abgewartet, aber da jetzt nach Lage der Verhältnisse kaum noch mit einer Lösung zu rechnen sei, die den Spielern Gelegenheit gebe, innerhalb der Reichsgrenzen ihren Sport zu treiben, sei Vienna mit einem Angebot hervorgekommen. Kuzorra und Zepan betonten immer wieder, daß, wenn sie auch nur noch eine einzige Möglichkeit sähen, hier wieder Sport treiben zu können, so wäre das Wiener Angebot von vornherein für sie undiskutabel. Man habe ihnen aber verschiedentlich Hoffnungen gemacht, die sich nicht erfüllten. Mit Bezug auf das Wiener Angebot war selbst Notar Jersch bei Zepan vorstellig geworden, um das Wiener Angebot zu isolieren. Der erste Vorsitzende habe auch Hoffnungen erweckt.

Der von Kuzorra und Zepan unterzeichnete Vertrag ist hinsichtlich seiner finanziellen Seite - soweit wir uns unterrichten konnten - günstig. Mit Rücksicht darauf, daß beide noch geschäftliche Angelegenheiten in Gelsenkirchen abzuwickeln haben, gilt die Verpflichtung für die ,Vienna‘ erst vom 1. November ab. Die beiden Schalker haben sich aber - ihrer Hoffnung gehorchend - noch eine Möglichkeit gelassen: falls bis zum 1. November Ereignisse eintreten, die ihnen das Spielen wieder in Deutschland gestatten, so haben sie das Recht, vom Vertrage mit der Vienna zurückzutreten.“

Der Vertrag, den die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung am 6. Oktober in ihrer Sportbeilage abdruckte, hatte folgenden Wortlaut:

„Vertrag.

Herrn Ernst Kuzorra und Fritz Szepan.

Ich verpflichte mich, Ihnen für die Dauer Ihres dreimonatlichen Vertrages mit dem 1. Vienna FC Wien zur Zahlung von monatlich Falls Sie nach drei Monaten eine Vertragslösung vornehmen, zahle ich Ihnen die Spesen der Rückfahrt. Haben Sie bis zum 1. November 1930 die Spielerlaubnis für Deutschland bekommen, ist der Vertrag hinfällig. gez. Friedmann“

Andere europäische Länder waren Deutschland in der Profifrage längst voraus. In Österreich gab es seit 1924 Berufsfußballer: Zu der vom Wiener FußballVerband (WFB), der Vereinigung der Fußballvereine des Bundeslandes Wien, ausgerichteten Österreichischen Fußballmeisterschaft waren in der Saison 1924/25 erstmals nur Profiklubs zugelassen. In den Industriestädten im nordenglischen Lancashire wurde schon seit 1885 professionell gekickt, legalisiert wurde der Spielbetrieb in England dann „nach einer erbitterten Debatte um die moralische Rechtmäßigkeit des Berufsfußballs“ (Grüne/Schulze-Marmeling) 1888 mit der Gründung der zunächst aus einer, ab 1892 aus zwei Divisionen bestehenden Football League. Italien führte 1898 eine Fußballmeisterschaft ein, die bis 1928 zwischen den Siegern diverser Regionalverbände in einem Turnier ausgespielt wurde. Seit der Spielzeit 1928/29 wurde der italienische Meister nicht mehr unter den Regionalsiegern, sondern unter sämtlichen teilnehmenden Mannschaften ermittelt. Professionell gespielt wurde in Italien schon seit den 1920er-Jahren, als erster Profispieler gilt Virginio Rosetta, der 1923 für 50.0 Lire vom F.C. Pro Vercelli zu Juventus Turin wechselte. Eine gesamtitalienische Profiliga konstituierte sich 1946 mit der Lega Calcio. Nach einer Reform und der Einführung einer zweiten Liga trägt die erste italienische Liga seit der Spielzeit 1948/49 den Namen Serie A. Ungarn und die Tschechoslowakei beschritten in den 1920er-Jahren den Weg zum bezahlten Fußball. Angesichts dieser Entwicklung und der längst auch in Deutschland (unter der Hand) fließenden Gelder für Spieler wirkte das von den deutschen Fußballverbänden hochgehaltene Amateurideal ein wenig aus der Zeit gefallen.

Noch aber liefen Kuzorra und Szepan weiter in Deutschland auf. Am 12. Oktober bestritten wir unser erstes Spiel als Profis, wir waren wohl die ersten Berufsspieler Deutschlands. Als „Meister des Westens“ trat die gesperrte Schalker Ligamannschaft an diesem Tag vor 13.000 Zuschauern im Wuppertaler Stadion am Zoo gegen den 1. FC Wuppertal an, einen frisch gegründeten Verein von Berufsfußballern. Das Spiel endete 4:0 für Schalke. Die Tore erzielten Kuzorra, Szepan, noch einmal Kuzorra „durch eine schöne Einzelleistung“ (TuS, 13.10.1930) und Hans „Hennes“ Tibulsky. Zum Rückspiel am 18. Oktober strömten 15.000 Zuschauer auf den Jahnplatz in Gelsenkirchen-Heßler. Die Schalker gewannen 2:1. Die Sportbeilage der Gelsenkirchener Zeitung fasste die über den Sport hinausreichende symbolische Bedeutung der Partie zusammen:

„[...] mit dem Spiel hat Gelsenkirchen und das Industriegebiet sein Spiel gehabt: an keinem Tage wurde besser dokumentiert, wie sehr die Fußballgemeinde hinter der Meisterelf steht. Der Massenbesuch von 15.000 Menschen war ein einziger gewaltiger Protest gegen das seltsame Gebaren des WSV. Hier zeigte es sich, daß der Liebhaber des Fußballspiels nichts, aber auch gar nichts um die verknöcherten, veralteten ,Richtlinien‘ des WSV. gibt“ (TuS, 20.10.1930).

Die in diesen Wochen von den gesperrten Schalkern außerhalb der offiziellen Verbandswettbewerbe ausgetragenen Freundschafts- oder Gesellschaftsspielspiele, etwa am 26. Oktober gegen eine nicht näher spezifizierte „Firmenmannschaft“ (8:1), entwickelten sich zu mächtigen Sympathiebekundungen für den FC Schalke 04 und die gesperrte Ligaelf.

Dass nicht alle den Ausschluss der Schalker verurteilten und stattdessen ihren sich aus der masurischen Herkunft zahlreicher Spieler speisenden xeno- phoben Vorurteilen freien Lauf ließen, belegt ein kleiner Artikel aus der Hamburger Sport-Zeitung, aus dem die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 5. November 1930 unter der Überschrift „Geschmacklos“ zitiert:

„,Westdeutschland wird auch ohne Schalke bestehen, der Verband erwarb sich ein Verdienst um unseren Sport, als er die edlen Polacken Kuzorra und Szepan hinauswarf!‘ Äußerung eines Herrn August Boise, „der im Norden Ansehen besitzt, oder - hoffentlich - besaß.“

Das in Norddeutschland erscheinende Blatt Turnen, Spiel und Sport stieß ins gleiche Horn:

„Man nehme doch endlich den eisernen Besen und fege diesen Augiasstall aus. Es ist besser, dass einer sterbe, denn dass das ganze Volk verderbe. Der Westdeutsche Verband existiert auch ohne Schalke, und er erwarb sich ein Verdienst um unseren Sport, als er die edlen Polacken Kuzorra und Czepan hinauswarf!“ (zit. nach: Grüne/Schulze-Marmeling, S. 128).

Die vermeintliche Liebe zum Amateursport im bürgerlichen Lager und der Hass auf Migranten aus dem proletarischen Milieu gingen hier Hand in Hand.

Um zu beweisen, dass die gesperrten Spieler keine Profis waren, schlossen Verein und Mannschaft aus Anlass des ersten erwähnten Spieles gegen den Wuppertaler Profiklub 1. FC einen Vertrag, der vom zweiten Schalker Vorsitzenden Münstermann sowie den Spielern Kuzorra, Szepan, Böcke und Sobotka unterzeichnet wurde:

„In dem Urteil der Spruchkammer des WSV vom 26. August 1930 wurden die Spieler der 1. Mannschaft von Schalke 04 zu Berufsspielern erklärt. Das sehr gewissenlose Urteil ist auf Grund veralteter Satzungen und Bevormundungen gefällt, es hat daher nur formale Bedeutung. Ein Fußballspieler gilt erst dann als Berufsspieler, wenn er seinen Lebensunterhalt durch diesen Sport verdient. Das lehnen die so gestraf en Spieler der Schalker Mannschaft mit aller Schärfe ab. Darum ist auch das Spiel gegen den 1. F.C. Wuppertal am Sonntag, den 12. Oktober 1930, in Barmen keine Begegnung von Profimannschafen, sondern ein direktes Gesellschaftsspiel“ (zit. nach: TuS, 13.10.1930).

Am 21. Oktober gehörte die Schalker „Berufsspielerelf“ dennoch zu den Mitbegründern des in Köln gebildeten „Deutschen Professional-Fußballverbands“ (DPF), der eine aus zehn Vereinen bestehende westdeutsche Oberliga mit bezahlten Spielern plante. Um weiterhin eine Verhandlungsbasis mit dem WSV zu haben, distanzierte sich der am 7. September8 auf Wunsch des WSV neu gewählte Schalker „Rumpfvorstand“ (Goch/Silberbach) mit Fritz „Papa“ Unkel als Vorsitzendem sowie Wilhelm Münstermann als Stellvertreter darauMn von der ersten Mannschaft und löste den Vertrag vom 11. Oktober wieder auf. Die Glückauf-Kampftahn war für die Mannschaft fortan „fremdes Eigentum“.

Dennoch wurde der FC Schalke 04 am 16. November aus dem Verband ausgeschlossen. Im Urteil des WSV hieß es:

„Die Verbandsspruchkammer hat dem FC Schalke 04 mit Schreiben vom 17. Oktober 1930 die Frage vorgelegt, ob er bereit sei, die Satzung des WSV zu beachten. Schalke hat am 22. Oktober um 14 Tage Ausstand gebeten. Da auch diese Frist verstrichen ist, wird Schalke bis zur Abgabe dieser Erklärung und bis zur Zahlung der 1.400 Mark Strafe und 200 Mark Kosten aus dem Verband ausgeschlossen!“

Am 25. November hob die Spruchkammer ihr Urteil dahingehend auf, dass nicht der ganze Verein ausgeschlossen wurde, sondern lediglich die erste Mannschaft. Das Problem war, dass Schalke die verhängte Geldbuße in Höhe von 1.600 Reichsmark inmitten der Wirtschaftskrise schlicht nicht bezahlen konnte.

Bereits Ende Oktober war Bewegung in die Berufsspielerfrage gekommen, „denn angesichts der überall geplanten Profivereine und -verbände drohte dem Verband die Kontrolle über die deutsche Fußballgemeinde zu entgleiten“ (Grüne). Sympathiebekundungen aus ganz Deutschland für Schalke 04 taten ein Übriges, um die Verbandsfunktionäre zum Handeln zu veranlassen. Nachdem die laut Amateurstatut zulässigen Spesensätze erhöht worden waren, schien eine Amnestie für die gesperrten Spieler in greiftare Nähe zu rücken. Zudem beschloss der DFB am 26. Oktober auf einer Sitzung des Bundesvorstands vorbehaltlich der endgültigen Beschlussfassung des nächsten DFB-Bun- destages die „Einführung des Berufs-Fußballsports“:

„Der DFB. erklärt sich bereit, das Fußball-Berufsspiel in Deutschland zu kontrollieren und international zu vertreten. [...] Der Bundesvorstand ist für den Erlaß einer allgemeinen Amnestie nicht zuständig, jedoch ersucht der Bundesvorstand das Bundesgericht, die Durchführung von Strafverfahren wegen der bis zum 28. Oktober einschließlich vorgekommenen Verstöße gegen die Amateurbestimmungen [...] auszusetzen.“

„Also eine Umstellung des DFB auf der ganzen Linie“, kommentierte Turnen und Sport am 27. Oktober 1930. Einen Tag später löste sich der Kölner ProfessionalVerband wieder auf, weil er mit der Erklärung des DFB sein Ziel erreicht sah.

Allerdings wurde die Einführung einer Profiliga im deutschen Fußball in den kommenden Monaten in den Gremien von DFB und WSV, der sich als hartnäckigster Verfechter des Amateurideals erwies, so gründlich zerredet, dass der Profifußball in Deutschland wieder in weite Ferne rückte. Es dauerte weitere zwei Jahre, ehe der Bundestag des DFB am 16. Oktober 1932 beschloss, neben dem Amateurfußball künftig auch Profivereine zuzulassen: „Der DFB regelt den Berufsfußballsport.“ Auf einem weiteren Bundestag im Mai 1933 sollte die Kehrtwende noch einmal erörtert werden, doch nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der anschließenden nationalsozialistischen Machtergreifung war der Berufssport in Deutschland politisch nicht mehr opportun. Die Förderung bezahlter sportlicher Spitzenleistungen auf Kosten der breiten Masse widersprach dem Volksgemeinschaftsideal der neuen Machthaber. Die Nationalsozialisten propagierten „die alten Ideale der deutschen Sportbewegung, freilich in ihrem Sinne. Von der Volksgesundheit zur Wehrertüchtigung war es nur ein kleiner Schritt“ (Bitzer/ Wilting). Der DFB berief den geplanten Bundestag nicht mehr ein, und der Beschluss zur Einführung des Profifußballs wurde nicht umgesetzt.

Ende Oktober 1930 jedoch schien der Berufsfußball unter dem Dach des DFB und der Regionalverbände tatsächlich für kurze Zeit zu einer realistischen Möglichkeit geworden zu sein. Um sich, was die Sperren der Schalker Spieler betraf, Klarheit zu verschaffen, rief Szepan kurzerhand den WSV-Vorsitzenden Constans Jersch in Bochum an und fragte ihn, ob Schalke in absehbarer Zeit mit einer Begnadigung rechnen könne, was Jersch vorbehaltlos bejahte. Worauftin Kuzorra und Szepan - wie sich zeigen sollte, etwas voreilig - ihren Wiener Vertrag lösten, der die oben bereits erwähnte Ausstiegsklausel enthielt: „Haben Sie bis zum 1. November 1930 die Spielerlaubnis für Deutschland bekommen, ist der Vertrag hinfällig.“ Die Spielerlaubnis hatten beide zwar noch nicht wieder, aber offenbar genügte die Aussicht darauf auch den Wienern, um den Vertrag als nichtig zu betrachten. In Wien hätten wir zwar damals schon 1.000 Reichsmark monatlich garantiert bekommen [nach heutiger Kauftraft: etwa 6.600 Euro; zum Vergleich: Ein Kohlen- oder Gesteinshauer verdiente seinerzeit ca. 200, ein Industriearbeiter ca. 190 Reichsmark monatlich], doch für Schalke haben wir das gerne ausgeschlagen!

Kuzorra und Szepan fühlten sich dem FC Schalke 04 nicht nur aufgrund ihrer Herkunft aus dem Stadtteil Schalke verpflichtet. Hinzu kam, dass der Verein nach Fertigstellung der Glückauf-Kampfoahn 1928 stark verschuldet war. Diese Schulden konnten in absehbarer Zeit nur abgetragen werden, wenn das „Flaggschiff des Vereins“ (Gehrmann), also Schalkes erste Mannschaft, möglichst schnell wieder spielberechtigt wurde und mit ihren „Stars“ erneut zu jener Spielstärke fand, die den Klub zum überregionalen Publikumsmagneten machte. „Wir wollten nicht fahnenflüchtig werden“, begründete Fritz Szepan gegenüber der Buerschen Zeitung den Verbleib am Schalker Markt. „Wir hängen mit allen Fasern an unserem Verein Schalke 04 und an unserer Kampfoahn, und diese wollen wir erhalten.“ Und für „Papa“ Unkel war die Sache sowieso klar: „Ihr gehört in den blau-weißen Dress auf den grünen Rasen der Kampfoahn Glückauf“, redete der Vorsitzende den beiden auf der Generalversammlung des Klubs ins Gewissen.

Allerdings ließ die erhoffte Begnadigung auf sich warten. Was mit uns Spielern der ersten Mannschaft geschehen sollte, blieb ungeklärt. Die Pflichtspiele in der Gruppe A der Ruhrbezirksliga wurden, wie erwähnt, von einer Notelf aus Reservespielern und Neuverpflichtungen bestritten. Als einige Reservisten finanzielles Kapital aus der Zwangslage des Vereins schlagen wollten, sprangen sogar einige „Alte Herren“ in die Bresche, und die Mannschaft feierte mit einem sechsten Tabellenplatz punktgleich mit SuS Schalke 96 den Klassenerhalt.

Als schließlich ein Modus für die Bezahlung der Geldstrafe gefunden worden war - zehn Prozent der Einnahmen aus den kommenden Spielen sollten an den WSV fließen -, wurde der Ausschluss des Vereins aufgehoben. Anschließend folgten sukzessive die Begnadigungen der Spieler. Zum 1. April 1931 wurden die Sperren von Hans Tibulsky und Heinrich Simon kassiert, eine Tagung des DFB Mitte Mai im „Russischen Hof“ in Berlin brachte die Begnadigung von Rothardt, Badorek, Szepan und Kuzorra, und zum 1. Juni 1931 war schließlich die komplette erste Mannschaft wieder spielberechtigt.

Der Tag der Aufoebung der Sperren wurde zum „vierten“ Gründungstag des FC Schalke 04. Das Freundschaftsspiel gegen Fortuna Düsseldorf an diesem verregneten Montag gehört heute zum Legenden- und Sagenschatz des Vereins. An diesem 1. Juni 1931 wurde der FC Schalke 04 endgültig zum Mythos, wurden Spieler wie Kuzorra und Szepan zu mythischen Helden, mit deren Kämpfen sich eine ganze Region identifizierte und aus deren Siegen sie Kraft und Selbstbewusstsein schöpfte zur Bewältigung der eigenen Schwierigkeiten. Einmal mehr hatte David (Schalke) über Goliath (Verbandsfunktionäre) gesiegt und tauchte nun erneut auf wie Phönix aus der Asche.

Ein Mann erlebte diesen Tag nicht mehr: Willi Nier, der Finanzobmann des Vereins und ebenfalls vom WSV-Ausschluss betroffen, ertränkte sich 24 Stunden nach Bekanntwerden des WSV-Spruchkammerurteils, am Mittwoch, dem 27. August 1930, im Rhein-Herne-Kanal. Der kaufmännische Beamte der Zeche Consolidation hatte die verbotenen Zahlungen an die Fußballer in den Kassenbüchern als „Baugelder“ getarnt, mit denen angeblich die Schulden für den Bau der Glückauf-Kampfcahn getilgt wurden, während sie in Wirklichkeit in die Renovierung der Wohnungen und Häuser von Spielern flossen. Ob der Schalker Kassierer sich aus Scham über die von ihm gedeckten Mausche- leien oder aus Angst vor Konsequenzen in seinem Beruf das Leben nahm, wird sich wohl nie zweifelsfrei klären lassen. Dass er darin die „einzige Möglichkeit gesehen [habe], Schaden von dem Verein abzuwenden“, wie seine Schwester Jahre später erzählte, ist kaum glaubhaft, da der größte Schaden für Schalke bereits eingetreten war. Am 31. August 1930 nahmen 6.000 Menschen bei einer Trauerfeier in der Glückauf-Kampfcahn Abschied von Willi Nier, dessen Sarg im Mittelkreis aufgebahrt wurde.

Acht Monate später waren es an besagtem 1. Juni 1931 rund 70.000, die bei der Auferstehung der Schalker Mannschaft dabei sein wollten. Es war ein Montag, und dieser Tag wurde zu einem wahren Volksfest! Schon Stunden vor dem Spiel [das um 18 Uhr 30 angepfiffen wurde] waren alle Straßen rund um die Glückauf-Kampföahn verstopft, die Geschäfte ausverkauft. Diesen Tag werde ich nie vergessen. So etwas wird es nie wieder geben. Ein Eindruck, den die Gel- senkirchener Allgemeine Zeitung in ihrer Ausgabe vom 2. Juni 1931 bestätigte:

„So etwas hat Gelsenkirchen, so etwas hat ganz Westdeutschland, wahrscheinlich aber ganz Deutschland noch nicht gesehen! Wer zählt die Massen, die in der Kampfcahn ,Glückauf‘ zusammengeströmt waren? [...] Berittene Polizei versucht Ordnung in die Reihen zu bringen. An den Zugängen stauen sich die Massen, durchbrechen die Kordons! - Zu Fuß schieben sich immer mehr Menschen durch die Absperrungen - Radfahrer in Rudeln zu zehn, zwanzig, ja dreißig rollen über die Straßen der Stadt. Autos suchen sich in Kolonnen den Weg zur Kampfcahn. Durch die Massen schleichen die Straßenbahnen mit ihrer ungeahnt schweren Last, ein Wagen schiebt gewissermaßen den anderen. Autobusse aller Kaliber mit den Zeichen Westfalens, Rheinlands, Hannovers, Brandenburgs, Hollands, Belgiens und Frankreichs. [...] Es ist 18.15 Uhr [...]. Auf der König-Wilhelm-Straße ist kein Durchkommen mehr. Automobilisten lassen ihre Wagen einfach an den Bordsteinen stehen und springen auf die Trittbretter der Straßenbahnen. Menschentrauben hängen an den Wagen. [.] Die Oberteile der Straßenbahnen scheinen auf einem Meere zu schwimmen, auf einem Meere, dessen Wellen aus Menschen bestehen.“

Gegner der Schalker an diesem denkwürdigen Tag war der amtierende Westmeister Fortuna Düsseldorf, Schalke gewann 1:0. Das Tor des Tages erzielte kurz vor der Halbzeitpause Rechtsaußen Hans Tibulsky. Wir gewannen 1:0. Wir haben gezeigt, daß wir es noch können. Der sportliche Wert der Partie war überschaubar, die bis dicht an die Seiten- und Torauslinien drängenden Massen machten die Ausführung von Eckstößen und Einwürfen fast unmöglich. Schutzleute zu Pferde ritten an den Außenlinien entlang und versuchten das Spielfeld freizuhalten. Selbst die Tornetze wurden von Halbwüchsigen zu Tribünen umfunktioniert - zum Glück waren die „Netze“ Drahtgehäuse -, und das Torgestänge wurde zusätzlich von vier starken Metallstäben abgestützt. Die Recklinghäuser Zeitung sah ein „sehr schönes, schnelles und faires Spiel“, schränkte allerdings ein: „Man merkte den Leuten doch an, dass sie lange nicht zusammengespielt hatten.“

Viel wichtiger war ohnehin, dass die Partie zu einer eindrucksvollen Demonstration der Solidarität einer ganzen Region mit „ihren“ Fußballern wurde. Umgekehrt wurde der FC Schalke 04 spätestens an diesem 1. Juni zum Repräsentanten und Symbol einer ganzen Region, der stellvertretend für die vielen von Minderwertigkeitsgefühlen Geplagten den Traum von Aufstieg und Größe verwirklichte.

„Aus dem Fußball-Mythos wird der Schalke-Mythos: Schalke ist zum Inbegriff der kleinen Leute, aber auch des Reviers insgesamt geworden, zum Underdog, der sich gegen alle Widerstände behauptet hat. [.] Die Mannschaft erkämpft die Anerkennung, die ansonsten den Menschen hier versagt ist“,

schreibt Georg Röwekamp in Der Mythos lebt. Dies ist auch der ideelle Hintergrund einer weiteren Kuzorra-Legende, die besagt, dass die Kumpel auf „Consol“ (wie der Volksmund die Zeche nannte) eine Art „Deal“ mit dem Schalker Star hatten. Kuzorra räumte später freimütig ein: Mit den Kohlen, die ich gehauen habe, hätte ich noch nicht einmal einen Kessel Wasser heiß gekriegt. „Wir holen für dich die Kohle raus, und du für uns die Deutsche Meisterschaft!“, lautete der Deal zwischen Fußballer und Kumpel.

Götz lässt grüßen

Ähnlich legendär wie seine Leistungen unter Tage war Kuzorras Abschied aus der Nationalmannschaft. Als Reichstrainer Dr. Otto Nerz für ein Länderspiel gegen Belgien am 22. Oktober 1933 zunächst beide Schalker Schwäger aufstellte, dann aber kurzfristig auf Szepan verzichtete, gab Kuzorra bekannt, wegen einer Verletzung ebenfalls nicht spielen zu können. Doch plötzlich hatte Prof. Nerz den Fritz aus den Mannschaft gestrichen und dafür Wigold [Willi Wigold von Fortuna Düsseldorf] aufgestellt. Da habe ich donnerstags nach dem Training in Duisburg angerufen und mich verletzt gemeldet. Mit seinem Schwager (Szepan war seit 1931 mit Kuzorras Schwester Elise - „Mimi“ - verheiratet) hatte Kuzorra bis dahin erst einmal gemeinsam in der Nationalmannschaft gespielt (es sollte das einzige Mal bleiben): am 27. September 1931 in der Hindenburg- Kampftahn in Hannover beim 4:2-Sieg gegen Dänemark.

Ich war sauer, weil der Fritz nicht aufgestellt worden war, und sachte ihm, dat ich dann auch nicht spielen würde. Da hat er mich zu sich zitiert, zu einer „netten“ Unterhaltung. Ich bin verletzt, ich kann nicht spielen, sach’ ich. Aber der Nerz glaubte dat nicht und brüllte: Sie werden von mir hören! Und da brüll’ ich zurück: Und Sie könnn mich am Arsch lecken!

Ob Kuzorra dem Reichstrainer wirklich das Zitat aus Goethes Götz von Berli- chingen an den Kopf warf, ist unbewiesen, dass er aber ein ebensolcher Dickschädel war wie Nerz, dazu frei heraus und schlagfertig, ist durch zahlreiche Äußerungen Kuzorras in anderen Zusammenhängen hinreichend belegt. Immerhin lieferte der Schalker selbst eine harmlosere Alternativversion der Unterredung mit Nerz. Sie können doch nicht in mein Bein hineinsehen, habe er auf dessen Einwand „Man sieht ja gar nichts!“ erwidert. Ich habe aber durchblicken lassen, daß die Verletzung schnell heilen könne ... wenn der Fritz mitspielen würde. Das klang wesentlich vermittelnder als das „Götz-Zitat“.

Ob die Kontroverse um Szepans Aufstellung tatsächlich der Grund dafür war, dass Kuzorra, „Deutschlands erfolgreichster Innenstürmer“ (Koch), nicht mehr in die Nationalmannschaft berufen wurde, ist später von Nerz’ Nachfolger Sepp Herberger bezweifelt worden. Herberger, der damals als Verbandstrainer beim Westfälischen Spielverband in Duisburg-Wedau beschäftigt war, erinnerte sich, dass Kuzorra im Dezember 1932 via Presse zu einem bevorstehenden Länderspiel gegen die Niederlande Stellung bezog, was Nerz ihm als Eingriff in seine Kompetenz übel genommen habe. Zudem sei er zu spät zur Spielerbesprechung erschienen - für den in Disziplinarfragen unnachsichtigen Nerz ein unentschuldbarer Affront.

Kuzorra passte es nicht, dass Nerz die Spieler im Nationalteam nicht auf ihren gewohnten Positionen aus dem Verein einsetzte, sondern sie in ein taktisches Korsett zwängte, in dem ihre individuellen Fähigkeiten und Talente nach seiner Ansicht nicht zur Entfaltung kamen. Szepan hatte bei der Weltmeisterschaft 1934 eine ähnliche Kritik geäußert. Er wollte im Halbfinale gegen die Tschechoslowakei nicht als Stopper bzw. Mittelläufer eingesetzt werden, sondern auf seiner vom Verein gewohnten Position auf halbrechts, um das deutsche Angriffsspiel besser ankurbeln zu können. Im September 1931 hatte sich Szepan nach drei Einsätzen im Nationalteam schon einmal zurückgezogen, weil er nicht auf halbrechts hatte spielen dürfen, war aber vor der WM 1934 von Nerz zurückgeholt worden. Erneut stieß er bei Nerz auf taube Ohren, worauMn Deutschland 1:3 verlor und das Finale verpasste. Im Gegensatz zu seinem Schwager wurde er aber weiter nominiert. Das war jedoch kein Hinweis auf die größere sportliche Qualität Szepans, sondern eher ein Indiz für die unterschiedlichen Charaktere der beiden Schalker: kantig und wenig kompromissbereit der eine, anpassungsfähig und umgänglich der andere.

In der Sportpresse war Kuzorras Nichtberücksichtigung in den folgenden Jahren immer wieder ein Thema. So etwa nach einem Spiel zweier deutscher Nationalmannschaften für das Winterhilfswerk im November 1935. SchwarzWeiß mit Poertgen gewann gegen Rot-Weiß mit Szepan 4:2. Unter der Überschrift „Warum Kuzorra nicht dabei war“ zitierte die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung aus Anlass eines bevorstehenden Länderspiels gegen England in ihrer Ausgabe vom 22. November 1935 einen Artikel des Duisburger Generalanzeigers:

„Auch in Berlin hat man von den ganz hervorragenden Leistungen des Schalker Halblinken Kuzorra gehört, aber auch hier wundert man sich, daß der Schalker nicht einmal zum Kursus bestellt wurde. [...] Zepan fragt: Warum wird mein Schwager nicht berücksichtigt?

Die Antwort darauf gibt um die Mittagszeit der Reichssportlehrer Nerz selbst, als er ungefähr folgendes sagt: Kuzorra hat zu lange pausiert (gemeint sind die Länderspiele), es wäre jetzt ein zu großes Risiko, nachdem man den Stamm der Nationalspieler genau kennt, zum Englandspiel auf Kuzorra zurückzugreifen, womit nicht gesagt sein soll, daß Kuzorra für die Ländermannschaft nicht mehr in Frage kommt.

Soweit die kurze Erklärung des Reichssportlehrers, der im übrigen trotz unserer Vorhaltungen gar nicht glauben kann, daß Kuzorra so schnell geworden sei. [.] Wir sind auch der Meinung, daß, wenn man sich schon so unendlich viel Mühe gibt, die Mannschaft zum Spiel gegen England aufzustellen, man auch einmal Kuzorra wieder hätte unter die Lupe nehmen können - nun, die Leistungen, die Ernst Kuzorra nicht nur in den großen Spielen gegen den Niederrhein und den VfL Benrath an den Tag legte, hätten auch ihn beim Reichssportlehrer Nerz in einem anderen Lichte erscheinen lassen dürfen.“

Deutschland verlor das England-Spiel am 4. Dezember im Londoner White- Hart-Lane-Stadion 0:3. „Es wird abgewehrt, aber es werden keine Tore geschossen“, urteilte die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung. Die Kritik an Nerz’ Spielsystem, das zu viel Gewicht auf die Abwehr lege, verband das Blatt mit der Frage, was eine Sturmreihe Szepan-Poertgen-Kuzorra hätte bewirken können. Dass bei solchen Empfehlungen an die Adresse des Reichstrainers eine gute Portion Lokalstolz im Spiel war, darf man getrost annehmen.

Ein Jahr darauf nominierte Sepp Herberger, der im September 1936 vom Fachamt Fußball zum Betreuer der Nationalmannschaft bestellt worden war, Kuzorra für ein Länderspiel gegen Luxemburg am 27. September 1936. Da habe ich aber nur dem Sepp zuliebe gespielt. Herberger schätzte der Vollblutfußballer Kuzorra ohnehin mehr als dessen Vorgänger Nerz. Jahre später gefragt, unter wem er sich in der Nationalmannschaft wohler gefühlt habe, musste Kuzorra nicht lange überlegen: Bei Seppel Herberger natürlich. Bei Nerz sollten wir arbeiten, aber wir wollten spielen. Fußball ist doch ein Spiel und keine Arbeit.

Kuzorras Wiederberufung ins Nationalteam dürfte ein Schachzug im Machtkampf zwischen Herberger und Nerz gewesen sein. Letzterer wollte, obwohl er 1936 eine Stelle bei der Reichsakademie für Leibesübungen (vormals Deutsche Hochschule für Leibesübungen) angetreten hatte, unbedingt weiter Chef der Nationalmannschaft bleiben und Herberger lediglich die praktische Arbeit auf dem Trainingsplatz überlassen.

Zwei Jahre später äußerte sich Kuzorra aus Anlass einer überraschenden abermaligen Nominierung für ein Länderspiel (am 20. März 1938 gegen Ungarn, Kuzorra erzielte den deutschen Treffer beim 1:1-Unentschieden) zwar zu seinem fast fünf Jahre zurückliegenden „Rauswurf“ aus der Nationalmannschaft, ging aber mit keinem Wort auf die Kontroverse mit Nerz ein. Vielmehr machte der Schalker Kapitän unterschiedliche Auffassungen über seine spielerischen Qualitäten für die Nichtberücksichtigung verantwortlich und schien mit dem Kapitel Nationalmannschaft abgeschlossen zu haben:

Ich habe mich anfänglich darüber geärgert, daß man mich in meiner besten Form nicht mehr für gut genug hielt, einen Platz in der Nationalmannschaft ausfüllen zu können, aber ich habe mich dann damit abgefunden. Selbst vordrängen werde ich mich jedenfalls nicht. Ich bin schon zufrieden, wenn es ruhig um mich ist und ich meine ganze Kraft auf unsere eigene Mannschaft konzentrieren kann. Sollte man mich aber eines Tages doch noch rufen, wird es natürlich mein ganzes Bestreben sein, auch innerhalb der Nationalelf mein bestes Können für den Sieg der Mannschaft einzusetzen [...],

zitierte die National-Zeitung in ihrem Artikel „Also doch - Herr Nerz!“ vom 19. März 1938 den Schalker Halblinken.

Für das Blatt hatte die Nominierung Kuzorras („diese Meldung lief gestern nachmittag wie ein Lauffeuer durch die Stadt“) zwei Gründe: das anhaltende Mittelstürmer-Problem der Nationalelf und Kuzorras überragende Leistungen in seinem Verein. Schalke 04 hatte 1937 als erste deutsche Vereinsmannschaft: das Double gewonnen und am 19. Mai 1937 mit einem 6:2 gegen den englischen Erstligisten Brentford FC aus London erstmals auch international für Aufsehen gesorgt. Die Partie, die 45.000 Zuschauer in der Glückauf-Kampftahn sahen und bei der Kuzorra mit einem 20-Meter-Schuss an die Unterkante der Latte für den 4:1-Zwischenstand sorgte, hatte sich auch der ehemalige Reichstrainer Nerz nicht entgehen lassen.

Nach seinem zwölften Einsatz in der Nationalmannschaft wies der inzwischen 33-Jährige weitere Einladungen zu Länderspielen zurück. Ob er in späteren Jahren mit der geringen Anzahl seiner internationalen Einsätze haderte? Anfangs sicher, siehe oben, später wohl eher nicht, denn mit dem FC Schalke 04 zu spielen, war ebenfalls zu der Zeit etwas Besonderes.

So brachte es einer der besten deutschen Fußballer seiner Zeit auf lediglich zwölf Länderspieleinsätze.

Zum ersten Mal hatte er den Adlerdress am 20. November 1927 als 22-Jähriger im Köln-Müngersdorfer Stadion getragen. Ich war Schalkes erster Nationalspieler überhaupt. Das Freundschaftsspiel gegen die Niederlande endete 2:2, die beiden Tore für Deutschland schoss Josef Pöttinger vom FC Bayern München, Kuzorra war als Vorbereiter jeweils beteiligt. Im Herbst des darauffolgenden Jahres war er abermals berufen worden und hatte beim 2:0 gegen Norwegen in Oslo seinen ersten Treffer beigesteuert. Sein dritter Auftritt eine Woche später in Stockholm misslang: Die Partie gegen Schweden ging 0:2 verloren. Die Kritiken über Kuzorra seien „nicht gerade liebenswürdig“ gewesen, schreibt Theodor Krein in den Blau-Weißen Fußballknappen. Besser weg kam Kuzorra bei seinem nächsten Einsatz in der westdeutschen Verbandself, die ein paar Wochen später die Auswahl des Baltischen Rasensportverbandes in Stettin 6:1 schlug und in der „Kuzorra und Szepan die Hauptakteure“ (Krein) waren.

Einsätze in der Nationalmannschaft waren seinerzeit, von Turnieren abgesehen, Tagesausflüge.

Das waren noch Zeiten damals. Vorbereitungszeit gab es damals überhaupt noch nicht. Zu jenem Spiel in Köln bin ich beispielsweise am Spieltag morgens um acht Uhr mit dem Zug angereist, am Nachmittag war das Spiel. Ich konnte mich noch gerade bei Reichstrainer Prof. Nerz melden und meine Mannschaftskameraden begrüßen. Das war die ganze Vorbereitung auf mein erstes Länderspiel.

Statt eines Trainingslagers genossen die Nationalspieler eine kleine Auszeit vom Vereinsbetrieb. Sie mögen diese Tage durchaus als etwas Besonderes empfunden haben in Zeiten, in denen Reisen oder Fernurlaub für die meisten Arbeitnehmer kaum vorstellbar waren.

Nationalhymne, Empfang, Spiel mit großer Kulisse! Wer hätte da unbeteiligt bleiben können, erinnerte sich Kuzorra später an das Länderspiel gegen England am 10. Mai 1930 im Deutschen Stadion im Grunewald (Das war ein Spiel, das ich nie vergessen werde). Bilder zeigen ihn im Kreise der Mannschaft beim Bummel durch Berlin, bei einer Bootsfahrt auf der Spree und auf einem vor Schloss Sanssouci in Potsdam geschossenen Gruppenfoto. Es war das erste Mal, dass die deutsche Auswahl gegen die englische A-Mannschaft auflief; bislang hatte man immer nur der B-Elf gegenübergestanden. Die Partie endete sensationell mit einem 3:3-Unentschieden.

Der Dresdner Richard Hofmann erzielte alle drei deutschen Treffer. Weil Hofmann zwei Monate zuvor bei einem Autounfall ein Ohr verloren hatte, spielte er mit einer Kopffinde, was ihm ein skurriles Aussehen verlieh: „Wie eine Bulldogge rast er auf das englische Tor zu“, beschrieb ein Augenzeuge Hofmanns Treffer in der 60. Minute zur zwischenzeitlichen 3:2-Führung der DFB-Elf: „Higgs erkennt die große Gefahr, rennt aus dem Gehäuse heraus, hechtet dem kleinen Sachsen vor die Füße. Doch der Dresdner reagiert kalt. Blitzschnell hat er das Leder mit dem rechten Fuß herumgezogen. Hart knallt der Ball ins leere Tor.“ England stand am Rande einer Niederlage, erst sieben Minuten vor Schluss gelang David Jack der Ausgleich, mit dem die Engländer ihren Ruf der Unbesiegbarkeit wahrten.

Länderspieleinsätze waren erhebende Momente und bedeuteten Ablenkung von einem Alltag, der selbst für Stars wie Kuzorra oder Szepan, die als Amateure neben dem Fußball weiter in „normalen“ Berufen arbeiteten, in denen sie allerdings Privilegien (Freistellungen fürs Training, leichtere Arbeiten) genossen, und auch, wie etwa Szepan, von sozialen Grenzerfahrungen wie Arbeitslosigkeit nicht verschont blieben, Lichtjahre vom alltagsentrückten Leben mancher hochdotierter Profifußballer der heutigen Zeit entfernt war.

Immerhin zahlte der DFB den Spielern Tagesspesen und lud nach dem Spiel zum Bankett. Drei Mark erhielten wir pro Tag, und das Bankett war kostenlos. Abends ging es wieder nach Hause. Mit den drei Mark meinte Kuzorra offenbar die Summe, die der DFB den Spielern bisweilen zusätzlich zur reinen Unkostenvergütung zahlte: Beim Olympischen Fußballturnier 1928 in Amsterdam etwa kam der Verband nicht nur für Reise, Unterkunft und Verpflegung der Spieler auf, sondern zahlte jedem auch ein „Taschengeld“ von fünf Gulden. Was die Spesen betraf, so spendierte der DFB seinen Spielern bereits 1908 anlässlich des ersten offiziellen Länderspiels einer deutschen Fußballnationalmannschaft am 5. April 1908 in Basel gegen die Schweiz (3:5) neben der Fahrkarte 20 Reichsmark für drei Tage Unterkunft und Verpflegung.

In seinen zwölf Länderspielen - allesamt Freundschaftsbegegnungen - schoss Kuzorra sieben Tore, das erste am 23. September 1928 beim 2:0 gegen Norwegen im Osloer Ullevaal-Stadion, das letzte am 27. September 1936 beim 7:2 gegen Luxemburg in Krefeld. Beim 5:0-Sieg gegen die Schweiz am 4. Mai 1930 in Zürich netzte er dreimal ein. Mit einer Quote von 0,58 liegt er in der ewigen Torjägerbilanz der DFB-Auswahl zwischen Rudi Völler (47 Tore in 90 Spielen, 0,52) und Uwe Seeler (43 - 72 - 0,60) und noch vor DFB-Torschützenkönig Miroslav Klose, der zwar mehr als zehn Mal so viele Treffer erzielte (71), dafür aber 137 Spiele benötigte und somit „nur“ auf eine Quote von 0,52 kam. Auch in der Nationalmannschaft wurde Kuzorra seinem Ruf als Goalgetter gerecht.

Wahrheit und Legende

„Wenn die Wahrheit über die Legende herauskommt, drucken wir trotzdem die Legende.“ Mit diesen Worten zerreißt der Reporter des Shinbone Star in John Fords Westernklassiker Der Mann, der Liberty Valance erschoss seine Notizen. Gerade hat ihm US-Senator Ransom Stoddard in einem Interview gestanden, dass gar nicht er es war, der vor Jahren den berüchtigten Gesetzlosen Liberty Valance in einem Duell tötete und damit den Grundstein für seine politische Karriere legte, sondern ein gewisser Tom Doniphon, zu dessen Beerdigung der Senator noch einmal an den Ort der damaligen Geschehnisse zurückgekehrt ist. Am Ende erweist sich die Legende als stärker als die Wahrheit. Während die Wahrheit mitunter brutal und unbequem ist, verklärt die Legende, taucht Ereignisse und Personen in ein mildes Licht und verleiht allem einen nostalgischen Glanz, der hinüberstrahlt in die Gegenwart.

Ernst Kuzorra hat mit seinem Siegtreffer zum 2:1 im Meisterschaftsfinale 1934 Schalker Fußballgeschichte geschrieben. An Geschichte im Sinne einer wie auch immer gearteten historischen Wahrheit ist auch Jahrzehnte später jedoch kaum jemand wirklich interessiert. Das Schalke der „goldenen Ära“ ist zum Mythos geworden, an dem niemand kratzen möchte. Kein Spieler verkörpert diesen Mythos so perfekt wie der Kapitän der Meistermannschaften von 1934, 1935, 1937, 1939, 1940 und 1942. Mit seiner Version der Schlussminuten des Meisterschaftsfinales 1934 wurde er schon zu Lebzeiten zur Legende, die er später mit seiner Sicht der Konfrontation mit Reichstrainer Otto Nerz festigte. Dass Filmaufnahmen die Erzählung von der unmittelbar dem siegbringenden Torschuss folgenden Ohnmacht widerlegen und Kuzorras Nichtberücksichtigung für die Nationalelf andere Gründe gehabt haben mag als einen vermeintlich entbotenen Schwäbischen Gruß, ändert nichts daran, dass auch im Falle Kuzorras die Legende über die Wahrheit triumphiert. Weil „die Legende Wahrheit geworden ist“ und die wahre Geschichte keine Bedeutung mehr hat.

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3 https://www.youtube.com/watch?v=_GesogZQFME, zuletzt aufgerufen am 16. November 2017.

4 Autorennamen in Klammern verweisen auf die vollständigen bibliografi schen Angaben im Quellen- und Literaturverzeichnis.

5 Diese Informationen verdanke ich Thomas Görge. Gespräch am 30. November 2017.

6 Vom fränkischen „Bumbes“ für Furz, aus dem in Westfalen durch Lautverschiebung „Bumbas“ wurde. „Kleiner Bumbes“ wurde Schmidt als Schüler von seinen älteren Mitspielern gerufen.

7 Die beiden betrieben seit 1927 gemeinsam ein Tabakwarengeschäft Der Verein hatte Kuzorra als Anschubfinanzierung ein Darlehen in Höhe von 2000 Mark vermittelt. Als Szepan 1933 eine Gaststätte am Schalker Markt übernahm, führte Kuzorra den Laden allein weiter.

8 Die Angaben in der Literatur zum Tag der Wahl sind widersprüchlich. Röwekamp (Der Mythos lebt, S. 77) und Grüne (Glaube - Liebe - Schalke, S. 56) nennen den 7. September, Goch/Silberbach (Zwischen Blau und weiß liegt Grau, S. 61) und Holz (Der blau-weisse Kreisel, S. 60) den 7. November. Da acht Mitglieder des alten Vorstands durch das WSV-Urteil vom 25. August aus dem Verband ausgeschlossen worden waren, ist unwahrscheinlich, dass man mit der Neuwahl eines provisorischen Vorstands länger als zwei Monate wartete, schließlich musste der Verein angesichts seiner misslichen Lage unbedingt handlungsfähig bleiben.

Ernst Kuzorra

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