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Kapitel 4
ОглавлениеFreitag, 7. Juli 2017, 10.25 Uhr
Drei Jahre später
Einfamilienhaus, Kirchtruderinger Straße, München
„Ich will es sehen.“ Die Frau hatte die Hände in ihrem Schoß verschränkt und sah Donald mit festem Blick an. Es war einer dieser Momente, in denen er seinen Job hasste. Aber der Kunde war König. Donald nickte, öffnete den Umschlag und breitete drei Fotos im DIN-A5-Hochkantformat vor der Frau in dem schicken dunkelblauen Kostüm aus.
Das erste Bild zeigte einen Mann in Anzug und Krawatte, der mit einer hübschen jungen Frau, die seine Tochter sein könnte, in einem Café saß und gerade offensichtlich über etwas lachte, das sein Gegenüber gesagt hatte. Das zweite Foto zeigte die beiden Personen von hinten, wie sie Hand in Hand ein Gebäude betraten, über dessen Eingang die Buchstaben „Hotel Marienhof“ prangten. Auf dem dritten Bild, das augenscheinlich durch eine Glasscheibe hindurch aufgenommen worden war, sah man – leicht verschwommen – den Mann rücklings auf einem Bett liegen, diesmal ohne Anzug und Krawatte und auch sonst ohne jegliche textile Verhüllung. Die junge Frau kniete neben ihm auf dem Bett, war vorn über gebeugt und hatte den Penis des Mannes in ihrem Mund.
„Wie im Klischee“, dachte Donald bei sich, während er die Frau gegenüber dabei beobachtete, wie sie sich jedes Detail der drei Fotografien genau ansah. Nach einer Weile straffte sich ihr Oberkörper, und sie schob die Bilder ein Stück von sich. Sie schloss kurz ihre Augen, dann sagte sie leise: „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Dienste, Herr Galloway, aber jetzt wäre ich gerne allein, wie Sie sicher verstehen werden. Ihre Rechnung schicken Sie bitte an die bekannte E-Mail-Adresse. Und das da“ – sie deutete auf die Fotos – „nehmen Sie bitte mit.“ Das war nun ungewöhnlich. Normalerweise konnten es die gehörnten Damen kaum erwarten, ihren untreuen Ehemännern die Beweismittel um die Ohren zu hauen. Aber gut, wie gesagt: Der Kunde ist König.
Als Donald Galloway das gepflegte Grundstück an der Kirchtruderinger Straße im Münchner Osten verließ, begann es zu regnen. Er freute sich über die Erfrischung, konnte er doch der Hitze so gar nichts abgewinnen, und die letzten Tage waren wirklich erdrückend schwül gewesen. Als er im Bus der Linie 193 zum Truderinger Bahnhof saß, schweiften seine Gedanken nochmal kurz zurück zu der so schmerzlich gekränkten Frau in ihrem schmucken Einfamilienhaus, und ein bisschen tat sie ihm leid. Donald war zwar im Grunde genommen stolz darauf, als Privatdetektiv durch und durch Profi zu sein, aber irgendwie war man ja auch noch Mensch. Und heute war zweifelsfrei wieder ein Lebenstraum zerplatzt. Ein Typ hatte alles zerstört, was er hatte. Familie, Glück und finanzielle Sicherheit. Und alles nur wegen so einem bisschen Pussy. Deppen gab’s, also echt. Hoffentlich bekam der Arsch heute Abend, wenn er nach Hause kam und von seinem harten Tag erzählte, ordentlich was ab. Bei dem Wort „hart“ huschte ein kurzes Grinsen über Donalds Gesicht.
In Trudering wechselte er in die U-Bahn, fuhr zum Innsbrucker Ring und stieg dort in die Linie U5 Richtung Laimer Platz um. Zwei Stationen später, am Max-Weber-Platz, sah Donald wieder Tageslicht. Die Regenwolken hatten sich bereits verzogen, und Donalds persönlicher Erzfeind, die Sonne, strahlte vom Himmel. Nach einem zehnminütigen Fußmarsch erreichte er das gut 90 Jahre alte vierstöckige Mehrfamilienhaus an der Einsteinstraße, in dem er sein Büro hatte – was gleichzeitig auch seine Wohnung war. Zwei Zimmer, Küche und Bad mit Fenster. Ihm reichte es, schließlich war er seit der geplatzten Beziehung mit Claudia vor zwei Jahren alleine. Eines seiner beiden Zimmer nutzte Donald als Büro, das zweite als kombinierten Wohn- und Schlafraum.
„Donald Galloway – Private Ermittlungen aller Art“, stand auf einem glänzenden Messingschild. Allerdings hatte er es innerhalb der Wohnung an der Tür zum Büroraum angebracht. Draußen war es ihm dann doch zu peinlich gewesen.
Die Apple Watch an seinem rechten Handgelenk erklärte ihm, dass es inzwischen 13.30 Uhr war. Donald setzte sich einen Kaffee auf und überlegte, was er anziehen sollte. In eineinhalb Stunden war er mit Denise verabredet, eine junge Frau, die er auf irgendeiner Dating-Website aufgerissen hatte. 31 Jahre alt, also 14 Jahre jünger als er selbst. Das konnte sowieso nichts werden. Früher stand Donald auf jüngere Frauen, aber inzwischen wusste er zu schätzen, dass reife und lebenserfahrene Frauen deutlich mehr zu erzählen hatten. Und auch mehr Verständnis für wechselnde Arbeitszeiten, wie es in seinem Beruf öfter mal der Fall war. Nun, Denise würde er trotzdem treffen. Sie sah nett aus, hatte eine angenehm leichte Schreibweise und schien recht intelligent zu sein. Ein kleiner Spaziergang, was war schon dabei, und außerdem hatte er momentan sonst eh nichts anderes am Start.
Donald wählte eine dunkelblaue Jeans und ein Polo-Shirt dazu. Er trank seinen Kaffee aus, stellte die Tasse in die Geschirrspülmaschine und schlüpfte in seine Halbschuhe, als plötzlich sein iPhone läutete. Wahrscheinlich Denise. Jetzt sagt sie ab. Hat es sich anders überlegt. Egal, dann würde er eben alleine einen Spaziergang machen, jetzt, da er nun mal ohnehin schon so weit war.
Das Display zeigte eine Rufnummer mit Vorwahl aus den Vereinigten Staaten. Was war das denn jetzt? Werbung? Egal, Donald nahm das Gespräch an. Zahlen würde schließlich der Anrufer.
„Mister Galloway, mein Name ist Heather Mills“, drang die Stimme einer älteren Frau an sein Ohr. Sie sprach deutsch, sagte aber „Mister“, nicht „Herr“, das gefiel ihm. Offenbar war sie wirklich Amerikanerin. „Sind Sie noch im Büro“, erkundigte sich die Anruferin, und Donald antwortete, dass er gerade auf dem Sprung nach draußen sei. Woraufhin die Dame meinte, dies träfe sich hervorragend, weil man sich dann gleich persönlich sprechen könne – schließlich stehe sie vor seiner Tür. Donald sah auf die Uhr. Für einen kleinen Plausch würde die Zeit noch reichen, entschied er.
Tatsächlich wartete draußen vor der Haustür eine ältere Dame. Donald schätzte sie auf 75 bis 80 Jahre, aber sie machte einen erstaunlich rüstigen Eindruck. Und sie war resolut: „Dort drüben ist ein kleines Café. Ich lade Sie auf eine Tasse ein, Mister Galloway“, sagte sie entschieden, drehte sich um und marschierte in Richtung des besagten Cafés davon. Donald folgte ihr. Das konnte ja heiter werden.
Heather Mills übernahm nicht nur die Platzwahl in einer ruhigen Ecke im hinteren Bereich, sondern auch die Bestellung, orderte zwei Kaffee und zwei Stück Apfelkuchen und eröffnete Donald dann kurz und bündig, dass sie seine Dienste in Anspruch nehmen werde. Also würde es ein längeres Gespräch werden. Donald schielte verstohlen auf seine Apple Watch. Das Treffen mit Denise konnte er sich wohl in die Haare schmieren.
„Wie sind Sie auf mich gekommen“, fragte Donald zwischen zwei Bissen Apfelkuchen. Die alte Dame blickte ihn eine Weile schweigend an, fast so als überlege sie, ob sie denn wirklich die richtige Wahl getroffen habe. „Sie sind Amerikaner“, sagte sie dann. Donald hielt inne. „Nun, tatsächlich bin ich das nicht“, erklärte er ihr. „Mein Vater ist beziehungsweise war Amerikaner. Er war Zivilbeschäftigter bei der US Army, hat hier meine Mutter kennen und lieben gelernt, sie heirateten, und schwupps war ich da. Beide fanden auch noch typisch amerikanische Namen ganz toll, weshalb ich jetzt seit 45 Jahren den Vornamen einer tollpatschigen Comicfigur und den Nachnamen einer Rinderart trage. Tja, und was tatsächlich so klingt, als sei ich Amerikaner, obwohl ich eigentlich Münchner bin.“
Heather Mills hörte ihm aufmerksam zu, und für einen kurzen Moment glaubte Donald ein Lächeln über ihre Lippen huschen zu sehen. „Waren Sie denn schon mal in der Heimat Ihres Vaters“, fragte sie dann, doch Donald schüttelte den Kopf. „Ich bedaure, nein. Um ehrlich zu sein, spreche ich nicht mal Englisch. Außer ein paar Brocken, die von der Schule übriggeblieben sind.“ Donald war erstaunt über seine eigene Offenheit und sah gleichzeitig den potentiellen Auftrag bereits in weiter Ferne. Dann hätte er gleich zweimal verloren heute, denn Denise würde ja nun auch jemand anderes daten.
„Mister Galloway, ich komme aus Cupertino in Kalifornien“, eröffnete Heather Mills ohne jegliche Überleitung, und um ein Haar hätte Donald „hey, wie mein Handy“ geantwortet. Sie holte aus ihrer Handtasche ein Schwarzweißfoto hervor, das einen Mann von vielleicht 45 Jahren in der Uniform der US Army zeigte, stolz und zufrieden in die Kamera lächelnd. „Das ist mein Sohn Brian. Er ist verschwunden. Und Sie sollen ihn für mich finden.“ Jetzt wurde es interessant.
Donald bestellte zwei weitere Kaffee und erfuhr von der alten Dame, dass ihr Sohn bei der US Army in Deutschland diente, schon viele Jahre lang. „Brians Einheit ist in Grafenwöhr stationiert“, berichtete Heather Mills. „Trotz der großen Entfernung und obwohl er nur einmal im Jahr nach Kalifornien zu Besuch kommt, haben wir immer guten Kontakt – gehabt.“ Vor drei Jahren habe ihr Sohn plötzlich, von einem Tag auf den anderen, sich nicht mehr gemeldet. Und sie habe ihn auch nie wieder erreichen können, weder auf seinem Mobiltelefon noch über Skype, wo sie bis dahin immer mindestens zweimal die Woche geplaudert hatten. „Brian hatte einen Computer in der Arbeit, und während der Nachtschicht haben wir uns immer unterhalten – wegen der Zeitverschiebung, verstehen Sie?“ Donald verstand und bewunderte die alte Dame insgeheim für ihr technisches Verständnis. Seine eigene Mutter, die bestimmt zwanzig Jahre jünger war, konnte mit Computern überhaupt nichts anfangen.
„Haben Sie mal bei seiner Einheit nachgefragt?“, brachte Donald das Naheliegendste auf den Tisch. Doch Heather Mills winkte ab: „Natürlich, was denken Sie denn, junger Mann“, klang leichte Verärgerung in ihrer Stimme durch. „Und jetzt kommt das Merkwürdige an der Sache: Die Army sagt, Brian sei von heute auf morgen abgängig gewesen. Er habe sogar seinen Posten unerlaubt verlassen und sei nicht mehr aufgetaucht. Sie vermuten, dass Brian eine Frau kennen gelernt hat und blind vor Liebe zu ihr gegangen ist.“ Heather Mills schüttelte heftig den Kopf über diesen ihrer Meinung nach vollkommen abwegigen Gedanken, weshalb Donald es unterließ nachzufragen, ob sie sich denn da so sicher sein könnte.
„Seine kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus nahe dem Stützpunkt hat man irgendwann aufgelöst, als keine Miete mehr kam, und all seine Sachen in einem Lagerhaus nahe dem Bahnhof eingelagert. Und sein Auto steht noch heute in Grafenwöhr, aber ob es nach all der Zeit noch fahrbereit ist, wage ich zu bezweifeln.“ Die alte Dame senkte den Blick. „Sie fragen sich bestimmt, warum ich jetzt erst nach drei Jahren damit ankomme“, meinte sie, und in der Tat wollte ihr Donald genau diese Frage stellen. „Ich habe gewartet“, erklärte sie. „Drei Jahre lang. Ich war sicher, dass Brian irgendwann kommen und alles erklären würde. Weil es ihm vielleicht peinlich war. Aber er kam eben nicht. Und die Army hat mich immer wieder vertröstet. Es gäbe ja nichts Neues, aber natürlich suche man weiter nach ihm. Blödsinn. Nichts haben die gemacht. Als Soldat ist man doch nur eine Nummer. Also muss ich jetzt endlich handeln.“ Heather Mills blickte trotzig auf: „Helfen Sie mir, Mister Galloway?“
„Erklären Sie mir, warum Sie so gut Deutsch sprechen, Misses Mills“, fragte er. Die alte Dame lächelte: „Es gibt Parallelen in unserer Vergangenheit, junger Mann“, sagte sie. Auch ihr eigener Ehemann sei in Deutschland stationiert gewesen. Gemeinsam hätten sie viele schöne Jahre droben bei Frankfurt am Main verbracht. Erst als Henry, ihr Mann, pensioniert wurde, sei man in die Staaten zurückgekehrt. Brian, der in Deutschland geboren wurde und zweisprachig aufwuchs, sei hiergeblieben. Und immer glücklich gewesen.
„Ich habe Ihnen hier“ – Heather Mills breitete einen Zettel zwischen ihnen auf dem Tisch aus – „alles zusammengeschrieben, was ich weiß. Viel ist es allerdings nicht. Die Namen seiner Vorgesetzten, seine ehemalige Adresse, seine Hobbys – ich hoffe, es wird Ihnen helfen, Mister Galloway.“ Brian steckte den Zettel ein und räusperte sich. „Da gibt es noch etwas, das wir klären müssten“, begann er etwas unbeholfen, doch die alte Dame wusste sogleich Bescheid. Sie holte aus ihrer Handtasche einen Umschlag und schob ihn zu Donald rüber: „Hierin sind 3000 Dollar, fürs erste. Wenn Sie mehr brauchen, melden Sie sich. Geld habe ich genug, keine Sorge.“ Der Umschlag enthielt tatsächlich US-Dollar. Donald nahm sich vor, das Geld noch am selben Nachmittag bei Western Union am Hauptbahnhof in Euro zu tauschen.
„Was genau hat Ihr Sohn eigentlich bei der Army gemacht“, erkundigte er sich. Heather Mills zuckte mit den Schultern: „Einen ziemlich langweiligen Job, viele Jahre lang“, meinte sie. „Brian hat ein leeres Krankenhaus bewacht.“