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Kapitel 5
ОглавлениеSamstag, 8. Juli 2017, 13.15 Uhr
Ascholding, Gemarkung Höhenberg, Oberpfalz
Erwartungsgemäß hatte Denise keinerlei Verständnis gezeigt, als Donald ihr – weit nach der ausgemachten Zeit – per Whatsapp-Sprachnachricht mitteilte, er könne die Verabredung leider aus beruflichen Gründen nicht einhalten. Es bereitete ihm aber zugegeben auch nicht allzu viel Kummer. In einer kleinen Pizzeria nahe seinem Wohnhaus holte er sich eine Regina mit Knoblauch und verbrachte den Abend damit, über das Gespräch mit Heather Mills nachzudenken sowie erste Recherchen im Internet zu beginnen.
Die Ausbeute war, gelinde gesagt, äußerst mager. Brian Mills hatte ein Profil bei Facebook, seit seinem Verschwinden vor drei Jahren wenig überraschend nichts mehr gepostet oder kommentiert, seine Freundesliste war für öffentliche Augen gesperrt, und Heather wusste sein Passwort nicht. Ansonsten gab es keinerlei Web-Funde über ihn. Offenbar war Brian Mills ein vollkommen öffentlichkeitsscheuer Mensch. Kein Engagement in den Vorständen irgendwelcher Vereine, kein Einsatz in der Kommunalpolitik, keine Kommentare in irgendwelchen Foren – nichts.
Wenig aufschlussreich waren auch Donalds Nachforschungen bezüglich des „leeren Krankenhauses“, wie es Heather Mills ausgedrückt hatte. Erst ein Eintrag bei Wikipedia brachte ihn, weit nach Mitternacht, auf eine erste Spur: In einer Gemeinde namens Höhenberg in der Oberpfalz, gute 220 Kilometer von München entfernt, sollte es ein ehemaliges Militärkrankenhaus der amerikanischen Armee geben, das allerdings schon viele Jahre leer stand. Und eben dieses genannte Höhenberg lag nur etwa eine halbe Autostunde vom Truppenübungsplatz Grafenwöhr entfernt.
Donald versuchte, mehr über das Krankenhaus in Erfahrung zu bringen, aber sowohl Google als auch alle anderen Suchmaschinen zeichneten sich durch Nichtwissen aus. Verschiedene Internetseiten über ehemalige Standorte der US-Armee in Deutschland erwähnten Höhenberg mit keinem Wort. Und ganz merkwürdig wurde es, als Donald Google Earth startete und die Gemeinde Höhenberg überflog. Es gab in dem sehr waldreichen Gebiet überhaupt keine Einrichtung, die auch nur entfernt nach der Ruine eines ehemaligen Krankenhauses aussah. Alles, was Donald fand, war eine Art Sandstraße, die in einen Wald hineinführte, dann aber plötzlich schlagartig im Nichts endete. Beim Hineinzoomen erkannte er noch eine Schranke, aber das war’s dann auch. Eine Schranke auf einer Straße, die sowieso ein paar hundert Meter weiter mitten im Wald endete.
Bevor er gegen 2.00 Uhr morgens den Laptop herunterfuhr und zu Bett ging, beschloss er, das restliche Wochenende für einen Ausflug in die Oberpfalz zu nutzen. Wäre doch gelacht, wenn er nicht zumindest den langjährigen Einsatzort des verschwundenen Brian Mills finden würde. Bestimmt würden sich ein paar Kollegen an ihn erinnern – drei Jahre waren ja schließlich keine Ewigkeit. Donald hoffte, auf diese Weise mehr über Brian Mills zu erfahren. Sein Opel Corsa war vollgetankt, Geld hatte er jetzt auch mehr als genug, und andere Termine, geschweige denn irgendwelche Dates, standen am Sonntag auch nicht an. Er schickte Denise noch eine kurze Whatsapp, entschuldigte sich nochmals für sein Verhalten und gab seiner Hoffnung auf eine zweite Chance Ausdruck. Eine Antwort erhielt er nicht mehr.
Am nächsten Morgen gegen 10.00 Uhr vormittags jagte Donald Galloway seinen mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen Corsa erst über die Autobahn A9, dann über die A93 Richtung Oberpfalz. Als er kurz vor 13.00 Uhr die Gemarkung Höhenberg erreichte, machte sich Ernüchterung breit: Höhenberg bestand aus insgesamt sieben etwas verstreuten Bauernhöfen sowie vier Einfamilienhäusern, von denen eines im Erdgeschoß eine Bäckerei beherbergte, welche natürlich sonntags geschlossen war. Das war’s. Wo sollte er hier denn mit der Suche anfangen?
Donald fuhr weiter und erreichte nach ein paar Kilometern eine Ortschaft namens Ascholding. Hier tobte zwar auch nicht gerade das Leben, aber immerhin gab es so etwas wie einen Ortskern samt Rathaus von der Größe eines Wohnwagens und dem obligatorischen „Gasthaus zur Post“. Hier hatte früher schon die Postkutsche Station gemacht. Mit etwas Glück gab’s hier also auch heute noch ein anständiges Mittagessen. Donald parkte den Corsa vor dem Gasthaus und betrat die leere Gaststube, in der nur eine Frau von Ende 50 hinter dem Tresen ein paar Gläser wienerte. Er grüßte freundlich und erkundigte sich, ob es denn etwas zu essen gäbe. Der Schweinsbraten sei zu empfehlen, erwiderte die Wirtin, und Donald nickte zustimmend. In Bayern, vor allem in Niederbayern und der Oberpfalz, konnte man bei einem Schweinsbraten eigentlich nichts falsch machen.
Als die Wirtin ein paar Minuten später zu ihm kam und ein frisches Radler auf den Tisch stellte, entschied sich Donald, in die Offensive zu gehen: „Sie kennen sich doch bestimmt hier in der Gegend aus, oder?“ Die Frau hielt inne und zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben. „Ja, schon – warum?“ Donald setzte ein charmantes Lächeln auf und erklärte, er suche ein verlassenes Krankenhaus der US-Armee. Jetzt zog die Frau die andere Augenbraue hoch: „Was wollen Sie denn da?“ „Ich fotografiere gerne Lost Places, also verlassene Gebäude und so. Im Internet habe ich von diesem Krankenhaus gelesen und dachte mir, da kann man bestimmt ein paar schöne Bilder machen.“
Die Wirtin verschwand wortlos und kam kurz darauf mit dem Schweinsbraten zurück. Als sie den Teller vor Donald auf den Tisch stellte, sagte sie: „Nach dem Ortsschild rechts die nächste Abzweigung nehmen, dann nach ein paar Kilometern geht’s irgendwann rechts in den Wald rein. Eine ziemlich unscheinbare kleine Straße. Aber“, fügte sie mit leicht bedauerndem Unterton hinzu, „da kommen Sie sowieso nicht bis ans Krankenhaus ran. Ist alles abgesperrt. Hohe Mauer. Und ein Wachmann sitzt auch da rum.“ Donald stutzte: „Um eine Ruine zu bewachen?“ Die Wirtin zuckte nur mit den Schultern: „Keine Ahnung warum, vielleicht um Penner fernzuhalten.“ Doch Donald ließ noch nicht locker: „Ich dachte, das Gelände gehört den Amerikanern?“ „Sicher“, antwortete die Frau, „die haben ja nach dem Krieg die schönsten Flecken in Deutschland besetzt. Am Chiemsee zum Beispiel. Und hier eben auch. Das muss mal ein echt schönes Krankenhaus gewesen sein, richtig groß. Aber die Amis haben es nach ein paar Jahren schon wieder zugemacht. War ihnen vielleicht zu idyllisch.“ Dann verschwand sie wieder in der Küche und ließ Donald mit seinem zugegeben ausgesprochen schmackhaften Mittagessen zurück.
Er ließ ein großzügiges Trinkgeld auf dem Tisch liegen, startete den Corsa und folgte der Wegbeschreibung der Wirtin. Um ein Haar wäre er an der Einmündung vorbeigefahren. Donald setzte zurück und bog dann rechts auf den Waldweg ein. Nach ein paar Minuten allerdings war die Fahrt zu ende, denn eine rot-weiße Schranke versperrte den Weg. Am Schlagbaum hing mittig ein Schild: Zutritt verboten.
Donald fuhr den Corsa so weit wie möglich an den Wegesrand und stieg aus. Er holte sein iPhone aus der Tasche, rief Google Earth auf und ortete sich seine Position. Tatsächlich befand er sich genau an jener Schranke, die er daheim auf dem Laptop schon ausgemacht hatte – auf dem Weg ins Nirgendwo. Das bedeutete, hinter dem Schlagbaum würde die Straße nach ein paar hundert Metern enden. Hier kam er also nicht weiter. Komisch war nur, dass ihn die Wirtin des Gasthauses zur Post offenbar bewusst in die Irre geführt hatte. Und das konnte er sich nun überhaupt nicht erklären.
Er beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Vielleicht war das alte Krankenhaus längst in sich zusammengefallen und von Bäumen und Büschen überwuchert worden, so dass es auf dem Satellitenbild wie eine geschlossene Waldfläche aussah. Aber wozu dann ein Wachmann? Oder den gab es längst nicht mehr, und die Wirtin hatte sich nur an frühere Zeiten erinnert. Donald rieb sich mit Autan-Mückenschutz ein und schlüpfte unter dem Schlagbaum hindurch.
Nach gut zwanzig Minuten Fußmarsch hatte Donald jene Stelle erreicht, an der laut Satellitenbild die Sandstraße hätte enden müssen. Doch das tat sie nicht. Schnurgerade führte der Weg immer tiefer in den Wald hinein. Donald ging weiter, und als die Straße nach einiger Zeit eine scharfe Rechtskurve nahm, stand er vor einer imposanten Mauer aus rotem Backstein, gute vier Meter hoch und schier endlos lang. Und von oben eigentlich gut sichtbar. Was zur Hölle war hier los?
Donald folgte dem Weg weiter, immer an der Mauer entlang, bis die Zufahrt schließlich an einer kleinen Lichtung endete. Hier gab es eine Art Einfahrtstor, deutlich moderner als die Mauer selbst und oben mit Stacheldraht gesichert. Keine Chance, dort hinüber zu klettern. Neben dem Tor befand sich ein etwa acht mal fünf Meter großer, fensterloser Betonflachbau. Das Gebäude hatte nur eine Tür, über der eine Kamera hing. Wahrscheinlich eine Art Betriebsgebäude, vielleicht ein Transformatorhaus oder eine Umformerstation, vermutete Donald. Es gab rechts neben der Tür sogar einen Klingelknopf. Donald drückte darauf, aber nichts geschah.
Er trat dicht an das stählerne Tor heran und spähte durch die Streben ins Innere des Geländes. Die Sandstraße führte dort weiter in den Wald hinein, aber offenbar war sie schon längere Zeit nicht mehr benutzt worden. Unkraut, Farne und Gras wucherten zwischen dem Kies hervor, sichtbare Spuren gab es auch nirgendwo. Also hier kam er nicht weiter. Ob sich weiter hinten das ominöse Krankenhaus befand, ließ sich nicht sagen. Aber wenn, dann gab es für Donald ohnehin keinen Weg dorthin. Was sollte er auch dort? Wichtiger war ihm gewesen, das Wachgebäude zu finden, um vielleicht einen von Brian Mills ehemaligen Kollegen sprechen zu können. Aber so einen Pförtnerbau konnte Donald auch nirgendwo erblicken. Wahrscheinlich gab es längst keinen Posten mehr. Er hatte eine blinde Spur verfolgt.
Einen Moment lang überlegte er, ob er – nun da er ohnehin schon mal hier war – irgendeinen Zugang zu dem Gelände finden könnte oder über die Mauer klettern sollte. Donald hatte schon immer ein Faible für verlassene Orte gehabt und hätte gerne ein paar Bilder geschossen für sein mittlerweile recht stattliches Archiv mit stillgelegten Bahnhöfen, aufgegebenen Fabriken und verfallenen Gebäuden. Aber die Mauer war wirklich hoch, er würde sich nur schmutzig machen.
Während Donald zurück zu seinem Auto marschierte und die zwischen den Bäumen hindurch brennende Nachmittagssonne verfluchte, überlegte er seine weiteren Schritte. Wenn er schon mal hier in der Oberpfalz war, dann konnte er noch auf einen Sprung beim Truppenübungsplatz vorbeischauen. Möglicherweise erinnerte sich ja dort jemand an Brian Mills. Sein Verschwinden war ja schließlich erst drei Jahre her.
Das mobile Navigationsgerät lotste Donald zu dessen eigener Überraschung bis unmittelbar vor die bewachte Zufahrt zum Militärgelände in Grafenwöhr. Er rollte auf einen der ausgewiesenen Besucherparkplätze, trat an die Panzerglasscheibe des Wachpersonals heran und trug über das Mikrofon sein Anliegen vor. Der Soldat hinter der Scheibe war nicht unfreundlich, gab aber klar zu verstehen, dass er über Angehörige der Armee keinerlei Auskünfte geben könne.
Dass Donald gerade aus Höhenberg kam, entlockte dem Mann nur ein bedauerndes Schulterzucken: „Tut mir leid, dass Sie den Weg umsonst gemacht haben“, erklang seine angenehme Stimme durch den Lautsprecher, „da oben gibt es schon seit bestimmt 40 Jahren nichts mehr. Und die früheren Wachsoldaten sind längst zurück in den Staaten.“
Doch Donald ließ sich nicht so leicht abwimmeln: „Die Mutter des Brian Mills hat mir erzählt, der Verschwundene habe bis zuletzt ein altes Krankenhaus bewacht. Wie kann das sein, wenn dort oben nichts mehr ist?“ Erneut machte der Soldat eine entschuldigende Geste und meinte, die alte Dame könne sich ja geirrt haben. Dem hatte Donald nichts entgegen zu setzen. Er legte seine Visitenkarte in die kleine Schublade des Wachgebäudes und bat darum, diese an jemanden weiter zu geben, der sich vielleicht noch an Brian Mills erinnern könne. Der Soldat nahm die Karte an sich, sicherte zu, ein paar Kollegen zu fragen, konnte aber nichts versprechen.
Donald beschloss, nach München zurück zu kehren und dort in Ruhe zu überlegen, wie er weitermachen könnte. Während er den kleinen Corsa mit Tempo 160 – mehr gab das alte Auto nicht mehr her – über die Autobahn jagte und das aktuelle Album von Linkin Park den Innenraum flutete, kamen ihm immer mehr Ungereimtheiten in den Sinn. Die Wirtin hatte sich ihrer Sache absolut sicher angehört, als sie Donald von dem alten Krankenhaus und der laufenden Bewachung erzählte. Vielleicht sollte er sich mit ihr nochmal in Ruhe unterhalten, möglicherweise wusste sie mehr über den mysteriösen Ort im Wald zu berichten.
Dann war da die Sache mit dem Satellitenbild, auf dem weder die Sandstraße noch die gewaltige rote Backsteinmauer zu sehen sind – obwohl der Bewuchs in deren Bereich viel zu licht war als dass man von oben nichts sehen könnte. Und das stählerne Tor… es war sichtlich modern gewesen und höchstens drei bis vier Jahre alt, soviel hatte Donald am Bewuchs rundum und an der fehlenden Vermoosung eindeutig erkannt. Warum baute die US Army ein so modernes und bestimmt schweineteures Tor ein, wenn doch auf dem Gelände nur Ruinen standen?
Zu Hause suchte Donald im Internet nach der Telefonnummer des Gasthauses zur Post in Ascholding. Als er die Nummer fand, ging die Wirtin persönlich schon nach zweimal Läuten ran. „Ah, der Ruinenfotograf“, erinnerte sie sich sogleich, als Donald sich vorgestellt hatte, „haben’s den alten Kasten gefunden?“ Donald erzählte ihr von seinem Fußmarsch bis zu der Backsteinmauer und dem großen Tor, aber Wachsoldaten habe er keine gesehen. Die Wirtin war merklich verblüfft: „Das gibt’s doch gar nicht“, meinte sie, „ganz bestimmt hocken die da droben noch rum. Erst neulich war doch einer von der Wachmannschaft bei uns zum Essen. Der hatte sich noch gefreut, endlich mal gemeinsam mit anderen Menschen zu essen, weil’s da oben immer so einsam sei.“
Jetzt verstand Donald gar nichts mehr. Sollte er auf der falschen Seite des Geländes gewesen sein? Gab es also mehr Zugänge als dieses stählerne Tor? Er würde wohl oder übel nochmal hinfahren müssen. Er erkundigte sich noch, ob die Wirtin etwas mit dem Namen Brian Mills anzufangen wusste, aber die Frau kannte ihn nicht.
Donald ließ sich in seinem kombinierten Wohn- und Schlafraum in einen alten Ikea-Sessel fallen, der normalerweise als Kleiderablage fungierte, heute aber zufällig mal frei war. Die Sache wurde immer merkwürdiger. Definitiv hatte ihn einer belogen, entweder die Wirtin oder der Soldat in der Wache Grafenwöhr. Entweder waren da oben noch besetzte Posten oder nicht. Gut, möglicherweise hatte der Soldat die Anweisung, keine Informationen über andere Standorte herauszugeben – die Army machte ja schließlich aus allem immer ein Riesengeheimnis. Aber hätte er dann nicht einfach sagen können, dass er eben nichts sagen könne? Stattdessen hatte er Donald konkrete Zahlen genannt. „Mehr als 40 Jahre schon nicht mehr“, hatte er gemeint.
Er startete den Laptop, um sich nochmal die Satellitenaufnahme bei Google Earth anzusehen. Aber wie beim letzten Mal endete die Sandstraße mitten im Wald. Donald vergrößerte so gut es ging, aber bei den Aufnahmen in der Pampa war – anders als bei den großen Städten – die Auflösung der Bilder nicht hoch genug, um bis ins Detail gehen zu können.
Auf Wikipedia, diesmal der amerikanischen Version, suchte er erneut nach „Höhenberg“, „Krankenhaus Höhenberg“, „Sanatorium“, „Heilanstalt“ und anderen ähnlichen Begriffen, auf Deutsch und auf Englisch. Fehlanzeige. Auch die amerikanische Version enthielt nur die allgemeine Information über ein ehemaliges amerikanisches Krankenhaus, das schon viele Jahre leer stand. Donald wollte die Seite gerade schließen, als er den Zeitpunkt der letzten Aktualisierung der Infos über Höhenberg sah: Samstag, 8. Juli 2017, 17.34 Uhr.