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DER CHAT

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Freitag der Dreizehnte kann ein Glückstag sein, sagte sich Veronika immer wieder. Sie hatte dem Chat mit Mario an diesem Tag zuerst nicht zustimmen wollen. Da er aber davor keine Zeit hatte und der 13. der erste mögliche Termin war, hatte Veronika schließlich eingewilligt.

Du bist doch nicht abergläubisch?

hatte er ihr geschrieben.

Höchstens ein klein wenig.

hatte Veronika zugegeben.

In Wahrheit war sie sehr abergläubisch und der Grund dafür war der Einfluss ihrer Urgroßmutter. Urli, wie Veronika sie genannt hatte, kannte so ziemlich jede Bauernregel über das Wetter und es hatte Veronika schon als kleines Mädchen erstaunt, dass sich fast fast alle Vorhersagen ihrer Großmutter bewahrheiteten. Aus diesem Grund hatte sie von ihrer Urli auch einige Angewohnheiten angenommen, etwa, dreimal über die linke Schulter zu spucken, wenn eine schwarze Katze über den Weg lief. Aber nur von links nach rechts, denn dann bringt’s »Schlechts«. Von rechts nach links war egal.

Den 13. hatte die Urli immer im Haus verbracht, um sich vor Unheil und Unfällen zu bewahren. An einem Freitag den 13. verließ sie nicht einmal das Bett.

Diese Angewohnheiten hatten Veronika als Kind tief beeindruckt und hatten Spuren hinterlassen, die Veronika bis in ihr Erwachsenenleben geblieben waren.

»Heute ist ein guter Tag für mich«, murmelte Veronika immer wieder. Sie war nervös. Bei dem Gespräch mit Mario wollte sie alles richtig machen. Tief drinnen hatte sie ein Gefühl, er könnte endlich der Mann sein, nach dem sie so lange gesucht hatte. Seine Nachrichten waren kurz, aber witzig, stets herzlich und vor allem nie oberflächlich oder geschmacklos. Darin unterschied er sich wohltuend von vielen anderen Männern, die sie auf Datingplattformen bereits kennengelernt hatte.

In ihrer Wohnung angekommen, versperrte Veronika die Tür hinter sich. Ihre Eltern hatten die Angewohnheit, manchmal nach einem kurzen Anklopfen einfach ins Zimmer zu platzen. Das konnte sie wirklich nicht gebrauchen.

Die Wohnung war eine ehemalige Suite des Hotels mit einem kleinen Schlafzimmer und einem Wohnzimmer. Die Möbel waren allerdings mindestens dreißig Jahre alt und abgenutzt.

Veronika ließ sich auf das senfgelbe Sofa sinken. Auf ihrem iPad googelte sie: »Die zehn größten Fehler beim ersten Chat«. Danach suchte sie nach »zehn beste Themen für erste Chats«. Viel Neues erfuhr sie nicht.

Der Chat war für 21 Uhr vereinbart. Ihr blieben noch zehn Minuten. Sie ging ins Badezimmer und blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Die beigefarbenen Kacheln beachtete sie nicht mehr.

»Du machst das gut«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Du siehst gut aus. Du bist eine Frau von Klasse.«

Vom iPad kam der Dreiklang, der den Anruf über die Datingseite ankündigte. Mario war zu früh dran. Vielleicht war er genauso aufgeregt wie Veronika und konnte das Gespräch auch kaum erwarten. Eigentlich hatte sie sich noch ein Glas Weißwein einschenken wollen, aber dafür blieb keine Zeit. Nüchtern zu bleiben war ohnehin besser.

Marios Foto erschien in der Mitte des Bildschirms. Darunter ein roter und ein grüner Knopf. Ablehnen und annehmen. Mario strahlte auf dem Foto, als könnte er nur das Gute im Leben sehen. Sein Haar war schwarz, sehr dicht und wild. Um den Hals hatte er ein rotes Bandana gebunden. Er sah aus wie ein Skilehrer, fiel Veronika ein. Sie musste ihn danach fragen.

Nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatte, hob Veronika ab.

»Hallo Mario!«, sagte sie und bemühte sich, locker und natürlich zu klingen. Nur niemals verkrampft oder gierig erscheinen, lautete eine der wichtigsten Regeln beim Daten.

»Schön, dass wir heute miteinander reden können«, antwortete Mario.

Veronika spürte einen leichten Schauer über ihren Rücken kriechen. Mario hatte das, was man eine erotische Stimme nannte.

Die nächste Regel war ebenfalls wichtig: Nicht zu schnell intime Details erfragen. Das könnte den anderen in die Enge treiben.

»Hattest du einen guten Tag?«, fuhr Veronika fort. Diese Frage war sehr unverfänglich.

»Ausgezeichnet, weil ich mich seit dem Aufstehen auf unser Gespräch gefreut habe.«

Was für eine charmante Antwort. Selbst wenn sie gelogen war, klang sie sehr schmeichelhaft. Veronika versicherte, es wäre ihr genauso ergangen.

Das Gespräch nahm Fahrt auf. Mario plauderte über seine Tätigkeit als Berater in einem Computershop und die Mühe mit seinen Kundinnen und Kunden. Alle wären kompliziert gewesen, was er dem Mond zuschrieb. »Ich habe das schon öfter beobachtet, dass die Leute bei Neumond und Vollmond zu spinnen beginnen.«

»Danke für den Hinweis, ich werde mir an der Rezeption einen Mondkalender bereitlegen, damit ich vorbereitet bin«, sagte Veronika lachend.

»Arbeitest du in einem Hotel?«

»Ja. So kann man das sagen.«

»In Tirol.«

»Natürlich. Das habe ich doch in meinem Profil angegeben.«

Mario gab einen Laut von sich, der nach Husten klang. Es war aber wohl eher ein kurzes Auflachen gewesen. »Kennst du jemanden, der in seinem Profil immer nur die Wahrheit sagt?«

»Ich.« Veronika hatte sich sehr genau überlegt, was sie bei den verschiedenen Punkten eintrug und niemals gelogen.

»Du bist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.«

»Welche Regel?«

»Dass Leute auf Datingseiten zum Beispiel über ihr Alter lügen und falsche Fotos posten, auf denen sie jünger aussehen.«

»Hast du das auch gemacht?«

»Nein. Ich bin ehrlich. So wie du. Deshalb scheinen wir uns auch gefunden zu haben.«

»Das ist doch ein wunderbarer Grund«, meinte Veronika.

Mario gab ihr recht. »Ich habe das auch so in meiner Kindheit gelernt. Von meinen Eltern und in der Schule. Das hat sich bei mir eingeprägt.«

»Wo bist du zur Schule gegangen?«

»Ins Skigymnasium in Stams.«

Stams war eine Gemeinde in Tirol, die Veronika natürlich kannte.

»Und du?«, wollte er wissen.

»Die Volksschule habe ich hier oben im Ort gemacht, danach das Gymnasium und die Tourismusfachschule in Innsbruck.«

Veronika war überrascht, wie sehr sich Mario für sie interessierte. Normalerweise erzählten Männer bei solchen Chats alles Mögliche über sich, um zu beeindrucken. Mario war anders. Angenehm anders. Ihr Gespräch ging ohne peinliche Pausen dahin. Sie redeten über Erinnerungen aus der Schulzeit, über das Skifahren, ihre Träume als Teenager und wo sie nun im Leben standen.

»Warst du schon einmal verheiratet?«, fragte sie Mario.

Die Frage kam überraschend und war für ein erstes Date fast ein wenig zu heftig, aber sie war Veronika einfach so herausgerutscht.

»Nein. Du?«

»Auch nicht.«

Sie waren beide bereits Anfang dreißig und die meisten ihrer Altersklasse hatten schon das Jawort gegeben und manchmal sogar Kinder bekommen.

Weil Mario auf ihre direkte Frage so offen geantwortet hatte, traute sich Veronika weiter vor. »Lebst du in Stams? Oder warst du im Internat?«

»Internat. Ich bin in Völs zu Hause.«

Auch Völs war Veronika bekannt. Der Ort lag nicht weit von Innsbruck entfernt.

Danach ging es wieder um belanglosere Dinge wie Lieblingsfilme, Musik und Essen. Sie stellten fest, dass sie in allem einen ähnlichen Geschmack hatten.

»Was tust du morgen?«, wollte Mario wissen.

»Arbeiten. Ich habe nächste Woche Samstag eine Hochzeit hier im Hotel. Dafür muss einiges vorbereitet werden. Und du?«

»Ich habe Dienst. Aber hast du auch einmal frei?«

Veronikas Herz begann heftig zu schlagen. Wollte er ein Treffen vorschlagen? Nach diesem Telefonat war sie dazu mehr als bereit. Sie spürte die Verbindung zwischen ihnen und wollte sie vertiefen.

»Ja, natürlich, ich habe auch manchmal frei. Vor allem am Abend. Wieso?«

»Wäre schön, wenn wir uns einmal richtig sehen könnten. Wo wohnst du eigentlich?«

»Ich bin in Hochlissen zu Hause.« Eigentlich hatte sie das nicht verraten wollen, aber Mario klang sehr vertrauenswürdig.

»Soll ich dich besuchen kommen? Oder willst du dich lieber in Innsbruck treffen?«

»Innsbruck klingt gut.«

»Wie wäre es nächsten Samstag?«

»Da habe ich die Hochzeit bei mir im Hotel.«

»Richtig. Du hast es erwähnt. Entschuldige. Dann vielleicht Sonntag? Oder musst du da noch aufräumen?«

»Sonntag 18 Uhr klappt sicher. Die Gäste reisen bis spätestens 15 Uhr ab.«

»Dann haben wir ein Date. Ich trage es gleich in den Kalender ein.«

»Hast du einen Vorschlag für ein Restaurant? Ich habe ein bisschen den Überblick verloren, was es in Innsbruck so gibt.«

Mario überlegte. »Gib mir ein wenig Zeit. Ich will etwas wirklich Gemütliches und Gutes finden. Am besten, ich lass dir die Adresse dann per WhatsApp zukommen.«

»Ja, das wäre das einfachste.« Veronika nannte ihm ihre Handynummer.

»Ich schicke dir gleich eine Nachricht, damit du meine Nummer auch hast«, versprach Mario.

Das Gespräch hatte einen Punkt erreicht, an dem sie am besten Schluss machten. Für Veronika war es viel besser verlaufen als erwartet. Sie fieberte dem nächsten Sonntag entgegen. Noch neun lange Tage, wie sollte sie diese Zeit aushalten?

»Ich freue mich schon sehr!«

»Dann haben wir schon wieder eine Gemeinsamkeit«, meinte Mario.

Sie verabschiedeten sich mehrere Male, aber keiner wollte den roten Knopf drücken, um das Gespräch zu beenden. Schließlich war es Mario, der es tat und Veronika war darüber fast ein wenig enttäuscht.

Mit einem tiefen Durchatmen lehnte sie sich auf dem Sofa zurück. Fast zwei Stunden hatten sie geredet. So etwas war nur möglich, wenn es eine gewisse Verbindung zwischen zwei Menschen gab.

Veronikas Handy lag auf dem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer und sie ging es holen. Als Erstes wollte sie Marios Nummer speichern, damit sie bestimmt nicht verloren ging.

Seltsam. Er hatte ihr noch keine Nachricht geschickt. Sie sah auf die Uhr. Seit dem Ende des Gesprächs waren erst ein paar Minuten vergangen. Vielleicht war er auf die Toilette gegangen oder hatte sich einen Drink geholt.

Nach einer halben Stunde hatte sie noch immer nichts von ihm gehört. Veronikas Unruhe wuchs. Sie legte sich ins Bett, das Handy auf dem Nachtkästchen. Es dauerte lange, bis sie einschlief. Als sie aufwachte, griff sie sofort zum Telefon. Die Anzeige leuchtete auf.

2.02 Uhr

Keine Nachricht.

Hatte er vergessen? Wie konnte man so etwas vergessen? Oder hatte sie einen Fehler gemacht und bei der Verabschiedung zu überschwänglich geklungen? Sollte sie ihm eine Nachricht auf der Datingplattform schicken, um ihn zu erinnern?

Nein, das könnte er für aufdringlich halten. Er würde sich schon melden. Spätestens, wenn er ihr Name und Adresse des Lokals durchgeben würde, in dem sie sich treffen sollten. Die Enttäuschung über sein Vergessen schob Veronika beiseite. Es gab sicherlich eine einfache Erklärung, über die sie beide lachen und von der sie noch ihren Enkelkindern erzählen würden.

Der Tote in der Hochzeitstorte

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