Читать книгу Bahnfahring - Thomas C. Breuer - Страница 10

Оглавление

Cisalpino: In memoriam „Schieflage“

Stück für Stück hat sich die „Italianità“ aus unserem Leben hinausgeschlichen. Mit der Einführung der geschlossenen Wassersysteme im Zugverkehr verschwand der legendäre Toilettenhinweis „Durante le fermate nelle stazioni e vietato servirsi della ritarata.“ Ritirata – eine Vokabel, an der man sich berauschen konnte. Apropos Rausch: Erst kürzlich hat die italienische Polizei 165.467 Liter Wein beschlagnahmt. Diese Menge reicht aus, um mehr als 220.000 Flaschen von 0,75 Litern Inhalt zu füllen, davon größere Mengen vom Brunello di Montalcino; keiner weiß, wie viele davon Gerhard Schröder in seinem Weinkeller stehen hat. Ohnehin missriet die Toskana-Fraktion recht schnell zur Toskana-Fraktur. Auf dem Papstthron saß lange genug einer von uns, aber Miro Klose war der letzte Deutsche in der Serie A. Vielleicht ändert sich das ja, wenn die Hälfte der Italokicker erst einmal wegen Spielmanipulationen im Knast sitzt.

Wir im Süden hatten Glück. Bis 2006 zumindest, denn dank des Cisalpino fing Italien bereits in Stuttgart an, Stoccarda Centrale, volle sechs Stunden vor Erreichen der Grenze. Der Pendelzug schnürte an den Bahnsteig, mit seiner gedrungenen Stirn und dem blau-grünen Band der Ferrovie Statale, und kaum hatten einen die Türen, so sie denn aufgingen, Zugang gewährt, war man in Bella Italia. Letzte Momente voller Leidenschaft, am Bahnsteig wie im Zug, nicht nur bei den Liebenden, sondern auch bei denjenigen, die Gepäck zu verstauen hatten. Die zur Verfügung stehenden Stellflächen waren keineswegs ausreichend für Umzüge, selbst wenn es nicht wenige Reisende unverdrossen versuchen.

Niemand hat uns darauf vorbereitet, dass das schon die guten Jahre waren auf der sog. „Gäubahn“. Wie war das damals? Eine Zeitreise, eine Reise ins Glück? Nicht nur ein vages Versprechen, no, no, einige Jahre begann Italien tatsächlich auf Gleis 7, binario sette a Stoccarda. Der Speisewagen wirbt als rollende Lounge mit azurblauen Sitzgelegenheiten – azzuro! – um Kundschaft, anschmiegsam wie ein Kaschmirpullover aus Piacenza. Dazu die Ansagen des Restaurantbetreibers: „Dameunde’Erre ...“ Dies ist die wohl weltweit einzige Lokalität, wo zwischen der italienischen und deutschen Sprache kein nennenswerter Unterschied auszumachen ist. Überhaupt atmen die Ansagen internationales Flair: „My name is Rüthlisberger!“, meldet der Zugchef mit schweizerischem Zungenschlag. Die Betreibergesellschaft ist übrigens in Zürich beheimatet. Richtigen Espresso servieren sie hier, capisce, wenn la macchina funktioniert, und die Kaffeesahne, die man natürlich nur bis Chiasso inklusive in den kleinen Schwarzen schütten darf – in Italien wird man für derlei Frevel an die Stadtgrenze eskortiert – heißt panna caffè, obwohl im Bayernland produziert, und bei den total authentischen Plastikzuckersäckchen handelt es sich um den Original-Italo-Zucker von Novarese Zuccheri, was glauben Sie? Sie bieten panino primavera an, primavera bedeutet bekanntlich Frühling, ein weiteres Versprechen, die Hörnchen hat womöglich der Schwager von Gianna Nannini in Siena gebacken, bella Italia läuft zur Hochform auf, noch bevor wir an Stuttgart-Rohr vorbeizockeln. Der A 81 hingegen, der Autobahn, die wir in unmittelbarer Nähe zum Breuningerland queren, eignet wenig Südliches, nicht mal ein Hauch von autostrada del sole.

So schlingern die Passagiere mit weit geöffneten Herzen und in moderat mediterraner Stimmung zu ihren Liebsten, zu fernen Gestaden oder gar in neue Lebensentwürfe hinein. Ein Orientexpress in Schieflage, erfrischend für den, dessen Leben stets in geraden Bahnen verläuft. Die Strecke bietet lautmalerische Kleinode sonder Zahl wie Eutingen im Gäu, und während ich darüber sinniere, dass es schon fast an ein Wunder grenzt, dass so ein durch und durch eleganter Zug, immerhin hat ihn Giugiaro entworfen, durch eine so profane Ansiedlung wie Epfendorf perlt, wo übrigens eine Firma mit dem schönen Namen Ätztechnik Herz ihren Geschäften nachgeht, poetischer Höhepunkt des deutschen Streckenabschnitts, stellen sich die mitreisenden Italiener gegenseitig ihre neuesten Handytöne vor – mehr gibt das telefonino nicht her, einen durchgängig funktionierenden Netzzugang jedenfalls nicht auf dieser Strecke. Der CIS zieht ein Publikum an, das zu emotionalem Überschwang neigt und versorgt seine Gäste mit einer Dosis italianità, derer vor allen Dingen derjenige bedarf, der in Städten wie Rottweil den Zug wieder verlassen muss – der Winter dort oben auf sechshundert Metern und mehr kann kanadische Qualitäten entwickeln.

Die Bahn taugt eigentlich nicht für Aussteiger. Grenzenlose Freiheit verbindet sich kategorisch mit dem Auto, mehr noch dem Motorrad. Das hat mit der Dynamik zu tun: Auf der Straße liegt der Horizont vor einem, man bewegt sich sozusagen auf die Verheißung zu, im Gleisbett erscheint sie eher beiläufig seitlich im Fenster, erhabene Momente wollen sich dabei selten einstellen. Leider taugt die Bahn auch nicht für Einsteiger, denn natürlich fährt sie, wie sie will. Damit nimmt sie allerdings den Süden vorweg: Zum Teufel mit den Fahrplänen, irgendein Zug wird schon fahren. Sie führt sämtliche Fahrpläne ad absurdum und erteilt uns so eine Lektion in mediterraner Lockerheit. Wäre das nicht die verkehrte Sprache in diesem Zusammenhang, könnte man sagen: Mañana! Ich persönlich bin auf Züge angewiesen, denn: „Isch abe gar keine Auto, Signorina!“

Gut, es gibt Manki, gerne lässt sich der Markennamen CIS auch germanisch falsch aussprechen, wie, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. In ihrem Werbeprospekt sind sie sich nicht zu schade für den Satz „Wo die Zeit wie im Zuge vergeht ...“. Die italienischen Hersteller verfolgen dieselbe Politik anderer europäischer Zughersteller: Züge sollen Flugzeuge simulieren. Beim CIS gaukeln die Deckenverkleidungen dahinter verborgene Sauerstoffmasken vor. Gottlob bleibt der Zug am Boden; würde ein Flieger derart erbärmliche Töne von sich geben, wäre man beunruhigt. Den Cisalpino könnte man getrost als „Antonow“ unter den Eisenbahnen bezeichnen. Die Drucklufttüren niesen dazu, dffzäch-dffzäch, dafür können die Italiener nichts, denn die hat die Fa. IFE Door Systems in Waldhofen/Ybbs eingebaut, und die Ybbs fließt durch Niederösterreich. Die Sitze ächzen und stöhnen, über allem liegt dieser bedrohlich düsenartige Grundton, dazu das Knarzsurren der elektrisch betriebenen Sonnenblende, die alle drei Minuten derjenige betätigt, der den Fensterplatz inne hat und mit dem Ellenbogen so unausweichlich wie versehentlich an den Schalter gerät. Nein, der Zug hebt nicht ab, ist aber stärkeren Schwankungen unterworfen als jeder Aktienindex, und mit etwas Glück kann der Reisende sogar seekrank werden, ohne den entsprechenden Cruise-Zuschlag entrichten zu müssen, ein eiernder Klaustrophobie-Workshop, der nicht wenigen Übelkeit maritimen Zuschnitts verursacht.

Zum Glück sind alle Witze zum Thema Neigetechnik längst ausgereizt. Die Toiletten lösen bei zartbesaiteten Zeitgenossen spontane Verstopfung aus, was insofern gut ist, da sie meistens selbst verstopft sind. Praktisch immer. Ergo unwahrscheinlich, dass sich die Silbe CIS von „cistile“ ableitet: Blasenentzündung. Dafür die Wasserhähne: Sahel pur. Deshalb bleibt rätselhaft, warum sich der Boden wellt, als sei irgendwo eine verborgene Waschmaschine ausgelaufen. Die türkisenen Farbtöne verleihen dem Interieur etwas verwegen Poolhaftes. Vielleicht sollte man den Italienern das Zugbauen ebenso wenig überlassen wie den Holländern den Umgang mit Feuerwerkskörpern. Die Tische sind so hoch angesetzt resp. die Sitze so niedrig, dass einem der Laptop unter dem Kinn hängt; die Sitze ein ergonomisches Verbrechen, für Menschen jenseits der 1,85 m eine Quälerei.

Eine Conducteurin der SBB beliebte sich so auszudrücken: Am Anfang habe man ja noch gedacht, das seien alles Kinderkrankheiten, diese seien aber gleich in die Altersschwäche übergegangen. Das Bahnschweizerisch unterscheidet sich übrigens vehement vom Bahndeutsch, aus „Die Fahrausweise, bitte!“ wird „Alle Billette vorweisen“, und deutsche Orte werden anders betont: Rottweil. Rätselhaft auch, warum die Schweizer stets vom Zugsteam sprechen, die Deutschen haben das Binnen-S wohl wegrationalisiert. Es ist nicht so, dass die Deutschen keine Wunderlichkeiten zum Streckenverlauf beizutragen hätten, die häufige Eingleisigkeit beispielsweise, die den Franzosen zu verdanken ist, die das zweite Gleis nach dem Krieg rausgerupft haben, um damit vielleicht die Infrastruktur auf Madagaskar zu verbessern. Gut, die Strecke von Ulan-Ude nach Peking kommt auch mit einem Gleis aus. Selten, dass heutzutage Züge vom Kaliber ICE auf Gegenzüge warten müssen.

Im März 1998 hat man den Cisalpino mit einigem Pomp am Hauptbahnhof Zürich vorgestellt und geprahlt, man könne damit 17 Minuten eher in Stuttgart sein. In Stuttgart? 17 Minuten? Wow! Wozu? Das ist Dezennien her, ohnehin habe ich längst das Gefühl, wir seien schon ewig unterwegs, was man uns beiden durchaus ansieht. Wir haben uns erst zusammenraufen müssen, der Cisalpino und ich, die Leichtigkeit des Südens muss sich der Deutsche immer erst redlich erarbeiten. Hier kann ich, zum Teufel mit den technischen Mängeln, mitschiffs schon mal ein bisschen Weltläufigkeit üben. Die Fenster lassen sich nicht öffnen, Ballast kann man trotzdem loswerden. Wer einen der Ausziehtische auszieht, sieht sich mit wundersamen Ansiedlungen von ... nun, Mikrobiologen würden sicher gleich die richtige Zuordnung finden.

Ach so, Landschaften gibt es ja auch noch, molto, Schwarzwald im Westen (rechts), die Schwäbische Alb im Osten (also links), das elegante Eintauchen ins Neckartal kurz vor Horb, der Viadukt von Rottweil, und wie als Kontrastprogramm das spröde Tuttlingen; rechter Hand entschädigt kurz darauf ein eiserner Friedhof mit rostigen Dampflokomotiven, dem Auge wird geschmeichelt auf dieser Route, nicht zuletzt vom Maggiwerk in Singen. In der Maggimetropole wird die Schweizer Lok vor den Zug gespannt. Machen Sie eine klassische Handbewegung: Helvetische Lokführer wischen stets die Haltestangen beim Verlassen der Führerkabine mit einem Tuch ab. Möglicherweise eine Höflichkeitsgeste dem nachfolgenden Kollegen gegenüber, vielleicht auch nur die schnöde Beseitigung von Fingerabdrücken. Welcome to Switzerland. Spätestens drei Kilometer nach Thayingen pflegt sich mein alter Freund Roaming zu melden.

In diesem Zug hört Schaffhausen auf den klangvollen Namen „Sciafusa“; der Rheinfall, der Viadukt bei Eglisau, die anheimelnde Agglo Zürich, unerschrocken kämpft sich der CIS durch das Urnerland, wo Schweizer Ingenieure, ich schwöre es, aus purem Übermut um die Kirche von Wassen drei Schleifen gelegt haben, die legendäre Triple-Volte. Warum machen sie das? Weil sie es können, Dummy! Schon blicken wir in den Schlund des feuerspeienden Drachen, den Gottardo. Die wenigsten werden wissen, dass es Zugvögel gibt, die ihren Gattungsnamen wörtlich nehmen und nicht mehr über den Gotthard fliegen, sondern in Göschenen auf Güterzügen Platz nehmen, um durch den Tunnel zu rauschen und auf der anderen Seite als Schwarzfahrer wieder rauszukommen. Kein Scherz. Sozialschmarotzer, die von Glück reden können, dass auf der anderen Seite nicht gleich Italien anfängt, denn dort würden sie stantepede in die Netze der Vogelesser fliegen.

Schon bei Airolo werden weitere Versprechungen des Südens eingelöst. Flugs noch einmal ordentlich Kaffeesahne in den Espresso gekippt, dann rücken auch schon die Grenzgeschwader an, die grauen Eminenzen und die uniformierten Finanzbeamten, und jetzt ist der echte Süden da, die Palmen, das Glitzern des Sees, das trutzige Gefängnis südlich von Como. Ich habe ihn richtig liebgewonnen im Laufe der Jahre, den Cisalpino, eine der letzten Herausforderungen der Zivilisation, der den perfektionsfixierten Preußen häufig vor Herausforderungen stellt, gerade vor ein paar Tagen nach dieser Durchsage in schönstem schweizerischen Zungenschlag: „Wegen technischer Problemen verliert der Zug etwas Zeit!“ Bene – mochte dieser Zug auch eine mobile Dauerstörung sein, einmal geriet im Zimmerberg-Basistunnel unweit Zürich ein Waggon in Brand, bedeutete er letztlich aber den charmant-schlampigen Gegenentwurf zum sterilen Reisen, das mittlerweile fast die Regel ist, ein Fortbewegungsmittel mit Geräuschen und Gerüchen, das einen elegant an die eigene Fehlbarkeit erinnerte, und über Jahre hinweg erzog er uns mit einer ganz eigenen Interpretation von Zuverlässigkeit beharrlich zur Lässigkeit. Und einen gescheiten Espresso haben sie im ICE noch nie hingekriegt, maximal einen „Expresso“. Ja, das ist eine andere Welt, und, nein, das Baden-Württemberg-Ticket ist auf dieser Strecke immer noch nicht gültig, wäre ja noch schöner!

Nach achteinhalb Jahren ging es dem CIS zum Fahrplanwechsel im Dezember 2006 an den Kragen, offiziell, weil die Verträge ausliefen. Der hohen Anfälligkeit wegen wollte die Deutsche Bahn neue 7-teilige ICEs einsetzen, auf deren Verlässlichkeit der Voyageur natürlich gespannt sein durfte, freilich vergebens, denn diese Züge wurden nie aufs Gleis gesetzt, dank Störungen der Oberleitungen bei Bahnvorstand und Triebkopfschäden bei den Herstellern. Auf der Gäubahn geht es also nach wie vor so zu wie bei dieser hinreißenden Ansage im Bahnhof Singen: „Die Abfahrt unseres Zuges verzögert sich um einige Minuten, da wir den Gegenzug aus Stuttgart abwarten müssen, der unseren Lokführer bringt.“

Nicht nur, dass bis auf die Münchner Verbindungen über den Brenner und ein paar Nachtzüge die direkte Achse Deutschland – Italien gekappt wurde: Einfacher ist das Reisen nicht geworden. Mag die Postmoderne hinter uns liegen – die Bahnmoderne lässt noch auf sich warten. Auch im Jahr 2016, nebbich. In Rottweil klettert der Mann aus dem Führerstand einer betagten Lokomotive, schreitet über die Gleise, steigt mit mir in den Intercity nach Zürich. Dort setzt er sich in den Zweier auf der anderen Seite des Ganges. Ob das jetzt die Regionalzüge seien, die neuerdings zwischen Stuttgart und Singen verkehren, frage ich ihn. Er nickt. Seit dem ersten Oktober, sagt er. Die haben die alten, die wesentlich neuer waren als die neuerdings aktuellen, von dieser Strecke abgezogen, die müssen jetzt zwischen Stuttgart und Aalen verkehren. Warum, frage ich kreidebleich. Weil die Strecke dort neu ausgeschrieben wurde, und die Bahn nur den Zuschlag bekommen hat, weil sie zusagte, neueres Rollmaterial auf die Strecke zu bringen. Da haben sie kurzerhand die halbwegs manierlichen Triebwagen der Baureihen 425 und 426 von der Gäubahn runtergenommen, um sie auf der verdammten Remsbahn einzusetzen. Jetzt haben wir die alten, notdürftig aufgepimpten Silberlinge an der Backe, die sog. „n-Wagen“, gebaut zwischen 1958 und 1980 in 5.000 Exemplaren. Ende 2015 waren noch 946 Waggons im Einsatz, hinterlistige Knochenbrecher, bei denen die Türen nie richtig aufgehen, es sei denn, man nimmt eine Schulterfraktur in Kauf. Und wer dann mit Gepäck die Schiebetür zur ersten Klasse öffnen möchte, kriegt zusätzliche Probleme.

Der Lokführer wirkt traurig. Die Züge seien eine einzige Katastrophe, sagt er, die Loks weit über dreißig Jahre alt. Gefährlich seien sie auch, die Türen ließen sich, wenn auch schwer, öffnen, wenn der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hat. Und wenn dann was passiert, ist der Lokführer als Erster dran. Man müsse höllisch aufpassen. Viel verbessert hat sich nicht in den letzten Jahren, werfe ich vorsichtig ein. Da blitzt es in seinen Augen: Seit dem Mehdorn sei alles schlimmer geworden, bricht es aus ihm raus, weil der damals unbedingt an die Börse wollte. Dem habe er alles geopfert. Mir fällt ein, dass ich in einem früheren Programm einen Mehdorn-Schlenker hatte, demzufolge dieser Herr vielleicht auf der Gehaltsliste eines beliebigen Automobilkonzerns stünde, um DB-Kunden zurück zum Auto zu scheuchen. Tatsache ist, dass die DB die sog. „Gäubahn“ in den letzten fünfzehn Jahren, seit ich diese Strecke regelmäßig befahre, konsequent runtergerockt hat. Hier verkehrten früher Neige-ICEs, und, wie eben beschrieben, der Cisalpino, Dann gab es wenigstens Doppelstockwaggons, und jetzt dieses Drecksmaterial. Da soll man keine Wut bekommen.

Bei der Bahn ginge es drunter und drüber, sagt der Lokführer, am schlimmsten sei der Personalmangel. Früher, wenn da mal ein Zugausfall passierte, sei das die Höchststrafe gewesen, heute seien allein in Stuttgart 10 – 15 Zugausfälle pro Tag nichts Außergewöhnliches. Seine Schicht sähe meistens einen Rhythmus von sechs Tagen Dienst und einen Tag frei vor, was zur Regeneration keinesfalls ausreiche, und bei zwei aufeinanderfolgenden Tagen könne er sicher sein, dass am zweiten Tag der Anruf käme: Könntest du vielleicht einspringen? Mich interessieren natürlich die Gründe. Er runzelt die Stirn. Das Angebot für Lokführer sei einfach nicht mehr attraktiv genug. Er sei immerhin Beamter, aber die jungen Leute könne man mit diesem lächerlichen Gehaltsangebot nicht mehr locken. Die würden in die Schweiz abwandern. Allein in Singen seien in den letzten Monaten fünf Kollegen abgesprungen. Die Bahn biete keinen Anreiz, für junge Leute gäbe es nicht einmal ausreichend Geld, eine Familie zu ernähren.

Zwischendurch kommt die Ticketknipse und will von ihm den Dienstauftrag sehen. Er habe nur seinen DB-Ausweis dabei, sagt er und präsentiert ihn. Die Genaunehmerische meint, sie seien neuerdings angewiesen, genauer hinzusehen, seit es die Dienstkleidung schon ab 29 Euro bei Ebay gäbe. (Die Westen, da genügen bloß zwei Klicks, gibt es bereits für 9,99 Euro).

Als sie verschwindet, fügt der Lokführer hinzu, die Stimmung im Unternehmen sei miserabel. Gut, seufzt er, nächstes Jahr kämen die neuen Züge.

Ja, sage ich, toll. Ab dann darf in Singen umsteigen, wer nach Zürich reisen will. Stimmt, meint er, die neuen ICs dürfen in der Schweiz nicht fahren. Aber das könne sich bis dahin auch wieder ändern. Es ändere sich laufend alles.

So spontan habe ich die Bahn gar nicht eingeschätzt. Trotzdem mache ich mir Sorgen: Müssen wir in naher Zukunft mit häufigeren Unterbrechungen im Bahnverkehr rechnen, wenn sich Lokführer in ihrer Verzweiflung vor den Zug werfen?

Die Fahrgaststatistik von 2015 weist übrigens für die Gäubahn eine Zunahme von 10 % gegenüber 2012 aus.

Bahnfahring

Подняться наверх