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Stadt-Express SE 23034

Mannheim. Ludwigshafen-Stadt. Ludwigshafen Hauptbahnhof. Ludwigshafen-Mundenheim. Ludwigshafen-Rheingönheim. Limburgerhof. Schifferstadt. Böhl-Iggelheim. Haßloch. Neustadt/Wstr.-Böbig. Neustadt/Wstr., Lambrecht. Neidenfels. Weidenthal. Frankenstein. Hochspeyer. Kaiserslautern Hauptbahnhof. Kaiserslautern-Kennelgarten. Kaiserslautern-Vogelweh. Einsiedlerhof. Kindsbach. Landstuhl. Hauptstuhl. Bruchmühlbach-Miesau. (Homburg. Limbach. Kirkel. Rohrbach. St. Ingbert. Scheidt. Saarbrücken-Ost. Saarbrücken Hauptbahnhof. Völklingen. Bous. Saarlouis. Dillingen. Beckingen. Merzig. Mettlach.) Saarburg. Konz. Trier Hauptbahnhof. DB-Fahrplan

Vom Stadt-Express hieß es weiland im Fahrplan mit dem prosaischen Namen „Städteverbindungen“, er schaffe „schnelle Direktverbindungen in die Zentren. Außerhalb von S-Bahnen hält der SE an allen, innerhalb von S-Bahn Netzen nur an ausgewählten Stationen.“ Auf der Anzeigetafel las sich das wie folgt: „Hält nicht an allen Stationen.“ Die Wahrheit ist, dass zwischen Ludwigshafen Hbf und Trier maximal zwei ausgelassen werden, eine davon im Saarland. Oftmals tönt es aus den Lautsprechern: „Mit Halt auf allen Unterwegsbahnhöfen“ – was die Frage aufwirft, ob es wohl auch andere gibt, also solche, die nicht unterwegs zu finden sind. Der Stadt-Express ist längst Geschichte. Wikipedia schreibt dazu: „Die Deutsche Bahn hat die Produktkennung SE bzw. CB vom Markt genommen. Die Leistungen werden seitdem durch Regionalbahn- oder Regional-Express-Verkehre erbracht. Einige dieser Linien setzen das Konzept des Stadt-Express heute noch um.“ Vielen Dank fürs Erste. Höchste Zeit für einen Nachruf.

Wir schreiben das Jahr 2001. Der Startbahnhof ist Mannheim, wo auch der DB-Zug „Notfalltechnik“ daheim ist: Spreizen, Schneiden, Werkzeug, steht auf einem signalroten Waggon. Aktuell verdeckt er den schwer demolierten IC, der am 4. August 2014 von einem Güterzug aus dem Gleis gekickt worden ist. Da hatten die Notfalltechniker sozusagen ein Heimspiel. Mannheim ist nicht eben für seine vornehme Zurückhaltung bekannt. Deshalb passt der folgende Dialog zweier Streckenarbeiter sehr gut. In der Schließfächerhalle (Umkleiden haben sie anscheinend keine) ziehen sich die beiden nach getaner Arbeit um. Nach der Durchsage „Dieser Zug hat 70 Minuten Verspätung!“ meint der eine: „Clever. Personenschaden am Gleis, das erspart ihnen die Entschädigung!“ Sagt der andere: „Hat sich wieder einer geopfert.“ Der Rekord für Nachzahlgebühren bei den Schließfächern am Mannheimer Hauptbahnhof liegt übrigens bei 90 Euro Nachzahlgebühr. Welche Geschichten sich da wohl hinter verbergen?

Da Freitag ist, habe ich mich für die Erste Klasse entschieden, um den Kontakt zur kämpfenden Truppe auf ein Minimum zu reduzieren. Reine Notwehr. Autoren, die sich in ihren Werken mit der Eisenbahn beschäftigt haben, wie Tim Parks oder Peter Bichsel, schwören auf die 2. Klasse, weil es da angeblich mehr zu beobachten gibt. Ich teile diese Auffassung nur bedingt, denn dank Bonusmeilen und Sparpreisen entbehrt die 1. Klasse längst jeglicher Exklusivität. Sie ist nur etwas weniger voll. Ich brauche die Nähe zum sog. „einfachen Volk“ nicht unbedingt im Zugabteil. Zudem beflügelt die Fahrtzeit von knapp dreieinhalb Stunden den Wunsch nach etwas mehr Komfort. So man denn von solchem sprechen kann: Der SE kommt weitgehend ohne aus, ohne Speisewagen, ohne Kaffeeküch‘, ohne Minibar, ohne Tischchen, ohne Fußkussservice. Immerhin hat man sich inzwischen dazu durchringen können, den Umgangston geringfügig freundlicher zu gestalten. Nachdem ich mich mit meinem Gepäck durch die Tür zur 1. Klasse gezwängt habe, was nicht ungefährlich ist, pflegen diese doch zuzuschnappen wie Alligatoren, lasse ich mich auf einem blassblauen, leidlich bequemen Sitz nieder. In eine Art Naturholz hat man mittels einer Art innovativer Laubsägearbeit eine Art Flaschenhalter eingelassen, der allerdings verschwindet, wenn man die Armlehne herunterkippt.

Schon in Mannheim ist das Luxemburger Ehepaar eingestiegen. Er passiert zügig das Raucherabteil, das aus einem Glaskasten mit vier Sitzen besteht und mich an den gläsernen Pranger am Flughafen in Salt Lake City erinnert, wo armselige Raucher den spöttischen Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben werden, mit freundlicher Unterstützung von Reynolds Tobacco. Seine Frau folgt ihm nur bis zur Schiebetür desselben und biegt dann ab. Er schaut reichlich verdutzt und dreht sich dann zu ihr um und nickt ihr dann zu: „Ah, do kanns do fümme!“ Sie setzt sich hin und fümmt sogleich. Soeben bestätigt sich, was ich jüngst in einem SAT-1-Bericht über die Letzebuerger erfahren durfte: „An ihrer Muttersprache halten die Einheimischen fest.“

Im Ludwigshafener Hauptbahnhof hat man das ewig Provisorische kultiviert, nervöses Baustellenambiente, die Anlage ist diffus, die schnörkellosen Geraden sollen wohl so etwas wie einen Orientierungsrahmen bieten, verlieren sich aber eher im – ja, wo genau eigentlich? Um nicht vollends abzuheben, haben sich viele Menschen hier ein ordentliches Polster angefressen. Auch möglich, dass die Amerikaner in paarundfünfzig Jahren Besatzung ihr Schönheitsideal am Markt durchgesetzt haben. Draußen ein Bunker. Dann Kastenbauten. Ludwigshafen ist die Vollendung der Gradlinigkeit. Mehr Kästen, mehr Bunker. Wer die Stadt kennt, weiß, dass sie damals Letztere dringend benötigt hat. Nur: Warum flattern nach dem Abzug der GIs noch so viele „Stars & Stripes“ in den Schrebergärten?

Der Zugbegleiter krempelt sich zunächst gewissenhaft die Ärmel hoch und verspricht: „Isch kumm nochher nomma!“ Was sich als leere Drohung erweist. „Ich muss ...“, sagt er noch – und verstummt. Ein Beamter des Bundesgrenzschutzes entert das Abteil, incl. Reizgas am Gürtel. Wieso dürfen die eigentlich immer 1. Klasse reisen, erwarten den Reisenden dort besondere Fährnisse, in Mundenheim womöglich? Grautöne, wieder Bunker, Graffiti, das Ruhrgebiet im 1:1-Nachbau, und zwar schäbbich, wie man dort sagt. Nach einer solchen Prüfung kommt einem alles andere als Idylle vor. In Rheingönheim wirbt ein Plakat: „One Night For The Blues“. Mit einer Nacht werden sie wohl nicht auskommen. Limburgerhof grüßt per Graffito: „He mein Babe, gib mir noch eine Chance, ich liebe dich.“ Wer mit Babe gemeint ist, ob Svenja, Sven oder vielleicht Florian Gerster, entbirgt sich leider nicht. Das Elend setzt sich fort, so dass einem der Golfplatz vor Schifferstadt fast schon zynisch vorkommt.

Der Bahnmann läuft unmotiviert die Gänge auf und ab, als müsste er sich sein Revier gehend erschließen. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass die anderen Züge so sehr anders gestaltet sind. Noch mehr Grenzschutz. Muss ich Angst haben? Wovor? „Hier spricht der Zugführer. Sollte ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG im Zug sein, bitte beim Zugführer melden. Besten Dank!“ Die Luxemburger Lady fümmt ungerührt weiter. Wenn der Zugführer noch Zeit findet, seinen Dank auszudrücken, kann es so schlimm nicht sein, versuche ich mich zu trösten. Mittlerweile guckt er ungelogen circa alle 17 Sekunden auf seine Uhr, ich habe ihn im Blick, da ich im ersten Wagen vorne sitze. Immerhin scheint er redselig, spricht jedenfalls unablässig mit sich selbst.

Gerne würde ich nun hinter das Geheimnis kommen, warum sich acht Gleise auf den Bahnhof Schifferstadt zu bewegen, während die 700.000 Einwohner zählende Stadt Valencia mit deren sechs auskommt? Allerdings bin ich mal von einer Lesung nach 23 Uhr in die Schalterhalle von Schifferstadt gekommen um festzustellen, dass selbige nachts als Café genützt wird. Die Bude war voller Karten spielender Menschen. Nightlife. Wenn in besagter Lokalität Männer das Raufen anfangen, dann kann es gut sein, dass hier einfach nur zwei Schifferstädter Ringerhelden trainieren, denn diese Gemeinde ist Kontaktsport durch und durch. So pflegt man hier Männerfreundschaften: ein wenig schwiemelig, ein wenig schwitzig, handfest und dennoch nicht anrüchig. Mittlerweile gibt es sogar ein Ringermuseum. Darüber hinaus kann Schifferstadt mit einer Pechhüttenstraße, einem geschlossenen Imbisswagen Hähnchen Grill und einem Restpostenlager inklusive Getränkeabholmarkt aufwarten. Was soll das überhaupt sein, ein Abholmarkt? Gibt es vielleicht Märkte, wo man seine Getränke hinbringen kann? Auf der anderen, schäbigeren Seite der Gleise, die man z.B. in Cincinnati „over the rhine“ nennen würde, wirbt eine Schrift für „ANDESPRODUKTE“. Falls es einmal eine Benefizveranstaltung zugunsten des fehlenden „L“ geben sollte – ich bin dabei!

Parallel zum Schienenstrang verläuft kurze Zeit die Autobahn, auf der sich ein Container westwärts schiebt, der auf einen LKW geschraubt wurde. Auf den Feldern bauen sie Spargel an und, das erwähne ich jetzt ungern, Kohl. Wir laufen in Haßloch ein. Hier müssen die Amüsierwütigen raus, ab zum Holidaypark. Die Werbung für die Kunsthalle Mannheim, die in diesem Zug überall aushängt, scheint mir verschwendet, da fehlt die Zielgruppe. Leichte Hungergefühle stellen sich ein. Wir zockeln durch einen Landstrich, in dem die Buchstabenkombination „www.“ unverwüstlich für „Weck, Wooscht und Woi“ steht. Häufiger sieht man jetzt Männer zusteigen in karierten Holzfällerhemden und Freaklederhosen, gerne in braun. Abgerundet werden diese beliebten Ensembles mit einer Schirmmütze, die ihre Träger als Mitglied der Taliban-Milizen des 1. FC Kaiserslautern ausweist. Was sonst noch gerne getragen wird: Jeansanzüge. Oder Tarnfarben. Irgendwo, verdammt, muss es hier doch auch Kleidung aus erster Hand zu kaufen geben.

Noch mehr Spargel. In Böbig hätte ich Anschluss nach Grünstadt, wenn mir danach wäre. Dazu fällt mir das Friedensspektakel ein, zu dem man mich am 18. September 1982 eingeladen hatte, weil die keine Ahnung hatten, was für ein unfriedlicher Zeitgenosse ich sein kann. Unter dem Hinweisschild „Friedensfestival“ wies ein weiterer Pfeil in dieselbe Richtung: „Zum Schießstand.“ Spargel ab, Auftritt Wein. Die Hänge des Pfälzer Waldes. Autofahrer haben es besser, die werden auf ihrem beschwerlichen Anstieg zum Pfälzer Wald mit dem Schriftzug „Sausenheimer Honigsack“ belohnt, wuchtige Lettern, die hollywoodgleich in einen Wingert gerammt wurden.

Das Schulzentrum Böbig speist den Zug mit ein paar Zöglingen. „In Kürze erreichen wir den Bahnhof Neustadt Weinstraße. Mit etwas Glück erreichen Sie dort noch ...“ Hat das der Schaffner gerade tatsächlich gesagt? Vielleicht schaut er gar nicht bekümmert drein, sondern ist ehrlich besorgt. Womöglich bildet die Bahn ihre Mitarbeiter neuerdings in Mitfühl-Schulungszentren aus. Das Glück mit dem Anschluss möchte ich jedermann gönnen und gelegentlich selbst mal erleben. Die Bahnhofsunterführung von Neustadt ist videoüberwacht, was beruhigend ist zu wissen, anscheinend werden immer wieder welche gestohlen.

„Hier noch ein Hinweis: Sollten Sie aussteigen ... am Bahnsteig ... Schließen Sie die Wagentüre! Besten Dank!“ Byebye, Zentralverriegelung – ob das der Grund ist für seine sorgenvolle Miene? Keine Zeit zur beinharten Recherche, jetzt geht es in den Busch. Eine Idylle, aber gleichzeitig ein enger Canyon, der Alptraum eines jeden Mobilfunkteilnehmers, ein „Tal der Ahnungslosen“. GIs aus den Appalachen dürften keine Mühe haben, sich heimisch zu fühlen. An jedem Bahnhof soll fortan eine Person leicht verloren herumstehen, frei nach Ringelnatzens „Warten auf Weiss-nicht-was“. Mit Hauenstein wird der erste Bahnhof ausgelassen. Sicher klagt die Gemeinde seit 28 Jahren erfolglos durch alle Instanzen. In Lambrecht habe ich einmal eine halbe Stunde auf dem Bahnsteig zugebracht, nur weil ich in Neustadt in den Zug in die falsche Richtung gehechtet bin, aus dem ich erst in Lambrecht wieder raus kam. Da blieb mir ausreichend Zeit, darüber nachzudenken, was es mit dem Kuckucksbähnel auf sich hat und ob das als Metapher für die chronisch klamme Deutsche Bahn AG zu verstehen ist, über der ständig die Gerichtsvollzieher kreisen. Häuschen wie aus dem Faller-Bausatz, aus der Zeit, als die Straßen nach verloren gegangenen Provinzen benannt wurden und die Welt, weil schwarz-weiß, noch in Ordnung war.

Mit Neidenfels endlich einmal ein Ort, der nach einer Untugend benannt wurde. 19 Fahrschüler, 2 Wanderer, eine Frau mit Einkaufstüten. Das typische 12:45 Uhr-Publikum. Auf einem Nebengleis ein gelber Hebekran, auf dessen Führerhaus jemand in gotischen Lettern „August der Starke“ geschrieben hat. Weidenthal wirbt mit zwei Bundeskegelbahnen, was irgendwie offiziell und großartig klingt, wie vom Bundesinnenminister persönlich gewartet. Die Berge drumherum sind aus rotem Sandstein gefertigt, der Rest ist grüne Wildnis. Zum Kontrast stellen die Pfälzerwäldler blaue Tonnen in ihre Gärten.

Die Luxemburgerin fümmt. Ihre Intensität erinnert mich an einen Brief, den ich in den späten Siebzigern aus dem Großherzogtum erhalten habe, auf dem ein Stempel prangte: »Alcohol un Tubak sinn Drogen. Drogen maachen futti!« Hoffentlich hält sie durch. Entlang der Strecke wird emsig gearbeitet. Frankenstein, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Der Bahnhof sieht arg gerupft aus, als hätte sich eben jener drüber hergemacht. Unschlüssig ruht er in der feuchten Enge des Tals, alles scheint sich in der Phase des Übergangs zu befinden; niemand scheint aber zu wissen, von wo nach wo. „Teenage Wasteland“ brüllt mir Roger Daltrey zufällig vom Kopfhörer aus ins Ohr und weiß gar nicht, wie Recht er damit hat. Natürlich gehorcht er der Zufallsdramaturgie der Titelreihung meiner Kassette. Ja, ganz recht, zu den Zeiten, als in Zügen geraucht werden durfte, hörte man noch Kassette. Ging auch. Dafür kam man ohne Klingeltöne aus. Den allseits bemängelten Geburtenrückgang in dieser Republik vermag ich übrigens auf diesem Trip nicht zu bestätigen, aber das kann an der Tageszeit liegen, die von den sog. Fahrschülern dominiert wird.

Zu Hochspeyer will mir auf Anhieb nichts einfallen und später noch weniger, außer dass auf dem Bahnsteig wieder einer rumsteht. Es wäre übertrieben, hier vom alpinen Gegenentwurf zu Speyer zu sprechen. Bolzplätze kündigen Kaiserslautern an. Links, gleich oberhalb des Firmengeländes von Schuster & Co., der Betzenberg, wo der Ministerpräsident jeden zweiten Samstag zum Fotoshooting erscheint. Ja, der Betze, umgehend denke ich an die Walz aus der Palz, beliebt vor allem in Albanien. Nach dem Sieg der albanischen Nationalmannschaft in Tirana gegen Russland haben viele Mütter ihren Sohn auf den Vornamen Briegel taufen lassen. „Die Pfalz ist ein einziger großer Fußball!“, hat Franz Beckenbauer schon 2003 erkannt. Irgendwann kommt die WM, derentwegen sie anscheinend die halbe Stadt abreißen, für Lauterer reine Dibbelschisserei: „Zu Gast bei Freunden!“ Keinem dürfte klar sein, dass diese Freunde rote Teufel sind. Rote Teufel, rote Socken, rote Zahlen. „Die Pfalz ist Kampf!“, betont der aktuelle FCK-Boss gerne. Der Betze ist die Hölle, und die Rasenheizung eine moderne Variante des Fegefeuers. Klar andererseits, dass ein solcher Anziehungspunkt unbedingt neuer Bahnsteige bedarf, obwohl von hier viele Bahnlinien abgehen, die sicher zeitnah stillgelegt werden, um den Fahrplan zu entflechten und Platz zu schaffen für neue Züge wie den schnittigen TransRegioPfalz, ganz in silber-metallic und gelber Beschriftung.

Schade, dass ich nicht nach Kusel muss. Was ich jedenfalls an den Pfälzern mag, ist ihre umschweifreduzierte Art: In Kaiserslautern habe ich mich dummerweise im Februar 1990 zu einem Auftritt anlässlich einer „alternativen“ Faschingsveranstaltung verpflichten lassen. Alternativ zum üblichen Besäufnis hatte man sich entschlossen, sich bewusst zu betrinken. Oder nachhaltig, aber dieses Wort war damals noch nicht en vogue. Ich rauf auf die Bühne, wollte mit etwas leicht Erfassbarem beginnen: „Die Nachrichten!“ Brüllte einer von unten: „Jetzt nicht!“ Ich: „Wann dann?“ Der Eine: „Später!“ Darauf ich: „Fein. Dann kannst du ja weitermachen!“ Sprach‘s und verließ die Bühne.

Wachablösung. Abgang besorgter Schaffner, Auftritt neuer Schaffner. Am Ortsausgang ruhen riesige Kabeltrommeln mit aufgewickeltem Geschläuch, womöglich randvoll mit fertigen Telefongesprächen, die nur auf Teilnehmer warten. Habe mich als Kind oft gefragt, ob Vögel, die auf Überlandleitungen hocken, Telefonate abhören können, mittlerweile ist das eher ein Thema für Maulwürfe. Was aber mögen das für Leute sein, die in Kennelbach zusteigen? Warum gibt es in Vogelweh das Ausgangsschild in der englischen Version? Wegen des Opelwerks, weil der Autohersteller General Motors gehört? Wieso nennen sie den Ort nicht gleich: Birdpain? Was sich GM z. B. in Bochum geleistet hat, war ein „pain in the ass“. In Einsiedlerhof stehen überraschend viele Häuser, die Einsiedler kommen im Rudel. In einem Schrebergarten in Kindsbach lockt eine laubfroschgrüne Hütte mit der Aufschrift „Zum blauen Klaus“. Ich bin so dankbar, das sehen zu dürfen.

Ein Hochgeschwindigkeitszug gestattet keine Details, im Stadt-Express aber ist der Übergang zwischen Beschleunigung und Bremsweg so nahtlos wie harmonisch wie komisch. Ähnlich wie Bayern ist die Pfalz Promille-Hoheitsgebiet, ohnehin war sie während einhundertfünfzig Jahren bayrisches Terrain, Die Bahn verkauft sicher nicht wenige Tickets an Führerscheinverlierer, jedes Weinfest wird daher von den Bahnlern freudig begrüßt. Trotzdem gibt es in manchen Gemeinden, aus denen Politiker nach Mainz entsandt wurden, geheime Stillhalteabkommen mit den Ordnungskräften.

Der neue Schaffner fällt nicht weiter auf. Die Luxemburgerin fümmt unverdrossen. Aus ihrem Glasverschlag ist sie nie wieder herausgekommen, mittlerweile sieht man sie kaum vor lauter Dunst, weswegen ihr Mann keine Anstalten macht, sich zu ihr zu gesellen. Nächster Halt: „Laandstool“, wie die Amerikaner sagen. Landstool, Ramstine, Kaiserslaughter, wo Deutschland am amerikanischsten ist. Stripmalls, Straßenkreuzer, Fast Food, das ganze elende Sortiment. Kein Zufall, dass ganz in der Nähe, in Zweibrücken (Two Bridges) das erste Outletcenter der Republik aufgemacht hat. Ramstein ist seit dem 28. August 1988 sogar den meisten Amerikanern in den Staaten bekannt, eine traurige Berühmtheit.

Gleich am Bahnhof wartet die Multisportanlage Topfit auf Kundschaft. Wenn ich die Körperumfänge der Menschen auf den Bahnsteigen betrachte – große Umsätze können sie nicht tätigen. Solange „Promis“ wie Reiner Calmund, der längst über eine Postleitzahl verfügt, als Vorbilder durch die Privatsender walzen, und leider nicht nur dort, darf man sich nicht wundern. Von Landstuhl nach Hauptstuhl, was mich wiederum an meine Cola erinnert. Bruchmühlbach-Miesau. Vor Selbstbewusstsein strotzen die Ortsnamen nicht gerade. Die Westpfalz wird darin nur übertroffen vom Großraum Bad Hersfeld mit so aufbauenden Gemeinden wie Sieglos, Stärklos und Machtlos. Auffällig in dem Zusammenhang die Schlurferei und Schleicherei, mittels derer sich vor allem Jugendliche durch die Gänge bewegen, mit meist herabhängenden Schultern.

We are now entering the Saar Sektor, mithin ein Gebiet von der Größe des Saarlandes. Begeistert hat mich einmal im Saarbrücker Hauptbahnhof der Hinweis auf der Herrentoilette: „Urinal 25 Cent, mit Händewaschen 40 Cent.“ (Am Landauer Hauptbahnhof erfreut den Reisenden ein kleines Täfelchen: „Vorsicht Zugverkehr.“ Überraschung. In Koblenz warnt ein Schild: „Ende des Bahnsteigs. Bitte nicht weitergehen!“ Koblenzer benötigen das.) Den Saarländern sollte man generell nicht ohne Vorbehalt begegnen, schließlich waren sie es, die sich 1956 unbedingt den Deutschen anschließen wollten, freiwillig weg vom Franzos’, da ist Argwohn angebracht. Gerne steigt man in diesem Bundesland auch gruppenweise zu, und circa zwei Minuten nach Abfahrt geht auch schon einer mit der Schnapsflasche und einem kleinen Gläschen rum, das er jedem vollschenkt, und alle trinken aus dem gleichen Gefäß, knapp zwanzig Jahre Sozialdemokratie gehen nicht spurlos vorüber, aber streng genommen ist das die Nichtraucherversion der Haschpfeife. Der Tipp des Tages: Grundsätzlich meide man die Gesellschaft von Personen, die große Kühltaschen in den Waggon wuchten. Einheitliche T- oder Sweatshirts signalisieren ebenfalls Gefahr.

Mit dem Passieren einer Kapelle (im Fenster oben links) wird das Saartal dramatisch – bzw. wurde es früher. Damalsjadamals, da war das unverfälschte Landschaft, geradezu mystisch, nur die Saar und die Gleise, aber keine Asphaltpiste. Heute wird die Saar als Bundeswasserstraße verwaltet. Sattes Grün, der moosfarbene Fluss, Trost spendende, wohlgeordnete Wildnis. Der Ausbau ab 1974 hat alles zuschanden gemacht, wie wenn man eine Märklinanlage mit der Flex bearbeitet und dann geflutet hätte. Im rheinland-pfälzischen Teil darf man schon froh sein, dass man den Fluss nicht kurzerhand überdacht hat wie in Idar-Oberstein. Beeindruckend das Sandsteinwerk südlich von Taben, Regen hat die Erde zu feuerrotem Schlamm zermanscht, von hier bezieht Dante höchstwahrscheinlich die Grundsubstanz für sein Inferno und die Lauterer die Farbe für die Trikots.

Serrig. Das ausladende trierische Einhaus macht sich als Gebäudetyp breit. Bei der fümmenden Luxemburgerin kommt Unruhe auf, Freude bei mir. Auf der Gegenstrecke der Interregio. Schreckliches Ding, dieser Zug stand mir nie, den pastellfarbenen Interregiowaggons mangelte es erheblich an Würde. Stadt-Express ist Klein-Klein, wie man früher im Fußball sagte, man fährt geradewegs durch die kalte Küche. Kein uninteressanter Name übrigens: Express scheint übertrieben, außer man orientiert sich an den Paketlaufzeiten der Deutschen Post. Auch das Städteaufkommen ist übersichtlich. Trotz des üppigen Frühlingsgeblühs ist das Wetter draußen schwer einzuschätzen. Manche kommen im T-Shirt daher, manche in Sweats, auch Mäntel werden gesichtet und Windjacken. Drinnen sieht man gelegentlich Menschen schwitzen, mitunter ziehen sie eine Duftspur hinter sich her, um es mal freundlich auszudrücken. In Nordkalifornien verkehrt zwischen Fort Bragg und Willits der sog. Skunk-Train, alles eine Frage der Vermarktung. Im ICE wird das nicht geduldet, da hat es hygienisch zuzugehen, angestrebt wird der abwaschbare Passagier, der seine Schuhe anbehält. Je weiter wir nach Norden fahren, desto südlicher wird die Landschaft, Triers Werbekonzept vom „südlichsten Norden“ fällt mir ein, wenn es nicht sogar der „nördlichste Süden“ war – ja, wohl doch eher letzteres. So lieblich wie die früheren Tropfen, die aus den Trauben gewonnen werden. Hier zählen keine Ortsnamen, sondern Weinlagen.

In schwindelerregender Höhe, ganz oben am Berg, baggert ein Bagger an neuen Hanglagen herum. Dann das Kontrastprogramm: Konz. Nullstadt. Straßendorf. Ein gelbes Warndreieck mit roter Lok, vor der eine Person in Fallbewegung abgebildet ist. Was soll das sein? Warnung vor Selbstmördern? Oder wird lediglich die optimale Absprungposition für selbige markiert? Wäre bei diesem Kaff nicht unpassend. Bei Konz kommt tatsächlich der Schaffner vorbei, Typ dicklicher Onkel. Bisher habe ich ihn nur von hinten gesehen und trotzdem unter Schnurrbartverdacht gestellt. Er gleicht Gerhard Klarner von den Spätnachrichten im ZDF der 70er und 80er Jahre aufs Haar, dem ich auf diesem Weg ein verspätetes Denkmal setzen möchte. Klaglos hat er über Jahre hinweg den eher freudlosen Mitternachtsdienst versehen und dabei nie den Eindruck erweckt, als hätte er ein Problem damit, im Gegenteil. Allerdings war ich auch zu keinem Zeitpunkt davon überzeugt, er würde seine Meldungen im Zustand vollständiger Nüchternheit verlesen. Zugestiegen? Ich? Tschuldigung, wie unser Exkanzler sagen würde, ich sitze hier seit 44 Haltestellen! Nix da! Ich lächele souverän. Morgen werde ich die Karte zurückgeben. In Trier, droht der Schaffner dafür wenig später über die Hausanlage, könnte ich noch den Interregio nach Bremerhaven-Lehe erreichen. Lehe? Wehe! Die Saar hat sich soeben in die Mosel verfügt und selbige entsprechend verbreitert. Wir passieren das Uranus Gastronomieschiff mit der Bullaugentaverne. Um Himmels Willen, Riverboatshuffle und Partykeller in einem.

1980 bin ich von Trier weggezogen, weil es für einen Dauerreisenden einfach zu weit vom Schuss liegt. Trotzdem kommen bei jedem Besuch Heimatgefühle auf, selbst wenn in der Stadt kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Nur das römische Zeugs haben sie unbehelligt gelassen, allerdings nicht immer. Sie haben einfach zuviel davon. Es gibt, wenn auch spärlich, immer noch alte Bande, die Trierer sind treu, wenn sie sich einmal dazu entschlossen haben, einen zu mögen. Viele sind natürlich weggezogen, aufgestiegen, heruntergekommen, verschollen oder haben ihre leibliche Hülle verlassen.

Der Stadt-Express war ein banaler Zug. Der vollständigen Abwesenheit von Glorie, Glitz und Glamour wohnt allerdings häufig etwas Erfrischendes inne, jedenfalls wenn sie einen nicht unerwartet heimsucht. Meine persönliche Beziehung hat sich verändert, ich kenne jetzt eine Menge kleiner Geheimnisse am Rande. Frühlingshalber präsentiert sich die Strecke als eine langgezogene Kleingartenanlage – genau genommen zieht sich das über alle 45 Stationen hinweg, ob Baden-Württemberg, Saarland oder Rheinland-Pfalz, Schrebergärtner steigen ein und aus und Söhne und Töchter von Schrebergärtnern, die diese unvergleichliche Mischung aus Saumseligkeit und Hemdsärmeligkeit schaffen, die auch der Stadt-Express Nr. SE 23034 atmet, der jetzt mit nur acht Minuten Verspätung in Trier einläuft. Acht Minuten waren damals eine Menge, heute ist das kaum der Rede wert.

Bahnfahring

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