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Rigibahn und Schüttelbecher

Akkurat blau-weiß lackierte Triebwagen. Der Zugführer trägt einen weiß-blau gestreiften Kittel, mit dem auch ein Metzger nicht auffallen würde. Das Wetter ist schwer einzuschätzen, zumal es sich in den Bergen alle zehn Minuten ändert. Wir setzen uns in Bewegung. Mit mir eine helvetische Reisegruppe, dem Dresscode nach Pädagogen. Vor einiger Zeit durfte ich vor vierhundert Vertretern dieser Gattung im Kanton St. Gallen auftreten, die auf einer Tagung über Kultur und Erziehungsauftrag diskutierten. Mein Vorredner war Jean Grädel vom Theater an der Gessnerallee in Zürich, der u.a. erzählte, wie sie früher in Theaterkreisen darüber gelästert hätten, dass man Lehrer stets an ihrer Kleidung erkennen könne. Bei uns Künstlern, erlaubte ich mir im Anschluss auszuführen, verhielte sich das natürlich komplett anders. Egal was, Hauptsache es bewegt sich zwischen hellschwarz und dunkelschwarz. Meine Reisegefährten müssen aber tatsächlich Lehrer sein, sie haben sich in die hintere linke Ecke des Raumes verkrochen – wie Schüler.

Dazu gesellen sich ein paar versprengte Einheimische, die sich zu ihren Arbeitsplätzen in Gastronomie oder Landwirtschaft expedieren lassen. Man kennt sich, aber in der Schweiz kennt man sich generell. Begegnen sich Eidgenossen im Ausland, haben sie mit affenartiger Geschwindigkeit gemeinsame Bekannte ausgemacht, die helvetische Version des Beschnupperns. Auf der Rigibahn haben wir es mit wettergegerbten Hinterwäldlern zu tun, aber was heißt das schon, Hinterwäldler habe ich überall getroffen, sie kommen rum in der Welt, nicht wenige von ihnen leben in New York, Berlin oder San José. Sowieso: Ist das Leben als Vorderwäldler einen Deut besser? Interessanter? Hier und jetzt jedenfalls bin ich der einzige „Usländr“, ein „fremder Fötzel“.

Spektakuläre Wasserfälle, von bald venezolanischer Grandeur, vor allem der vorm Pfederntunnel ist geradezu beängstigend, insofern hat der Dauerregen der letzten Tage sein Gutes gehabt. Vor die atemraubendsten Ausblicke aber haben vorausdenkende Köpfe den Mischwald gepflanzt, damit die Menschen nicht abheben oder Herzinfarkte bekommen vor lauter Glückseligkeit. Auch die Baustellen entlang der Piste dienen lediglich dazu, die Stimmung nicht allzu saumselig geraten zu lassen. Denn, wohin das Auge schaut, verstellt die Endung -li den Blick. Gerade ist es die Firma Käppeli, die draußen mannhaft ihr Entromantisierungsprogramm durchzieht. Sie bietet zur Fahrgastbelustigung einen Bagger auf, der sein Standbein einfach nach hinten klappen kann. Gute Performance. Am Fruttli auf 1.150 Metern steigt die Schaffnerin auf den Gegenzug um, der einen Güterwagen mit ca. 15 fein säuberlich aufgereihten Milchkannen hinter sich herzieht, m. E. ein bisschen arg dick aufgetragen. Das nächste -li kommt bei Klöster-. Dass überall Autos an den Haltepunkten stehen, nimmt der Reise etwas von ihrer Einzigartigkeit. Dieses Tripli ist eindeutig agrarischer und somit schweizerischer als vergleichsweise die Gornergratbefahrung. Das mag daran liegen, dass ich früh dran bin, es ist halb zehn, die Touristen müssen ja erst von sonst woher herbeigeschafft werden. Vielleicht bin ich einfach ein Alpenignorant, der nicht weiß, dass man Gipfeln nie vor 12 Uhr mittags seine Aufwartung macht. Jedenfalls hänge ich hoch droben tief drin in der Dunstzone, mit beschlagenen Scheiben als Dreingabe.

Angenommen, meine Nebeltheorie träfe zu, wieso bietet dann die Rigi Bahn Erlebnisreisen wie „Sonnenaufgangsfahrten mit Frühstücksbuffet“ an? (Goldau ab 04:30 h) Den Schriftzug „Rigi First 1.484 müM“ kann ich gerade noch erkennen, ebenso den Umkleideraum für Langläufer. Rigi First? Gibt es verschiedene von ihnen und wenn ja, wieso haben sie die auf Englisch durchnummeriert? Wie aus dem Nichts eine Holsteiner Kuh auf einer Steilweide, für diese Rasse hat man sich entschieden, weil man sie im Nebel halbwegs ausfindig machen kann. Die blinde Kuh bin heuer ich. Wäre ich ein verantwortlicher Tourismusmanager, würde ich dafür Sorge tragen, dass irgendwo ein riesiges Gebläse installiert wird, das Wolken und Nebel zum Buochsenhorn hinüber weht, das in einem anderen Kanton liegt. Um dann mit garantiert freier Aussicht werben. Schleierhaft, wieso noch niemand auf die Idee gekommen ist, die Schweizer sind doch sonst so findig.

Jetzt vereinigt sich die Trasse mit der, die von Vitznau herauf eilt. Zur besseren Unterscheidung tragen die Waggons ein knalliges Rot, eine nette Geste. Nun aber: Rigi-Kulm. Hat sich was mit Vierwaldstätter See, bei den Schweizern liegt die Betonung übrigens auf dem „stätter“. Ein Urschweizer Erlebnis wird das trotzdem nicht, das einhergehen könnte mit tiefgreifenden Erkenntnissen über die Befindlichkeit der nationalen Seele. Das Klima lädt einfach nicht zum Klippensitzen ein, nicht einmal zu weitschweifenden Gedanken. Es ist so kalt, dass ich mich mit dem Händetrockner in der Herrentoilette aufwärme. Draußen verhöhnt mich ein Gruyère-Werbeplakat: „Fondue gäbt e gueti Luune!“ Fondue, um zehn Uhr morgens, na lecker. Das ganze Tal ist ein verdammtes Fondue. Drum herum muss die Hölle los sein, ein unglaubliches Gebimmel, mittlerweile ist die Suppe dermaßen dicht, dass sie nicht einmal mehr von den schwarz-weiß gescheckten Holsteinern durchdrungen wird. Das Farbmuster habe ich in einem der wenigen lichten Momente erkennen können.

Längst fühle ich mich wie ein Charakter eines Thrillers von David Lindsay: „Er war der Mittelpunkt, ja mehr noch, er war die eigentliche Natur und Substanz des Nebels.“ Auf der Hotelterrasse soll es sogar Schaumelker geben, die ich schon gerne gesehen hätte bei der Verrichtung ihres Handwerks. Mit demselben Zugführer fahre ich wieder zu Tal, 20 Minuten später. Er hat ein kleines Radio dabei, hört Rap, was nicht so recht zu dem recht angegrauten Herrn passen mag. Was noch weniger zusammen passt: Berge und ich. Sollen sie doch das nächste Mal zu mir kommen, wenn sie was wollen. Vielleicht muss ich einfach der Wahrheit ins Auge sehen: Mir geht jegliches Talent zum Reisen ab. Mark Twain und Victor Hugo, die haben das recht passabel hingekriegt mit der verdammten Rigi-Bahn, und das ist schon ein paar Jährchen her. Twain schrieb: „Als ich noch ein Knabe war, pflegte ich die Treppengeländer hinunterzurutschen und ich fand, dass es recht lustig war. Treppengeländer mit einer Lokomotive hinunterzurutschen kann einem aber Schauer über den Rücken jagen.“ Ich würde in dieser Brühe garantiert nicht mal den Knauf am Ende des Geländers erkennen. Örtliche Tourismusveranstalter preisen in ihrer „Vorschau für Romantiker“: »Auf den Spuren von Mark Twain.« Als Romantiker ist mir der Herr nicht in Erinnerung. Victor Hugo hat die Weltöffentlichkeit davon in Kenntnis gesetzt, er habe einsam auf dem Rigi-Gipfel „une jolie petite fleur“ für seine Didine gepflückt. Derlei Glücksmomente sind mir nicht vergönnt, dazu fehlen Zeit, Mittel und eine Didine. Tierfilmer brauchen halbe Ewigkeiten, um jenen Moment zu erwischen, da der Luchs im Jura das Zicklein reißt und der Bauer den Luchs, sie verfügen über genau die Engelsgeduld, die mir abgeht.

Mark Twain benötigte allein, d. h. mit seinem Reisemarschall, schon mehrere Tage für den Aufstieg und den berühmten Sonnenaufgang hatte er nicht weniger als zweimal verschlafen. Nebel bekam er gratis dazu, als Spezialität des Hauses sozusagen. Wir werden ja lediglich mit dem Endergebnis der Bemühungen konfrontiert. Die Berge und ich, wir schmieden keine Pläne für die Zukunft, so viel steht schon mal fest, da bin ich rigide. Das Berglerische hat in der Eidgenossenschaft ohnehin etwas Obsessives: Mit der Toblerone fängt es an, jedes Stück eine kleine Spitze. Hörnchen oder auch Croissants müssen sich Gipfeli nennen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Nicht zufällig hat sich der Schweizer stets in der Raumfahrt engagiert, auch an den aktuellen Mars-Projekten der NASA ist er maßgeblich beteiligt. Extraterrestrische Aktivitäten sind allemal tröstlicher als die übliche irdische Pein. Dass der erste Weltumrunder im Ballon ein Schweizer war, gehorcht einer gewissen Logik: Wo der horizontalen Ausbreitung rasch Grenzen gesetzt sind, weicht man in die Vertikale aus. Laut Statistik existieren in der Schweiz 160.000 Fahrstühle, im vergleichsweise erheblich größeren Deutschland „nur“ 575.000. Der Slogan einer Bergbahn verheißt: „Willkommen bei den oberen Dreitausend.“ Meine Initiative zur Erhaltung der Bergwelt wird in Zukunft darin bestehen, dass ich sie ab sofort in Ruhe lasse. Am Kiosk in Arth-Goldau bekomme ich später entgangene Panoramen in den schillerndsten Farben als Druckwerk serviert, in diesem Fall in der neuesten Ausgabe des Magazins Berge. Darin wird ein gewisser Friedrich Wilhelm Ritter von Hackländer zitiert, der 1852 behauptet hat: „Man muss auf dem Rigi gewesen sein, um in Gesellschaft von Reisen sprechen zu dürfen.“ Ja was! Und wenn mich dieser Berg eines gelehrt hat, dann, dass es die Rigi heißt, Herr! Ritter! von! Das Tram, Der Risotto. Das Heidi. Das Bikini.

Auf der Talfahrt kommt augenblicklich die Sonne raus, als hätte sie nur hinter dem Felsen gelauert, ja, fürwahr, sie lacht, wie man so schön sagt, und zwar: mich aus. Rigi gaga. Regina montium – Königin der Berge? Ich bin kein Royalist. Vielleicht liegt darin das Problem. Das Bahnhofsbuffet von Arth-Goldau entschädigt für vieles, ein wenig Art-Déco klingt an. Ich steige in den Zug nach Zürich, auf dem Nachbargleis setzt sich der nach Luzern in Bewegung, eine Zeitlang zotteln wir nebeneinander her, dann biegt der Luzerner zur Westseite des Sees ab, der Zürcher bleibt auf der Ostseite, sie liefern sich ein Wettrennen über einige Kilometer Luftlinie hinweg, bis der Luzerner plötzlich von einem Hügel verschluckt wird. Die Bergspitzen im Hintergrund sind nun deutlich zu erkennen. Rigi, kiss my ass, und was die Toblerone angeht: Die gehört längst Philip Morris.

Gornergrat: Nebel, Rigi: Nebel. Da ich nun schon in der Innerschweiz bin, sollte ich vielleicht eine unverfänglichere Route probieren. Vielleicht ist Engelberg ein blicksicheres Ziel. Dabei hilft mir das Tagesbillett der SBB. Es soll Rentner geben, die ihre Tageskarte bis zum Anschlag herunterfahren und deshalb morgens um fünf gestiefelt und gespornt am Zürcher Hauptbahnhof in den Zug hüpfen, ein paar Stunden kreuz und quer durchs Land streifen, dort einkehren, wo es das aktuell schweizweit billigste Tagesessen gibt, das sie mit detektivischer Akribie im Internet aufgespürt haben. (Gibt es wahrscheinlich längst als App: Meat XXL.) Sie verschmähen weder Busse noch Schiffe und kehren gegen Mitternacht ermattet wieder in die Agglo Zürich zurück. Von der Hand zu weisen ist diese Theorie nicht, die Züge am Montagmorgen sind hoffnungslos überfüllt und das Durchschnittsalter biblisch. Die Massen produzieren natürlich Verspätungen, überall ist es zunächst voll, ich bin einer von zwei Millionen Passagieren im Jahr. Aber zum Glück möchte heute außer einem Khaki-Pensionär niemand die ganze Strecke bis zum bitteren Ende fahren. Der Mann hat allerdings gerade zu seinem geschätzt 105. Geburtstag ein Natel bekommen und lässt es eine halbe Stunde lang fröhlich fiepen, bis ihn ein giftiger Blick meinerseits zum Schweigen bringt. Vorerst. Handy sollte man die Quälgeister in der Schweiz nicht nennen, so heißt bereits ein Spülmittel.

Im Kanton Obwalden wurde vor 30 Jahren – Ohren gespitzt – der erste Luchs in der Schweiz wieder angesiedelt, teilt der aktuelle Tagi mit. Und: „Ein 27-jähriger Obwaldner hat in Neapel einen Trickbetrüger aus Rache niedergestochen und schwer verletzt. Der Händler hatte dem Schweizer Touristen eine Natel-Attrappe angedreht.“ Bin ich unter die Wilden geraten? Ist das Handy meines nervtötenden Mitreisenden womöglich eine Fälschung? Die raubtierfreundlichsten Schweizer, hat jüngst eine Umfrage ergeben, sind die italienischsprachigen: Mit Zweidrittel-Mehrheiten heißen sie Luchs, Wolf und Bär willkommen, was daran liegt, dass sie aus italienischen Quellen mehr erfahren über das Verhalten von Wolf und Bär, die in Italien schon länger wieder heimisch sind. Ähnlich wie beim Luchs in der Schweiz, schreibt meine übliche Quelle, hat sich beim Italiener auch bei anderen Raubtieren ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt. Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, wer dabei an wen gewöhnt werden muss.

In Odermatt wird der Zug getrennt und in zwei Schüben mit Zahnrädern bergauf geschickt: Einklinken in die Zahnstange und los. Steiler steigt eine Boeing beim Start auch nicht. Die internationalen Nummernschilder auf der benachbarten Straße lassen Schlimmes befürchten. Ebenso wenig ermutigend, dass an den Stationen die Höhenmeter in „feet“ angegeben werden. Das Schild „Welcome to Mt. Titlis“ dürfte alle englischsprachigen Besucher erfreuen, mehr noch: Anlocken. Ein richtiger Luftkurort ist Engelberg, mit einem kleinen Park, dessen Sitzbänke allerdings Rätsel aufgeben: Wieso müssen diese in einer sichtlich wohlhabenden Gemarkung von privaten Gönnern gesponsert werden? Nebenbei nicht meine einzige Frage: Ob es denn in Engelberg eine jüdische Hochschule gäbe, begehre ich wenig später von der österreichischen Bedienung zu wissen, weil ich reichlich Sommerfrischler mit Yamulken und Schäfchenlocken auf den Gassen sehe. Näin, sagt sie, aber im Sommer kämen immer viele jüdische Urlauber. Im Winter weniger, eher im Sommer. Aha.

Ich sitze in einem Straßencafé, über dessen Eingang großspurig „Ihr Treff in Engelberg“ prangt, dabei trifft sich hier gerade keiner mit niemandem. Das Café ist integriert in einen umfassend scheußlichen Hotelneubau der 80er-Jahre mit wannenförmigen Balkonen, vermutlich von einem cracksüchtigen Architekten aus dem Vorstadtfrankreich entworfen. Ich habe mich mit dem Rücken dazu gesetzt, spendiert diese städtebauliche Ungeheuerlichkeit doch dreierlei: 1. Schatten, 2. Schatten und 3. natürlich Schatten. Meine sonnenverbrannte Haut besteht darauf. Der ebenerdige Hochsitz erlaubt ausgiebige Blicke auf das Treiben in den Gassen, auf den greisen Bergführer beispielsweise, der einer wild gestikulierenden Gruppe von Amerikanern voranschreitet. Einer von ihnen fuchtelt vage in Richtung Berge: „Is that where we’re going?“, der Führer schüttelt den Kopf: „Not so high up!“ Damit keine Zweifel aufkommen, flattern Dollarnoten aus seinem Hutband wie bei den Stripperinnen in West Hollywood aus den Slips. Und so schieben sie los, um sich endlich einen Pennälerwunsch zu erfüllen und den Mt. Titlis zu besteigen. Allmählich beginne ich zu begreifen, warum Luchse so scheu sind. Der Pfiff der Lok vom Bahnhof her tönt wie ein empörtes Murmeltier, aber ich gebe noch eine Stunde zu, will ich doch dem genius loci auf die Spur kommen und herausfinden, warum ausgerechnet hier Stephan Eicher so elysische Alben aufnehmen konnte. Vielleicht ist der Sommer dafür weniger geeignet, seine Musik klingt vielmehr kühltemperiert spätoktobrig, off season on 3.300 ft.

Ich denke angestrengt nach, als mich folgendes Plakat ablenkt: „Vollmond, Zeit der Gefühle. Dann nichts wie los zum Bürgenstock. Tauchen Sie mit dem bekannten Astrologen Andreas Borbas in die Welt der Gestirne ein. Lassen Sie sich über die Bedeutung des Vollmondes – die schamanische Reise zum Mond – die Meditation – den Urschrei – die magischen Momente informieren und machen Sie aktiv mit.“ Ob man da auch inaktiv mitmachen kann, and who the fuck is Andreas Borbas? „Gesucht wird die Mondgöttin vom Bürgenstock. Preis: Abendprogramm incl. Fahrt mit dem Hämmetschwand-Lift CHF 49.00“ Is that where we’re going? Not so high up! Warum nur Bürgenstock und nicht gleich Mt. Titlis? Nicht zu fassen, der erste aktenkundig gewordene Fall einer esoterischen Misswahl. Dabei wird an Audrey Hepburn, die hier eine Art zweiten Wohnsitz hatte, auch die schönste Mondgöttin nicht herankommen. Gleich neben dem Mondplakat ein weiteres, weniger aufwändiges: „Klassä-Traffä. Ich wett Dich wider äynisch g’seh! Klassentreffen 1900 – 1980.“ Hier in Engelberg sind also noch andere, generationenübergreifende Dinge machbar, nicht nur profane Platteneinspielungen. Anscheinend bevorzugen es die Götter noch immer, in den Bergen zu residieren. Der Name Engelberg ist nicht unpassend. Das Hotel Hess, in dem Herr Eicher so wunderbar musizierte, wurde nebenbei am 31. März 2001 abgerissen. Da kann ich lange angestrengt nachdenken.

Ohnehin Zeit, ein paar Meta-Ebenen runterzukommen. Zum optimalen Absturz jeder Stimmungslage könnte Josef Mengele beitragen, der in Engelberg noch 1956 seinen Urlaub verbrachte, völlig unbehelligt. Wobei die Frage gestattet sei: Wovon hat der zu jenem Zeitpunkt eigentlich Urlaub gemacht? Bei der Abfahrt hält es mich kaum auf den Sitzen, aber nicht aus schierer Begeisterung. Sinkflug nach Nidwalden, Erdanziehungskraft einmal anders. Mein Laptop hat es noch eiliger als ich, wieder auf den Boden zu kommen und strebt auf der Gepäckablage in einsamer Fahrt talwärts. Früher hat man diesen Zug „Schüttelbecher“ genannt. Barmixer aus der Region Vierwaldstättersee konnten hier ihre Abschlussprüfung ablegen. Ich schaue mich im Abteil um, wer für den Posten der Mondgöttin in Frage käme und werde nicht so recht fündig.

Die Dame auf dem Sitzplatz gegenüber lauscht einer dieser Entspannungskassetten, den Lautstärkeregler bis zum Anschlag hochgefahren. Der Kopfhörer ist halb verrutscht, so dass das Gequäke deutlich zu verstehen ist. Worte wie „Ruhe“ und „Tiefe“ und „Mitte“ übertönen sogar Fahrgeräusche und machen mich zunehmend hibbelig, zumal es zwischendrin völlig unmotiviert zimbelt. Selbst die Verursacherin blickt zusehends unentspannter drein. Zeit, sich den existenziellen Fragen des Universums zu widmen: Was machen wohl die ganzen Skilehrer jetzt im Sommer? So viele Badeanstalten und Seen kann es im ganzen Land nicht geben, als dass sie da ihr Auskommen als Bademeister finden könnten.

Von den Bergen herab beobachten Luchse in den Wäldern ratlos das Treiben im Tal. Tags darauf schreibt der Tagesanzeiger: „Während eines Jahres versuchte die kantonale Jagdverwaltung Zürich in Zusammenarbeit mit Jägern, am Albis einen Luchs zu fangen. Erfolg hatten sie nicht, nur ein Fuchs landete in der Falle.“ Lesen konnte der wohl nicht, ohnehin muss die Analphabetenrate unter der einheimischen Tierwelt katastrophal sein, was sich fatal auf die Aussterbequote auswirkt. Vielleicht sollten sie ausgestopfte Luchse aussetzen, denen kann nichts passieren. Um die einsamen Bergdörfer in den Seitentälern des Engadins gänzlich vor dem Aussterben zu bewahren, werden dort seit einigen Jahren wieder Menschen angesiedelt, mit großem Erfolg. Man hat ihnen Sender umgehängt, um wissenschaftliche Erkenntnisse über ihre Aktivitäten zu gewinnen.

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