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KAPITEL 4 Das Glück braucht mehrere Anläufe: meine Zeit als Zivi und Callcenteragent

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Allen Ernstes hatte ich das Abitur gemacht und geschafft, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte mit mir anfangen sollen. Zeugnis in der Tasche – und zack, gleich am Montag darauf mit dem Zivildienst begonnen. Meine Freunde und ehemaligen Klassenkameraden haben es sich derweilen in Lloret de Mar gut gehen lassen. Werdet mal erwachsen! (Das sagt der Richtige, haha.) Ich aber wollte den Zivildienst schnellstmöglich hinter mich bringen. Und außerdem hatte ich die Stelle schon, also los! Die Zivizeit war wichtig für mich. Ich war in einem Krankenhaus für Geriatrie – also Altersheilkunde – und habe unter anderem Menschen gepflegt, die Schlaganfälle hatten. Ehrlich, da bekommst du zum Leben noch mal einen ganz anderen Zugang und wirst demütig.

Alte Menschen mit Beinbrüchen oder auch schlimmeren Verletzungen wurden nach dem eigentlichen Krankenhausaufenthalt für sechs Wochen bei uns einquartiert und therapiert. Für die meisten ging es danach direkt ins Altersheim, manche konnten wir auch wieder nach Hause schicken. Für ältere Leute ist das Thema Altersheim natürlich meist schwierig, keiner will da wirklich hin. Ich habe in den neun Monaten meiner Zivizeit versucht, positiv auf die Patienten einzuwirken und ihnen zu helfen, wo ich konnte. Vor allem mental. Ich habe mich zu ihnen gesetzt und versucht, einfach mal ’ne Runde zu quatschen. Ich konnte mir das rausnehmen, weil ich als Zivi eine Sonderposition hatte. Und diese wunderbaren Menschen mit ihren großartigen Geschichten haben es mir jedes Mal mit einem Lächeln gedankt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich kann mich noch genau an einen älteren Herrn erinnern, der einen Luftröhrenschnitt hatte und nicht sprechen konnte. Ich sollte ihn zu einer Untersuchung in ein nahe gelegenes Krankenhaus begleiten. Das Ganze dauerte etwas länger, und wir saßen eine kurze Zeit lang voreinander und schwiegen uns an. Ich muss sagen, er guckte sehr grimmig und war nicht gerade bester Laune. Also war es an mir, uns die Zeit zu versüßen. Ich fing also einfach an zu reden. Ich erzählte über ganz alltägliche Dinge. Dinge, die mich beschäftigten. Ob es ihn interessierte oder nicht, er musste mir zuhören. Das Gespräch wurde irgendwann immer intimer, irgendwie war es wie eine Beichte. Er war wirklich ein guter Zuhörer. Nachdem wir zurück waren, verabschiedete ich mich, wünschte noch einen schönen Tag, aber ich wusste nicht, ob der Ausflug mit mir ihm gefallen hatte oder nicht, weil er noch immer ziemlich grummelig wirkte. Ein paar Tage später sollte er wieder zu einer Untersuchung begleitet werden und verlangte ausschließlich mich als Begleitung. Wir saßen uns im Krankenwagen gegenüber. Ich fragte nur: »Na? Alles klaro bei Ihnen?« Er guckte zu mir rüber, nickte und lächelte mich an. Und wieder begannen wir unser Gespräch.

Es ist logisch, dass man als Krankenschwester oder Arzt eine gewisse Schutzhülle um sich aufbaut, damit einen die vielen Schicksale nicht jeden Tag belasten oder traurig machen. Ich glaube, unsere Patienten haben es sehr genossen, dass ich als junger Kerl da rumgehüpft bin und gute Laune verbreitet habe (nicht an allen Tagen, ich bin ja auch keine Maschine!). Ich war der, der immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte. Aber ich war nicht nur der Clown, sondern habe die Patienten auch gewaschen und richtige Pflegeaufgaben übernommen. Am Schluss hätte ich fast einen Pfleger ersetzen können, denn auch Windeln wechseln war kein Problem für mich. Ich hätte es nicht machen müssen, aber ich wollte, und es hat mich auch geprägt.

Im Nachhinein bin ich noch immer ein Fan des Zivildiensts. Ich finde es gut, weil dadurch gerade bei Männern die soziale Ader geweckt werden kann. Und es schadet keinem, selbst zu erfahren, was Angestellte in Pflegeberufen leisten. Ich wollte bewusst alles mitmachen und mich auf diese Erfahrung ganz und gar einlassen. Und auch Mitgefühl zeigen. Für mich war das wirklich eine gute Zeit.

Gleichzeitig war für mich aber auch klar, dass ich das nicht ein Leben lang machen möchte. Ob man will oder nicht: Es macht etwas mit einem, wenn man den ganzen Tag mit Menschen zusammen ist, die sehr krank sind. Es ist schwierig, die Leute zu sehen, wie sie eingeliefert werden im Krankenhaus, und dann zu beobachten, wie sich der gesundheitliche Zustand nicht mehr zum Besseren verändert. Sie werden ins Alten- oder Pflegeheim entlassen, ihnen geht es aber gar nicht besser als vor der Einlieferung. Das ist hart. Vor allem Menschen zu sehen, die unter starker Demenz leiden, macht einen sehr betroffen. Da ich durch meinen Vater schon früh gelernt habe, mit einer solchen Erkrankung umzugehen, konnte ich relativ gelassen an die Sache rangehen. Will man sich in Demenzkranke hineinversetzen, muss man sich mal vorstellen, dass man an einem Ort aufwacht und nicht weiß, wo man ist. Man verzweifelt und hat Angst, weil alles um einen herum fremd ist. Aber auch Angehörige haben es dabei nicht leicht. Wenn sie zum Beispiel von ihrem Vater oder ihrer Mutter nicht erkannt werden. Ich habe Szenen gesehen, die mich sehr betroffen gemacht haben und die man leider nicht mehr vergisst. Aber ich selbst kann mich nur mit den Patienten hinsetzen und reden. Pah, dann redete ich halt ’ne halbe Stunde nur über drei Themen, die sich immer wieder in einer Schleife wiederholten. Ich hatte schließlich Zeit …

Als ich erst einen Monat im Zivildienst war, hatte ich ein Casting und habe die Rolle bekommen. (Das Glück zieht sich aber auch wirklich durch mein Leben wie ein roter Faden. Tze, tze, tze, haha.) Ich also hin zur Oberschwester Erika. Ja, ich würde gern elf Tage freihaben für einen Filmdreh. »Wie stellen Sie sich das vor, Sie machen hier Zivildienst!« Es gab richtig Reibereien, meine Agentin musste bei der Schwester anrufen und sie bearbeiten. Die beiden haben das zum Glück irgendwie ohne mich geklärt, und ich durfte dann doch zum Dreh. Dummerweise hatte ich zeitgleich einen Zivildienstlehrgang in Braunschweig, an dem ich trotzdem teilnehmen sollte. Am Montag bin ich da gleich morgens angekommen, habe den Lehrgang brav mitgemacht. Und abends dann mit den Jungs vorm wunderbaren Kühlautomaten im Schulungsgebäude gesessen, wo es Hasseröder Bier für einen Euro gab. Wir uns also schön einen reingezischt. Am nächsten Tag bekam ich einen Anruf: »Du musst nach Göttingen kommen. Jetzt. Heute ist Nachtdreh!« Ich: »Äh, wie bitte, ich bin doch jetzt auf dem Lehrgang, Freunde!« Ich mich nach dem Unterricht also um sechzehn Uhr in den Zug gesetzt und bin in einer Stunde nach Göttingen gedüst, hab die Nacht durch gedreht bis morgens um fünf, dann wieder zum Lehrgang nach Braunschweig zurück. Man kann sich vorstellen, wie klein meine Augen waren. So ging es ein paarmal hin und her, am Ende wurde ich doch ganz freigestellt, weil es so einfach nicht funktionierte. Wieder Glück gehabt! Klar fanden das ein paar meiner Lehrgangskollegen nicht so toll, dass ich hier eine Extrawurst bekam. Aber meine Stationsschwestern waren sehr freundlich zu mir. Die Leute sind nur das Spiegelbild von einem selbst. Das habe ich aus der Zeit mitgenommen. Nenn es, wie du willst, »Karma« oder »wie man in den Wald hineinschreit« oder wie auch immer: Was du gibst, bekommst du. Also sei doch einfach genau so, wie du dich selbst haben willst.

Von meinem besten Freund (aus der ersten Klasse!) ist damals die 91-jährige Großmutter eingeliefert worden. Eine wundervolle Frau! Sie war nicht auf meiner Etage, trotzdem habe ich gefragt, ob ich mit ihr mal ins Altersheim fahren darf. Sie sollte nach dem Aufenthalt bei uns dorthin verlegt werden. Die alte, kleine und gebrechliche Frau habe ich dann mit ihrer Sauerstoffflasche in den Rollstuhl gesetzt und bin mit ihr zusammen ins Altersheim gegangen. Um ihr zu zeigen, dass es da wirklich nicht schlecht ist und sie sich vielleicht sogar ein bisschen darauf freuen kann. Diese Frau kannte ich schon so unglaublich lange, fast mein ganzes Leben! Sie hat meinen besten Freund oft mit dem Fahrrad von der Schule abgeholt, war immer agil, immer gut drauf. Da sitzt sie nun im Rollstuhl. Ich kann es kaum in Worte fassen, was es mit mir gemacht hat, sie so zu sehen. Man merkt, dass wir nur Teil eines großen Ganzen sind, nur Gäste auf dieser Erde, und dass alles vergänglich ist. Aber wenn ich mich zu ihr setzte und diese liebenswürdige Dame sagte: »Na, Thomas, dit is doch schön, dich zu sehen«, dann war für kurze Zeit wieder alles in Ordnung. Später am Nachmittag, als wir schon wieder zurück waren, kam ihr Sohn mit seiner Frau, und sie erzählte, wie schön der Tag für sie gewesen sei. Und das war er auch für mich.

Am nächsten Tag ist sie eingeschlafen. Ich musste mir den Tag freinehmen. Es zerriss mir das Herz. Es kommen mir noch heute die Tränen, wenn ich daran denke. Für mich war es selbstverständlich, wie ein Familienmitglied in den Raum zu gehen, in dem man sich von ihr verabschieden konnte. Ich musste ihr unbedingt Tschüss sagen! Ihr Enkel war mir so unglaublich dankbar, dass ich für seine Oma da war und ihr einen letzten schönen Tag bereitet hatte. Heute ist er noch immer mein Freund, er ist Ingenieur geworden. Es gibt so unglaublich viele Geschichten, die wir zusammen erlebt haben, und bis heute kramen wir die jedes Mal, wenn wir uns sehen, alle wieder hervor. Die von seiner Großmutter ist wohl eine der wichtigsten, denn sie hat uns noch mal auf einer ganz anderen Ebene miteinander verbunden.

Na klar wird man auch demütig vor den Menschen, die diesen Job ihr Leben lang machen. Seit dem Zivildienst weiß ich: Jeder ist ein Blatt des großen Baumes namens Leben. Wir sind alle ein großes Team. Kein Blatt ist grüner als das andere. Wir gehören alle zusammen, und keiner ist besser oder schlechter – und jeder macht seinen Job. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen, das ist ganz wichtig. Jeder macht seinen Job.

Aber es gibt noch etwas anderes, was ich mit meiner Zivizeit im Krankenhaus verbinde: Ich wurde in dem Dreivierteljahr ganz schön dick! Und das kam so: Morgens um sieben begann meine Schicht. Um halb neun gab’s Frühstück. Da durfte ich so viel essen, wie ich wollte – es hat mich nichts gekostet. Na klar, da isst du zwei Brötchen plus einen Joghurt plus zwei Eier. Ich habe es mir schmecken lassen, jeden Morgen, neun Monate lang. Das war’s aber nicht für den Tag! Es gab schließlich noch die Mittagspause, in der ich warm gegessen habe – plus Nachtisch, versteht sich. Gegen siebzehn Uhr kam ich nach Hause, war fertig vom Tag. Tja, und dann kochte Mutti schon wieder warm und deftig. Mein Fehler war, dass ich in dieser Zeit den Sport habe schleifen lassen. Und meine Ernährung natürlich nicht an den niedrigeren Energiebedarf angepasst habe. Eher im Gegenteil, ich habe mehr gegessen als je zuvor. Es ging also ordentlich bergauf mit meinem Gewicht. Whoop, whoop.

Man könnte jetzt natürlich sagen: »Erzähl nichts, Tommy, du warst doch schon die ganze Zeit dick!« Doch das stimmt nicht so ganz. Als Kind, ja. So kam ich ja auch an meine erste Schauspielrolle. Aber als Teenager war das anders. Meine Kumpels haben sich nachmittags immer zum Gewichtheben verabredet, da bin ich mitgegangen. Und Karate habe ich noch zusätzlich gemacht. Ich war also fünf Tage die Woche beim Sport. Mit 13, 14 Jahren war ich dadurch ein bisschen schlanker und sogar echt sportlich. Mit 18 Jahren hatte ich dann schon wieder leichtes Übergewicht. Na ja, und nach dem Abi ist dann jeder meiner Freunde seiner Wege gegangen – Sport gehörte für mich nicht mehr dazu. Weil es nicht mehr diese Selbstverständlichkeit hatte, sich sowieso jeden Nachmittag in der Muckibude zu treffen. Ohne meine Jungs konnte ich mich einfach nicht aufraffen. Der Sport hat mir zwar Spaß gemacht, aber ich habe das damals nie um des Sports willen gemacht, sondern um etwas mit meinen Kumpels zu unternehmen. Als dann der Zivi kam, der natürlich auch mental anstrengend war, verlor ich die Kontrolle. Viel Essen, kein Sport – ganz schlechte Kombi.

Nach dem Zivi stand ich dann da und dachte zum ersten Mal darüber nach, was jetzt mit mir werden sollte. Während der ganzen Zeit war ich keinen Meter auf die Idee gekommen, mich damit zu beschäftigen. Irgendwie ergibt sich ja immer was im Leben, dachte ich. Diesmal war es aber nicht so. Die Rollenangebote blieben aus. (Ich vermisse an dieser Stelle den roten Faden des Glücks.) Als ich noch Schüler war, lief es ja so, dass mir immer mal wieder ein Film angeboten wurde, zehn bis zwölf müssten es insgesamt gewesen sein. Es wäre natürlich der Knaller gewesen, wenn das jetzt einfach so weitergegangen wäre und es einen nahtlosen Übergang von Schüler zu Zivi zu hauptberuflichem Schauspieler gegeben hätte. Aber das Leben hatte einen anderen Plan, und im Nachhinein finde ich das alles auch großartig so und irgendwie schlüssig. Wenn man aber gerade drinsteckt im Schlamassel und noch nicht weiß, was kommen wird, kann man das natürlich nicht so sehen. Meine Agentin von der Schauspielagentur, bei der ich seit meinem zwölften Lebensjahr war, zuckte nur ratlos mit den Achseln, und ich fühlte mich ziemlich verloren. War ich zu sorglos an meine Zukunft herangegangen?

Wie auch immer, ich meldete mich arbeitslos. Tatsache! Ich hatte als Schauspieler und während des Zivildiensts eingezahlt und somit Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das war mein Glück. Denn jetzt hatte ich Zeit, mich mit mir und meiner Zukunft auseinanderzusetzen.

Wollte ich wirklich hauptberuflich Schauspieler sein? Bisher war ich ja – bis auf die nicht nur positive Erfahrung mit dem Coach bei meinem ersten Film – als Autodidakt an die Sache herangegangen. Ich hatte versucht, aus dem Gefühl heraus zu arbeiten. Als Kind war ich ans Set gegangen und hatte komplett aus dem Bauch heraus gespielt. Das war alles im wahrsten Sinne des Wortes ein großes Spiel für mich. Nach dem Motto: Text habe ich gelernt, wo ist die Kamera? Los geht’s! Und es war auch genau richtig so: Ich war dick und gab den süßen kleinen Jungen. Der Regisseur gab mir dann noch ein paar Hinweise: Spiel die Szene mal so oder etwas anders. Und ich habe geliefert. Später als Teenager war dann richtig Rollenarbeit angesagt. Ich hatte den Anspruch, ans Set zu kommen und mir meine Rolle schon erarbeitet zu haben. Also Textanalyse, Charakter formen, das ganze Programm. Das begann so mit 16 oder 17 Jahren. Ich wollte mehr, wollte besser werden und steckte darum auch mehr Energie rein. Der Regisseur musste dann nur noch Nuancen verändern. Auch damit bin ich gut gefahren. Aber eine richtige Schauspielausbildung hatte ich natürlich nicht.

Die Frage, die ich mir stellte, lautete: Würden die Rollenangebote langfristig reichen, um mich über Wasser zu halten? Direkter formuliert: Würde ich von der Schauspielerei leben können? Das wäre nämlich schon mein Traum gewesen. Das Blöde ist nur: Als Schauspieler bist du darauf angewiesen, dass dir einer eine Rolle gibt. Und wenn gerade kein molliger Tommy gebraucht wird, hast du nichts zu arbeiten. Hm. Genau aus diesem Grund haben viele Schauspieler noch Jobs neben der Dreherei vor der Kamera, mit denen sie ihren Alltag bestreiten. Sie arbeiten beispielsweise in Cafés. So können sie auch mal spontan eine Rolle annehmen, wenn ein Angebot reinkommt. Und ansonsten sind sie beschäftigt und haben ein Einkommen. Durchgehend als Schauspieler arbeiten können tatsächlich die wenigsten. Also nur die Stars der Branche. Und die, die bei einer Serie angestellt sind, aber dazu kommen wir erst später.

Ich wollte die Schauspielerei nicht aufgeben, also nutzte ich die Zeit, um mich bei staatlichen Schauspielschulen zu bewerben. Das wäre natürlich der Hammer gewesen, auf eine der renommierten Schulen zu kommen. Aber wie sich herausstellte, ist das gar nicht so leicht. Jedenfalls wollte ich ein richtiges Ausrufezeichen setzen und spielte Szenen aus Werner Schwabs Volksvernichtung und Goethes Faust vor, nicht gerade leichte Kost also. Die Leute haben mir schnell vom Faust abgeraten, weil ich nicht alt genug für die Rolle sei. Sorry, aber natürlich kann ich den Faust spielen – auch wenn ich noch nicht fünfzig bin! Aber gut, vielleicht haben sie es mir nicht abgenommen. Das muss man natürlich akzeptieren, auch wenn das eine bittere Pille ist. Um es kurz zu machen: Ich bekam nur Absagen. Keine der tollen Schulen wollte mich nehmen.

Ich hätte mich jetzt entmutigen lassen können. Und irgendeine Lehre anfangen, was Vernünftiges. Aber wenn irgend so eine Nase an der Schauspielschule meint, dass du es nicht bringst oder da nicht hinpasst, heißt das noch gar nichts. Du kannst alles sein, was du willst. Ich weiß, dass es verdammt schwer ist, sich von der Meinung anderer unabhängig zu machen. Aber wenn man das geschafft hat, ist man wirklich frei. Klar hat mich das runtergezogen, dass nach dem Abitur keine Rollenangebote mehr kamen. Klar fand ich es richtig uncool, dass man auf keiner der bekannten Schauspielschulen den roten Teppich für mich ausrollte. Aber deshalb gleich alles an den Nagel hängen? Kommt nicht infrage! Mein Ego wurde nicht wirklich angetastet, schließlich war ich de facto ja schon Schauspieler und hatte einiges vorzuweisen. Ich glaubte also weiterhin an mich. Obwohl ich arbeitslos und mit keinem wirklichen Plan bei Mutti zu Hause in der Platte wohnte. Meiner positiven Grundhaltung und der guten Laune konnte das nichts anhaben. Und unter uns gesagt: Natürlich habe ich auch gemerkt, dass sich an den Topschulen weitaus engagiertere Leute vorgestellt haben, die richtig viel auf dem Kasten hatten. Da dachte ich mir: Ja, okay, ihr seid genau dafür geschaffen, macht das mal! Drama und Theatralik habe ich genug zu Hause bei meiner Mitbewohnerin, die ich Mama nenne.

Dann wollte ich noch wissen, ob ich es auf eine private Schauspielschule geschafft hätte. Ich stellte mich also vor und zeigte, was ich kann. Die sagten: »Herr Drechsel, wir würden es gern probeweise für ein halbes Jahr mit Ihnen probieren. Wenn es gut läuft, bleiben Sie.« Da dachte ich mir: Ich zahle jetzt ein halbes Jahr lang fünfhundert Euro im Monat, um vielleicht dabeizubleiben?! Das ist doch ein dreckiges Geschäft, um die Klassen vollzubekommen! Darauf hatte ich keinen Bock und hab gleich abgesagt. Entweder man will einen dabeihaben oder eben nicht. Und selbst wenn ich mich auf den Deal eingelassen hätte, hätte da noch die Frage im Raum gestanden, wie ich die fünfhundert Euro im Monat fürs Schulgeld auftreiben sollte. Vielleicht war es so, wie es war, also genau richtig. Ich blieb meinen Prinzipien treu, sagte ab und glaubte weiterhin fest daran, dass es das Leben gut mit mir meinte. Und jetzt hole ich mir meinen roten Faden zurück – denn das tat es!

Nach etwa einem Dreivierteljahr Arbeitslosigkeit und Vorsprechen an diversen Schulen brachte mich eine Freundin darauf, dass ich eigentlich mal arbeiten gehen könnte. Ja, sehr gute Idee! Hätte ich ja auch mal selbst drauf kommen können. Was macht man also, wenn man keinen Schimmer hat, wo es für einen hingehen soll? Richtig, man heuert im Callcenter an! Ich mich mit Anfang zwanzig also schön acht Stunden am Tag ans Telefon gehockt und Zeitungsabonnements verkauft. Wahrscheinlich habe ich in all der Zeit mit halb Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern telefoniert. Kein Problem für mich, plappern konnte ich ja! Und Spaß gemacht hat mir das obendrein. Für mich war der Job perfekt, denn nebenher konnte ich noch an ein oder zwei Tagen in der Woche meine Vorsprechen an den Schauspielschulen angehen, denn so ganz abgehakt war die Sache mit der Schauspielausbildung damals noch nicht.

Die Arbeit im Callcenter war ein bisschen wie Klinkenputzen, nur eben am Telefon. Auf der anderen Seite – und deshalb hat es sich echt gut angefühlt – habe ich keinen Schrott verkauft. Das ging so: Wir haben die Nummern von den Leuten bekommen, die jüngst ein Probeabo von der Zeitung bezogen hatten. Die Idee war, die Leute dazu zu bekommen, weiterzumachen, also Jahresabonnements abzuschließen. Also so: »Herr Müller, wie sieht es aus, hätten Sie Lust, unsere Zeitung weiterzulesen?« Mir sind da natürlich auch ein paar Highlights passiert, die ich euch nicht vorenthalten will:

Mein Standard als Gesprächseinstieg war immer: »Guten Tag, mein Name ist Drechsel von der und der Zeitung, störe ich Sie gerade?«

Da sagt doch tatsächlich eine Kundin: »Nee, ich sitze in der Badewanne!«

»Wunderbar, dann lehnen Sie sich mal zurück, ich habe nämlich was für Sie. Lesen Sie doch für ein ganzes Jahr unsere Zeitung, ich lege Ihnen auch noch was oben drauf. Ich denke, Sie wollen weiterlesen, oder?«

»Ach ja, machen wir das.«

Ich konnte es kaum glauben, gerade mit einer badenden Dame zu telefonieren. Jetzt kam aber das Problem: Ich brauchte unbedingt auch die Kontoverbindung! Die Frau konnte ja schlecht schnell ihren Geldbeutel holen und mir die Nummern von ihrer EC-Karte ablesen. Da sagt sie doch tatsächlich: »Kein Problem, die habe ich im Kopf.« Ich habe die Dame im Stillen so abgefeiert! Innerhalb von zehn Minuten war das Ding in trockenen Tüchern, wir hatten ein prima Gespräch und ich danach beste Laune.

Dann gab es noch ein anderes Gespräch, das mir in Erinnerung geblieben ist. Der Herr an der anderen Leitung sagt: »Passen Sie auf, Herr Drechsel, es ist so: Ich bin blind.«

»Äh, warum haben Sie denn dann unsere Zeitung gelesen, wenn Sie doch gar nicht lesen können?«

»Ich habe sie mir von meinem Zivildienstleistenden vorlesen lassen.«

What?! Ich konnte es nicht glauben!

Ich, völlig aus dem Häuschen: »Das ist ja eine geile Geschichte! Gefällt Ihnen denn unsere Zeitung?«

»Ja, die finde ich super.«

»Passen Sie auf, wir haben hier ein Angebot über ein Jahr. Sie können sich die Zeitung ja weiterhin einfach vorlesen lassen.«

»Ja gut, machen wir.«

Wir haben dann noch ein bisschen gequatscht. Was für ein lässiger Kerl! Lässt sich vom Zivi ganz gemütlich vorlesen, was in der Weltgeschichte gerade vor sich geht. Nach dem Auflegen dachte ich mir: Gibt’s doch nicht, du hast gerade einem Blinden ein Zeitungsabo verkauft! Das glaubt dir keiner. Bist echt gut in deinem Job!

So war es und nicht anders. Irre, oder? Woran man wieder mal sieht: Auch ein Job im Callcenter kann der Knaller sein und richtig viel Spaß machen. Wenn die Einstellung stimmt. Ich habe mich von den schlecht gelaunten Leuten am Telefon – denn die gab es natürlich auch, und zwar gar nicht so selten – einfach nicht runterziehen lassen und war beim nächsten Anruf wieder genauso positiv gestimmt wie zu Beginn meiner Schicht.

Meine Callcenterkollegen waren übrigens toll! Ein Querschnitt der Gesellschaft, teilweise richtig spannende Leute. Ältere, die sehr viel Lebenserfahrung hatten. Mütter, die hier flexibel ihr Geld verdienen konnten. Und Studenten, die nebenher ein bisschen jobben wollten. Alle diese Leute konnten natürlich reden, deshalb waren die Pausen mit ihnen kurzweilig und witzig. Und man konnte auch mal Dampf ablassen, wenn man gerade eine Pechsträhne hatte und nur gestresste Leute am Telefon.

Ich habe ungefähr ein Jahr im Callcenter gearbeitet und würde behaupten, dass ich da recht erfolgreich war. Ich sage immer: Egal was ich in meinem Leben angefangen oder wo ich gearbeitet habe, irgendwie habe ich das alles mit Freude, Glück und guter Laune gemacht. Und das spüren die Menschen halt. So einfach – und gleichzeitig so schwer – ist das. Du kannst dir das als Faustregel fürs Leben merken: Wie du auf andere zugehst, so bekommst du es auch zurück. Die anderen sind ein Spiegelbild deiner selbst. Da sind wa wieder bei dem Punkt. Merkste?

Mir war es wichtig, die Leute am Telefon nicht zu verarschen oder fies zu überreden, die Zeitung zu bestellen. Sondern die Konditionen klar zu erklären. Und was ist schlecht daran, den Leuten Lust auf Lesen zu machen? Aber klar, wenn man acht Stunden am Tag Leute anruft, erwischt man auch mal jemanden auf dem falschen Fuß. Da haben mich meine Freunde schon auch gefragt: »Ey, Tommy, macht dir das nicht verdammt schlechte Laune? Wie kann man da positiv bleiben?« Meine Einstellung hat mir da sehr geholfen: Ich kann nichts für die Probleme anderer – das habe ich schon damals geahnt und heute erst recht verstanden. Ich bin nur für mich selbst verantwortlich. Und so hat mich das nicht wirklich runtergezogen, wenn einer meiner »Kunden« richtig arschig zu mir war und mich abgewürgt hat. Ich habe mich immer wieder neu auf die Situationen eingelassen und jedem Gespräch die Chance gegeben, nett zu werden. Der eine sagt, er hat keine Kohle für ein Zeitungsabo, würde aber gern lesen. Der Nächste sagt: »Ich brauch deine Scheißzeitung nicht, verpiss dich!« Klar ist es nicht an jedem Tag einfach, dranzubleiben und die Lust nicht zu verlieren. Aber es geht ja nicht gegen dich persönlich, und das macht den Unterschied.

So, und nach einem Jahr im Callcenter und immer wieder der Frage, was ich mit meinem Leben anstellen sollte, kam eine Einladung von Gute Zeiten, schlechte Zeiten zum Casting. Diese Einladung sollte alles verändern. Das war mir in dem Moment natürlich überhaupt nicht bewusst. Heute kann ich sagen: Bei mir hat sich im Leben alles auf Glück aufgebaut, und dafür bin ich sehr dankbar. Mein roter Faden!

Schwer in Ordnung

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