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1.1 Lexikalische Semantik

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Wörter und ihre Bedeutungen

Ob Wort, Phrase, Satz oder Text – ein sprachlicher Ausdruck besteht immer aus einer Verbindung von Form und Inhalt. Während sich Phonologie und Syntax mit der Formseite der Sprache beschäftigen, fällt ihre Inhaltsseite, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, im Wesentlichen in den Zuständigkeitsbereich der Semantik. Genauer gesagt ist die Semantik für denjenigen Teil der sprachlichen Bedeutung zuständig, der über alle Verwendungen und Äußerungssituationen hinweg stabil bleibt und somit als Teil des Sprachsystems angesehen werden kann – also dessen, was Sprecherinnen und Sprecher aufgrund ihrer Sprachkenntnis beherrschen. Dazu gehören insbesondere die Bedeutungen einzelner Wörter – natürlich nicht aller Wörter, denn viele von ihnen sind Bestandteil spezifischer Gruppensprachen (Dialekte, Soziolekte, Fachsprachen, …); andere sind im Aussterben begriffen und nur noch wenigen geläufig; wieder andere sind noch nicht bei allen angekommen. Doch die Kenntnis eines gewissen Kernbestands des Wortschatzes darf und muss man allen SprecherInnen unterstellen. Diese Kenntnis, die die formale wie die inhaltliche Seite der Wörter umfasst, macht einen Teil der Sprachkompetenz aus. So ist uns deutschen MuttersprachlerInnen bekannt, dass die Wörter ‚begradigen‘ und ‚begnadigen‘ trotz ihrer lautlichen Ähnlichkeit – phono – logisch handelt es sich um Minimalpaare – und ihres gleichen syntaktischen Verhaltens – beide sind transitive Verben – ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Ebenso bekannt ist uns, dass die Substantive ‚Apfelsine‘ und ‚Orange‘ zwar sehr unterschiedlich ausgesprochen und geschrieben werden, sich aber inhaltlich nicht voneinander unterscheiden. Und wir alle wissen nicht nur, welche uns vertrauten Wörter sich hinsichtlich ihrer Bedeutung unterscheiden; wir wissen auch, was diese Wörter jeweils bedeuten. Zumindest wissen wir dies insoweit, als wir in der Lage sind, die Wörter aufgrund ihrer jeweiligen Bedeutung zu verwenden und zu verstehen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Wissen um die Bedeutung der Wörter unserer Sprache nicht von unseren – ebenfalls impliziten – Kenntnissen der phonologischen und syntaktischen Strukturen. So wie wir die Auslautverhärtung, die Frage-Intonation, das Passiv und die Wortstellungsunterschiede zwischen Haupt- und Nebensatz beherrschen, so erfassen wir auch Bedeutungsunterschiede wie die zwischen den Verben ‚glauben‘ und ‚wissen‘ oder den Adjektiven ‚weiß‘ und ‚weise‘.

Paraphrasen

Wir kennen und verstehen zwar viele Wörter, doch worin diese Kenntnis und dieses Verständnis bestehen, ist gar nicht so leicht zu erklären. In vielen Fällen kann man sich den Wortbedeutungen durch Paraphrasen nähern, also durch sprachliche Umschreibungen, die mehr oder weniger dasselbe besagen wie das zu erklärende Wort. So lässt sich das Verb ‚begradigen‘ als gerade machen‘ umschreiben, während man sich für ‚begnadigen‘ schon eine umständlichere Formulierung einfallen lassen muss – oder das weniger geläufige Verb ‚amnestieren‘ heranzieht, dessen Bedeutung dann wiederum mit ‚begnadigen‘ umschrieben werden kann. Man sieht an dieser Zirkularität der Paraphrasen, dass sie sich nicht eignen, um jemandem den gesamten Wortschatz einer Sprache beizubringen: wenn man keines der beiden Wörter kennt, hilft es auch nicht, wenn man erfährt, dass sie (mehr oder weniger) dasselbe bedeuten. Vielleicht lassen sich ja auf diese Weise alle Wörter auf einige wenige ‚Urwörter‘ zurückführen, die allen Paraphrasen quasi als semantische Atome zugrunde liegen. Doch zumindest die Bedeutung dieser Atome kann dann nicht zirkelfrei durch Paraphrasen beschrieben werden. Insofern die Semantik beansprucht, zumindest prinzipiell die Bedeutung aller sprachlichen Ausdrücke erfassen zu können, kann sie sich also nicht in Paraphrasen erschöpfen – die wir in diesem Buch daher allenfalls als Hilfsmittel einsetzen.

paradigmatisch/syntagmatisch

Wenn es in den folgenden Kapiteln darum geht, Bedeutungen anzugeben, werden wir nicht darauf angewiesen sein, sie durch andere Ausdrücke zu umschreiben. Die Bedeutungen einzelner Wörter werden ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen. Denn die Wörter einer Sprache sind nicht isoliert voneinander, sondern müssen stets im Zusammenhang gesehen werden – genauer gesagt in zwei Arten von Zusammenhängen. Zum einen steht jedes Wort in Konkurrenz zu anderen, vergleichbaren Wörtern; zum anderen tritt jedes Wort mit anderen und zumeist andersartigen Wörtern in Beziehung, sobald es mit ihnen zu größeren Ausdrücken zusammengesetzt, also mit diesen kombiniert wird. Die Beziehungen zwischen konkurrierenden Wörtern bezeichnet man als paradigmatisch; die zwischen zu kombinierenden Wörtern als syntagmatisch. Uns interessieren hier natürlich in erster Linie die semantisch relevanten syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zwischen den Wörtern, also diejenigen, die aufgrund ihrer Bedeutungen bestehen.

Sinnrelationen

Die oben angesprochenen Paraphrasen basieren auf einer paradigmatischen Beziehung zwischen einzelnen Wörtern, der Synonymie: begnadigen‘ und ‚amnestieren‘, ‚Orange‘ und ‚Apfelsine‘, ‚Sonnabend‘ und Samstag‘, ‚obschon‘ und ‚obgleich‘ etc. bedeuten jeweils dasselbe und sind damit Synonyme voneinander (oder zueinander synonym). Daneben gibt es eine ganze Reihe anderer, ebenfalls paradigmatischer Beziehungen zwischen Wörtern mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen. So besteht zwischen den Adjektiven ‚heiß‘ und ‚kalt‘ ein ähnlicher Bedeutungsgegensatz – die sog. Antonymie – wie zwischen ‚groß‘ und ‚klein‘, ‚hoch‘ und ‚niedrig‘ oder ‚alt‘ und ‚jung‘. Eine weitere paradigmatische Beziehung – die Hyponymie – besteht zwischen Substantiven, die unterschiedlich spezifisch sind – wie ‚Haus‘ vs. Gebäude‘, ‚Eiche‘ vs. ‚Baum‘, ‚Frau‘ vs. ‚Mensch‘, ‚Kuh‘ vs. ‚Tier‘ usw. Und manchmal drücken zwei Wörter gegensinnige Beziehungen aus: ‚vor‘ vs. hinter‘, größer‘ vs. kleiner‘, Vorfahre‘ vs. ‚Nachkomme‘ etc.; in der Semantik nennt man solche Wortpaare Konversen voneinander. Paraphrase, Antonymie, Hyponymie und Konverse sind somit allesamt Beispiele für semantisch relevante paradigmatische Beziehungen zwischen einzelnen Wörtern. Man bezeichnet solche Beziehungen auch als Sinnrelationen.

lexikalische Semantik

Die Untersuchung der Sinnrelationen zwischen einzelnen Wörtern macht einen großen Teil eines Teilgebiets der Semantik aus, der lexikalischen Semantik – so genannt, weil es in ihr um das Lexikon geht, also den Wortschatz. In der lexikalischen Semantik werden Sinnrelationen herangezogen, um einzelne Wortbedeutungen voneinander abzugrenzen und miteinander in Beziehung zu setzen sowie um das Lexikon als Ganzes systematisch darzustellen und allgemeine Muster in diesem System zu erfassen. Gemeinsam ergeben diese Sinnrelationen ein komplexes (lexikalisches) Begriffsnetz.

lexikalische Lücken

Angesichts der offenkundigen Tatsache, dass die Entwicklung des Wortschatzes allerlei historischen Zufällen unterliegt, ist es kein Wunder, dass sich die Begriffsnetze verschiedener Sprachen voneinander unterscheiden. Zu den offensichtlichen Kontrasten in den lexikalischen Strukturen von Sprachen gehören die durch kulturelle, klimatische oder andere äußerliche Faktoren bedingten Unterschiede in der Durchdringung einzelner inhaltlicher Bereiche: je differenzierter die Braukunst, desto mehr Bierbezeichnungen, je mehr es schneit, desto subtiler die lexikalisierten Unterschiede zwischen Schneesorten und weißen Farbtönen, usw. – wenn auch nicht annähernd so vielfältig wie gemeinhin angenommen. Andere Unterschiede kann man einfach nur zur Kenntnis nehmen. So unterscheidet sich das Begriffsnetz des Deutschen von denen skandinavischer Sprachen insofern, als es kein Adjektiv (wie norwegisch ‚utørst‘) enthält, das in derselben semantischen Beziehung zu trinken‘ steht wie ‚satt‘ zu ‚essen‘. Hier klafft eine lexikalische Lücke, die bereits zu diversen erfolglosen (und nicht immer ganz ernst gemeinten) Versuchen geführt hat, aktiv in die Sprachentwicklung einzugreifen und die Lücke mit Neologismen wie ‚schmöll‘ zu schließen (s. Fig. 1.1).


Fig. 1.1: Leserbrief

Wir werden auf die Kartographierung des Lexikons durch Sinnrelationen im funften Kapitel zuruckkommen. Bis dahin werden die Bedeutungen einzelner Wörter und die paradigmatischen Beziehungen zwischen ihnen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aber mit Sinnrelationen werden wir dennoch zu tun haben. Denn diese können nicht nur zwischen Wörtern, sondern zwischen sprachlichen Ausdrücken beliebiger Komplexität bestehen. So sind z.B. die drei erweiterten Substantive in (1)a miteinander synonym, während die in (1)b eine Kette von Unter- und Oberbegriffen bilden:

(1) a. weibliches Pferd – Stute – Pferd weiblichen Geschlechts

b. schwarzes Turnierpferd männlichen Geschlechts – schwarzer Hengst-Säugetier

Sinnrelationen machen auch vor Sätzen nicht Halt. Eine von ihnen erweist sich dabei als besonders interessant. Sie besteht zwischen zwei Aussagesätzen, wenn der Eine aus dem Anderen folgt:

(2) a. Niemand hat ein Tier gesehen.

b. Kein Bauer hat eine Kuh gesehen.

Implikation

Offenbar kann man von (2)a auf (2)b schließen; denn (2)a kann nicht zutreffen, ohne dass auch (2)b richtig ist. Um diesen Schluss zu ziehen, sind keinerlei Kenntnisse der einschlägigen Tatsachen (Bauern, Tiere, Transaktionen) vonnöten. Er ergibt sich vielmehr ganz allein aufgrund des Verständnisses dieser beiden Sätze: er basiert auf einer Sinnrelation zwischen ihnen, einer Beziehung, die aufgrund ihrer Bedeutungen besteht. Diese Sinnrelation wird als Implikation (engl.: entailment) bezeichnet. Im vierten Kapitel werden wir sehen, wie sich die Implikationsbeziehungen zwischen Aussagesätzen unmittelbar aus ihren Bedeutungen ergeben.

Während man im lexikalischen Bereich prinzipiell sämtliche Sinnrelationen durch Auflistung angeben kann, müssen wir zur systematischen Erfassung von Fällen wie in (1) und (2) grundsätzlich andere Wege beschreiten: was man braucht, ist eine Methode zur Beschreibung der Kombination von Bedeutungen. Allerdings findet man eine solche – das zeigt die Erfahrung – gerade nicht, wenn man von lexikalischen Bedeutungen und Strukturen ausgeht, um dann schrittweise zu komplexen Ausdrücken zu gelangen. Das umgekehrte Vorgehen, das beim Satz beginnt und sich nach unten vorarbeitet, ist erfolgreicher. Wir werden daher die Einzelheiten der lexikalischen Semantik zunächst aufschieben, bis wir Klarheit über die semantisch relevanten syntagmatischen Beziehungen gewonnen haben; das wird in den Kapiteln 3 und 4 geschehen.

Quellen

Die Unterscheidung zwischen syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen geht auf den Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure [1857–1913] zurück, den Begründer des Strukturalismus – einer Forschungstradition („Schule“), die vor allem für die Sprachwissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tonangebend war und in der Sinnrelationen in den Mittelpunkt der Semantik gestellt wurden. Einen Überblick gibt das 2. Kapitel von Geeraerts (2010). – Der (getürkte) Leserbrief in Fig. 1.1 wurde 1975 in der satirischen Zeitschrift pardon abgedruckt; als wahrer Autor hat sich später Robert Gernhardt (et al. 1979: 312) geoutet. Über das Eskimo-Vokabularfür ‚Schnee‘kann man sich bei Pullum (1989) informieren.

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