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1.2 Bedeutungskomposition
ОглавлениеBedeutung jenseits des Lexikons
Sprachliche Bedeutung ist nicht allein eine Angelegenheit des Wortschatzes, sondern betrifft ebenso die Kombination von jeweils mehreren Wörtern zu größeren sprachlichen Einheiten. Dass es auch jenseits des Lexikons Bedeutung geben muss, zeigt ein Vergleich der folgenden beiden deutschen Sätze:
(3) Ich habe jede Woche eine Zeitung gelesen.
(4) Ich habe eine Woche jede Zeitung gelesen.
Der für jede Sprecherin und jeden Sprecher des Deutschen unmittelbar erkennbare Bedeutungsunterschied zwischen (3) und (4) kann nicht allein von den sieben Wörtern herrühren, aus denen die beiden Sätze bestehen; denn (3) und (4) enthalten genau dieselben Wörter, und diese Wörter bedeuten in beiden Sätzen offenbar auch jeweils dasselbe. Der Bedeutungsunterschied zeigt sich vielmehr in der Abfolge der Wörter. Andererseits führt nicht jede (grammatisch korrekte) Umstellung auch gleich zu einem Bedeutungsunterschied. So bedeutet (5) dasselbe wie (3), und (6) besagt so viel wie (4):
(5) Jede Woche habe ich eine Zeitung gelesen.
(6) Eine Woche habe ich jede Zeitung gelesen.
Der Unterschied zwischen (3) und (4) ergibt sich somit aus der Art und Weise, in der die genannten Wörter miteinander kombiniert werden, aus ihren unterschiedlichen syntagmatischen Beziehungen in diesen Sätzen. In (3) und (5) wird der indefinite Artikel ‚eine‘ auf das Substantiv ‚Zeitung‘ bezogen, während der (sogenannte) Determinator ‚jede‘ eine Einheit mit dem Substantiv ‚Woche‘ bildet; in (4) und (6) ist es genau umgekehrt. Die unterschiedlichen syntaktischen Bezüge und Strukturen in (3) und (4) führen also zu verschiedenen Bedeutungen.
kompositionelle Semantik
Der Zusammenhang zwischen Bedeutung und syntaktischer Struktur ist Gegenstand der kompositionellen Semantik. Der Terminus spielt darauf an, dass sich die Bedeutungen komplexer Ausdrücke – also solcher, die aus mehr als einem Wort bestehen – durch Kombination der Bedeutungen ihrer Teile ergeben; den Prozess der Kombination von Teil-Bedeutungen bezeichnet man dabei als Bedeutungskomposition. Wie dieser Prozess im Einzelnen aussieht, wird uns noch in den Kapiteln 2–4 beschäftigen. An dieser Stelle genügt es zu verstehen, dass bei der Bedeutungskomposition einzelne Wortbedeutungen so miteinander kombiniert werden, dass am Schluss die Bedeutung eines Gesamtausdrucks herauskommt und dass dabei die syntaktische Struktur dieses Gesamtausdrucks eingeht. Wie wir später noch im Detail sehen werden, läuft dieser Kompositionsprozess schrittweise ab, indem zunächst jeweils die Bedeutungen kleinerer Einheiten aus denen ihrer Teile ermittelt werden. So ergeben sich zunächst die Bedeutungen von ‚jede Woche‘, ‚eine Zeitung‘ und ‚habe gelesen‘ durch Kombination der entsprechenden Wortbedeutungen; und aus diesen lässt sich dann (über ein paar Zwischenschritte) die Bedeutung von (3) bestimmen. Für (4) dagegen wird man zunächst die Bedeutungen von ‚eine Woche‘, ‚jede Zeitung‘ sowie (ebenfalls) ‚habe gelesen‘ ermitteln und dann miteinander kombinieren. Insgesamt lassen sich auf diese Weise die Bedeutungen von (3) und (4) schrittweise – oder wie man in der Semantik sagt: kompositionell – aus denen der (hier alphabetisch aufgelisteten) Wörter ‚eine‘, ‚gelesen‘, ‚habe‘, ‚ich‘, ‚jede‘, ‚Woche‘ und ‚Zeitung‘ bestimmen, wobei die unterschiedlichen syntagmatischen Beziehungen zwischen ihnen dafür sorgen, dass sich die beiden Satzbedeutungen voneinander unterscheiden.
Besonders deutlich wird der Einfluss der syntaktischen Struktur auf die Bedeutung bei strukturell ambigen Ausdrücken, also Phrasen und Sätzen, deren Bestandteile auf mehr als eine Weise strukturiert werden können. So kann ‚alte Männer und Frauen‘ so viel bedeuten wie ‚Frauen und alte Männer‘ oder aber gleichbedeutend sein mit ‚alte Männer und alte Frauen‘. Die beiden folgenden alternativen Klammerungsmöglichkeiten machen dies deutlich:
(7) alte Männer und Frauen
a. [[alte Männer] und Frauen]
b. [alte [Männer und Frauen]]
Oberfläche Lesarten
Streng genommen haben wir es in (7) mit zwei verschiedenen sprachlichen Ausdrücken zu tun, die nur gleich aussehen – gleich geschrieben und (nahezu) gleich ausgesprochen werden: (7) ist, wie man in der Sprachwissenschaft sagt, die gemeinsame Oberfläche, die zwei Strukturierungen mit unterschiedlichen Bedeutungen zulässt, die Lesarten (7)a und (7)b.
Disambiguierung Ambiguität
Die Klammerungen disambiguieren die (Oberflächen-)Phrase ‚alte Männer und Frauen‘, d.h. sie machen sie eindeutig, indem sie ihr (alternative) Strukturen unterlegen. Die jeweilige Klammerung ist nicht die Bedeutung der Phrase, sondern Teil ihrer syntaktischen Struktur, also ihrer Form. Sie erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie die in Wörterbüchern verwendete Indizierung von mehrdeutigen Wortformen: ‚Bank1‘ [Sitzgelegenheit] vs. ‚Bank2‘ [Finanzinstitut]. Auch diese Indizes dienen der Disambiguierung; allerdings ist in diesen Fällen die Mehrdeutigkeit – oder Ambiguität, wie man in der Semantik sagt – von anderer Art: sie ist lexikalisch, nicht strukturell. Die Klammerungen in (7) zeigen zudem an, wie der Kompositionsprozess jeweils vonstatten gehen muss. Die Bedeutung der Phrase (7)a ergibt sich, wenn man zunächst die Bedeutung des Adjektivs ‚alte‘ mit der des einfachen Substantivs ‚Männer‘ und dann das Ergebnis mit den Bedeutungen der restlichen beiden Wörter (‚und‘ und ‚Frauen‘) kombiniert. Bei (7)b dagegen verläuft die Bedeutungskomposition anders: hier müssen zunächst die Bedeutungen der (pluralischen) Substantive ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ mit der der Konjunktion ‚und‘ kombiniert werden; dann wird das Ergebnis dieser Kombination – also die Bedeutung von ‚Männer und Frauen‘ – mit der Bedeutung des Adjektivs kombiniert.
Nicht immer ist der Zusammenhang zwischen syntaktischer Struktur und Bedeutung so deutlich wie bei „Klammerungsambiguitäten“ à la (7). So sind die folgenden beiden (Oberflächen-)Sätze mehrdeutig, ohne dass die Quelle dieser Mehrdeutigkeit offenkundig ist:
(8) Die Studierenden, die wenig Geld haben, müssen nichts zahlen.
(9) Fritz sucht ein nahe gelegenes japanisches Restaurant.
Bevor Sie weiter lesen, sollten Siesich zunächst klar machen, wie Sie (8) verstehen. Am besten denken Sie sich dazu eine Situation aus, auf die (8) zutrifft.
appositive Lesart
Zum einen kann mit (8) gemeint sein, dass Studierende nichts zahlen müssen, wobei nebenher zu verstehen gegeben wird, dass Studierende im Allgemeinen minderbemittelt sind. In dieser, sog. appositiven Lesart lässt sich (8) annähernd wie folgt paraphrasieren:
(10) Die Studierenden, die ja wenig Geld haben, müssen nichts zahlen.
restriktive Lesart
Wenn dies nicht die Lesart war, die Sie zuvor im Kopf hatten, sollten Sie sich an dieser Stelle davon überzeugen, dass (10) dennoch eine legitime Paraphrase für einen Sinn von (8) ist. Doch (8) kann man auch anders verstehen, nämlich als Aussage über einen Teil der Studierendenschaft. Das ist die restriktive Lesart, die paraphrasiert werden kann durch:
(11) Diejenigen Studierenden, die wenig Geld haben, müssen nichts zahlen.
Auch hier sollten sich die LeserInnen zunächst davon überzeugen, dass (11) eine mögliche Paraphrase von (8) ist. (8) ist offenbar ambig. In der Tat spricht einiges dafür, dass es sich dabei um eine strukturelle Ambiguität handelt, die sich ähnlich wie in (7) durch Klammerung erklären lässt. Doch in diesem Fall ist nicht offensichtlich, wie das funktionieren soll. Um des dramatischen Effekts willen (aber auch aus pädagogischen Gründen) vertagen wir die Antwort auf diese Frage auf das nächste Kapitel.
[un-]spezifische Lesart
Auch bei (9) liegt eine Ambiguität vor. Zum einen kann der Satz eine Situation beschreiben, in der Fritz gerne japanisch essen gehen würde, aber keinen weiten Weg dafür in Kauf nehmen möchte. In diesem Fall haben wir es mit einer unspezifischen Lesart zu tun, weil es sich nicht um ein bestimmtes (= spezifisches) Restaurant handelt, das Fritz sucht; vielleicht gibt es nicht einmal eines. Doch (9) hat auch eine andere, spezifische Lesart, die z.B. vorliegt, wenn Fritz ein bestimmtes Lokal sucht – etwa weil er dort etwas abholen muss; in diesem Fall muss er nicht einmal wissen, dass es sich um ein japanisches Restaurant handelt (vielleicht kennt er ja nur den Namen), aber es handelt sich um ein bestimmtes Restaurant. Die Ambiguität von (9) ist ebenfalls struktureller Natur, lässt sich allerdings nicht durch einfache Klammerung erklären; auch darauf kommen wir im nächsten Kapitel zurück.
Um zu beschreiben, wie sich Bedeutungen kompositionell miteinander kombinieren lassen, muss man zunächst einmal wissen, was für Objekte Bedeutungen überhaupt sind. Wir hatten bereits bemerkt, dass dies aus Spre cherInnen-Sicht alles andere als offensichtlich ist: selbst wer eine Sprache perfekt beherrscht, muss nicht in der Lage sein anzugeben, was genau die Bedeutung eines gegebenen Wortes oder Satzes ist. In dieser Hinsicht geht es der Semantik nicht anders als dem Rest der Grammatik: auch wer – wie jedeR Muttersprachlern – die Regeln des deutschen Satzbaus perfekt beherrscht, muss nicht in der Lage sein, diese Regeln explizit anzugeben: Sprachbeherrschung ist implizites Wissen. Die Wortstellungsregeln (und Grammatikregeln im Allgemeinen) können zwar für wissenschaftliche oder pädagogische Zwecke explizit gemacht werden; doch es gibt sie auch ohne Grammatikbücher, die sie lediglich rekonstruieren (oder normieren). Und was für syntaktische und phonologische Regeln und Prozesse gilt, gilt auch für die Inhaltsseite der Sprache, deren Beherrschung ebenfalls implizites Wissen darstellt, nämlich die Kenntnis der Wortbedeutungen und des Prozesses der Bedeutungskomposition. In der Semantik geht es darum, dieses Wissen explizit zu machen. Dafür sind insbesondere Annahmen darübervonnöten, um was für Objekte es sich bei sprachlichen Bedeutungen handelt. Dass dies nicht ganz einfach und offensichtlich ist, lassen schon die obigen Beispiele erahnen: was etwa soll die Bedeutung der Konjunktion ‚und‘ sein oder die des unspezifischen Indefinitums ‚ein japanisches Restaurant‘? Muttersprachliche Intuition und schulgrammatisches Vorwissen sind mit derlei Fragen offenkundig überfordert.
Extension und Intension
Die Antworten der modernen Semantik – auf die wir erst im dritten und vierten Kapitel im Detail eingehen werden – basieren auf der Grundidee, dass sprachliche Bedeutung primär dem Zweck dient, Informationen auszutauschen und dass jeder einzelne Ausdruck – jedes Wort, jede Phrase, jeder Satz, jeder Text – seinen eigenen Beitrag zu diesem Zweck leistet. Aus Sicht der Bedeutungskomposition stellt es sich dabei als sinnvoll heraus, diesen Beitrag in zwei Anteile aufzuspalten: die Intension, die den Informationsgehalt eines Ausdrucks ausmacht, und die Extension, die festhält, auf wen oder was sich diese Information bezieht. Der Unterschied lässt sich am leichtesten anhand sog. Kennzeichnungen verstehen; das sind definite Nominale im Singular wie zum Beispiel ‚die zweitgrößte Stadt Sloweniens‘ oder auch ‚der Geburtsort des Sportdirektors des VfB Stuttgart‘. Beide Nominale beziehen sich auf denselben Ort, nämlich Maribor, identifizieren diesen aber anhand ganz unterschiedlicher Informationen. Aus semantischer Sicht heißt das, dass sie dieselbe Extension besitzen, aber verschiedene Intensionen. Die Konstruktion dieser beiden Bedeutungsanteile nimmt einen Großteil des vorliegenden Buchsein. Dabei wird sich zum einen zeigen, dass in der Tat jeder Ausdruck sowohl eine Extension als auch eine Intension besitzt und dass diese beiden Bedeutungsanteile zum anderen die Hauptrolle bei der Bedeutungskomposition spielen.
Quellen
Die Bedeutungskomposition hat in der linguistischen Semantik lange Zeit keine nennenswerte Rolle gespielt. Einzelne Versuche, strukturalistische Methoden über die lexikalische Semantik hinaus zu erweitern, sind letztlich grandios gescheitert; vgl. z.B. Weinreichs (1966) oder Rohrers (1971: 81 ff.) Kritik des Ansatzes von Katz & Fodor (1963).