Читать книгу Einführung in die Semantik - Thomas Ede Zimmermann - Страница 9
1.3 Semantik vs. Pragmatik
Оглавлениеwörtliche Bedeutung vs. Situationsbedeutung
Die sprachliche Bedeutung ist ein weites Feld – zu weit, als dass Extension und Intension es in all seinen Nuancen erfassen könnten. Insbesondere gibt es eine ganze Reihe von Bedeutungsaspekten, die nicht einmal Teil des grammatischen Systems sind, sondern sich in der Sprachverwendung ergeben. In der Linguistik (oder Sprachwissenschaftdas ist dasselbe) wird daher der Bereich der sprachlichen Bedeutung in zwei Teile untergliedert, von denen nur einer – die sog. wörtliche oder konventionelle Bedeutung – den Zuständigkeitsbereich der Semantik ausmacht; der andere Teil – die Situations- oder Gebrauchsbedeutung – ist Gegenstand der Pragmatik. Grob gesprochen besteht der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungsaspekten darin, ob …
(a) sie Teil der jeweiligen Einzelsprache (Deutsch, Englisch, Swahili …) sind und von deren Grammatik und Lexikon abhängen
… oder ob …
(b) sie sich aus Gesprächsstrategie und -ökonomie, gesellschaftlichen Konventionen oder anderen außersprachlichen Faktoren ergeben.
Um die Fälle unter (b) kümmert sich die Pragmatik; wörtliche Bedeutungen fallen dagegen unter (a). Die Abgrenzung ist nicht immer ganz einfach, manchmal sogar umstritten, in weiten Bereichen der Sprache jedoch unproblematisch. Wir werden im sechsten Kapitel darauf zurückkommen. An dieser Stelle müssen ein paar Beispiele genügen.
Ironie
Beim Verlassen der Mensa trifft Fritz, ein stadtbekannter Gourmet, seinen Freund Uwe, der sich nach der Qualität des heutigen Wahlessens erkundigt. Fritzens Antwort ist knapp:
(12) Das Steak war wie immer zart und saftig.
Wörtlich genommen spricht Fritz damit dem Mensaessen eine hohe Qualität zu. Aber wörtlich meint er seine Äußerung nicht; vielmehr will Fritz mit seinem Kommentar zu verstehen geben, dass das Steak wie immer war – also weder zart noch saftig. Und Uwe versteht seinen Freund nur allzu gut. Doch damit er ihn versteht, muss er zunächst einmal verstehen, was Fritz wörtlich gesagt hat. Aber weil eben Uwe seinen Freund gut kennt, weiß er, dass Fritz das, was er da gerade gesagt hat, kaum in dieser wörtlichen Form gemeint haben kann: nichts spricht dafür, dass Fritz urplötzlich unter Geschmacksverirrung oder Gedächtnisschwund leidet und das Mensa-Steak als schon immer zart und saftig einstuft. Außerdem kann Uwe bei Fritz einen leicht schelmischen Gesichtsausdruck ausmachen. Er schließt also zu Recht – wie Fritz es nicht anders erwartet – dass sein Freund ihm etwas Anderes mitteilen will, nämlich das blanke Gegenteil dessen, was er eigentlich – wörtlich – gesagt hat. Fritz‘ Äußerung war ironisch gemeint und kommt bei Uwe genauso an. Doch nur ihre wörtliche Bedeutung geht die Semantik etwas an.
kommunikative Absicht
Einem Reisenden wird vor dem Einstieg ins Flugzeug kurz hintereinander zweimal dieselbe Frage gestellt – einmal von einer Mitreisenden, danach von einem Flughafenmitarbeiter:
(13) Haben Sie vielleicht eine Uhr dabei?
Die Mitreisende möchte nur wissen, ob noch Zeit für einen Kaffee ist – ihre Frage gilt eigentlich der Uhrzeit. Sie hätte also auch direkt – aber vielleicht etwas unvermittelt – fragen können:
(14) Wie spät ist es eigentlich?
Der Flughafenmitarbeiter dagegen möchte nur verhindern, dass der Metalldetektor unnötig Alarm schlägt und fordert mit seiner Äußerung der Frage (13) den Reisenden auf, seine Uhr gegebenenfalls auf das Transportband zu legen. Er hätte also auch die Aufforderung (15) geben können:
(15) Legen Sie bitte auch Ihre Uhr auf das Band!
Trotz dieser verschiedenen Verwendungen und beabsichtigten Reaktionen seitens des Adressaten ist die Frage in beiden Fällen dieselbe, nämlich (13); und sie hat auch dieselbe wörtliche Bedeutung. Die Tatsache, dass sie einmal im Sinn von (14) verwendet wird und das andere Mal auf (15) hinausläuft, ist ein Unterschied in der kommunikativen Absicht, die die Sprecher(innen) mit ihrer jeweiligen Äußerung verfolgen – und somit aus semantischer Sicht irrelevant.
Angemessenheit
Die Leiterin des für das Mensaessen zuständigen Studentenwerks wird anlässlich einer angekündigten Preiserhöhung von der Studentenzeitschrift Campus-Courier interviewt. Der Nachwuchsredakteur eröffnet das Gespräch mit den folgenden Worten:
(16) Willst Du allen Ernstes für den Fraß noch mehr Kohle verlangen?
Der Mann hat noch einiges zu lernen. Denn seine Art zu fragen ist nicht gerade diplomatisch und wenig dazu geeignet, eine entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen: seine Formulierung ist gänzlich unangemessen – kein Wunder, dass die Leiterin des Studentenwerks barsch reagiert. Doch das Anliegen des Redakteurs ist vollkommen legitim. Nur vielleicht hätte er es besser mit der folgenden Formulierung versucht:
(17) Planen Sie tatsächlich eine Anhebung der Essenspreise?
Auf diese Weise hätte er im Wesentlichen dieselbe Frage auf angemessenere Weise stellen können. Aber: so wichtig die Unterschiede zwischen den beiden Formulierungen für das Wohl des Campus-Couriers auch sind – aus semantischer Sicht kann man sie getrost vernachlässigen. Denn wörtlich besagen die beiden Fragen (nahezu) dasselbe.
Die drei Beispiele stehen stellvertretend für Phänomene, die in verschiedenen Teilbereichen der Pragmatik untersucht werden. Wir werden diese Bereiche für den Rest des Buchs allerdings weitgehend ignorieren.
Die wörtliche Bedeutung scheint regelrecht zu verblassen gegenüber dem bunten Katalog von Phänomenen und Beobachtungen, die den Gegenstandsbereich der Pragmatik ausmachen. Allerdings zeigen schon diese wenigen Beispiele, dass Situationsbedeutung überhaupt erst auf dem Hintergrund eines wörtlichen Vorverständnisses entsteht. Denn dem Verstehen der Situationsbedeutung geht immer das Erfassen der wörtlichen Bedeutung voraus. Für die Pragmatik heißt das, dass die Situationsbedeutung aus der wörtlichen Bedeutung hergeleitet werden muss. Die wörtliche Bedeutung bildet – neben allerlei kontextuellen Einflüssenden Input der pragmatischen Analyse und ist somit für diese unverzichtbar.
Mit dem Erfassen der wörtlichen Bedeutung sprachlicher Ausdrücke verhält es sich ähnlich wie mit der Wahrnehmung: die meisten von uns tun es mühelos, aber nur wenige können erklären, wie das passiert. Und für eine genaue Erklärung des Phänomens müssen auch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Disziplinen bemüht werden. Eine von ihnen ist die Semantik, die zwar das Phänomen des sprachlichen Verstehens nicht ganz allein erklären kann, aber doch einen entscheidenden Beitrag dazu zu liefern vermag. Welcher Art dieser Beitrag ist, lässt sich an dieser Stelle nur andeuten. Aber wir werden im Schlusskapitel des Buchs noch einmal auf diese Frage zurückkommen, nachdem wir uns mit der Denk- und Arbeitsweise der Semantik vertraut gemacht haben. Das Folgende lässt sich allerdings jetzt schon sagen: die Semantik hat es nicht (oder allenfalls am Rande) mit dem subjektiven, psychologischen Aspekt des sprachlichen Verständnisses zu tun – also mit der Frage, was in den einzelnen Personen vorgeht, während sie etwas verstehen. Vielmehr geht es um die Frage, was diese Personen verstehen, was also diese ominöse wörtliche Bedeutung ist, die sie erfassen.
Quellen
Die heute in der Linguistik verbreitete Auffassung der Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik lässt sich auf diverse sprachphilosophische Einflüsse zurückführen, vor allem Grice (1966–67), Searle (1969) und Stalnaker (1970).