Читать книгу Megapolis - Thomas Elbel - Страница 11

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Seth war an der nächsten Haltestelle ausgestiegen und wieder zum Stephansplatz zurückgefahren. Die kalte Luft an der Oberfläche milderte seinen Groll über die verpatzte Verfolgung ein wenig. Er schaltete sein Tectoo online. Es schien einwandfrei zu funktionieren.

»Gib mir den Eintrag zu Jack Lansing.«

Ein paar Sekunden lang hörte er nur Geknister. Dann erwachte ein Schaltkreis zu grünlich leuchtendem Leben, ein sanfter Alt ließ seine Haut vibrieren und schmeichelte seinen Ohren. Aus irgendwelchen Gründen stellte sich Seth dabei jedes Mal eine Brünette mit reifem, behäbigem Sex-Appeal vor.

»Jack Lansing. Mensch. Geboren auf der Erde im Jahre 2049. Von 2085 bis zur Rebellion Chefkonstrukteur und Leiter der Produktion der Novaten auf dem Mars. Soll bei einem Angriff seiner Geschöpfe auf sein Hauptquartier im Hradschin ums Leben gekommen sein.«

Das Gesicht eines Mannes in den mittleren Jahren rotierte in Lebensgröße vor Seth. Kräftige, knochige Züge. Schmale Augen. Nicht unsympathisch. Ein Anführer, dachte er.

»Es gibt da Gerede, dass er überlebt haben soll. Hast du etwas darüber?«

»Legenden der Humos besagen, er halte sich mit ein paar Getreuen an einem geheimen Rückzugsort in der Wüste versteckt. Diesen Gerüchten zufolge soll Jack Lansing im Besitz eines Geheimnisses sein, das es ihm ermöglichen würde, Menschen und Novaten zu versöhnen. Darum werde er eines Tages sein Versteck verlassen, um dem Planeten Frieden zu bringen.«

Seth musste grinsen. »Romantische Menschenscheiße, würde Kharon sagen. Hast du auch einen Eintrag über Finn Lansing?«

»Finn Lansing. Sohn von Jack Lansing. Geboren im Jahre 2068. Beim Versuch der Flucht in den Außenbereich von der Befreiungsarmee getötet.«

»Gibt es kein Bild?«

»Einen Moment, bitte.«

Für eine Weile schwieg die Stimme. Inzwischen ragte die riesige Silhouette des Stephansdoms vor Seth auf. Die Sonne war schon hinter der gegenüberliegenden Häuserzeile verschwunden und tränkte die dünne Wolkendecke in ein blasses orangefarbenes Licht.

»Verzeihung, aber das ist nicht zugänglich.«

»Was soll das heißen? Ich besitze die zweithöchste Sicherheitsstufe.«

Die Stimme klang völlig ungerührt. »Das weiß ich, Jäger. Es tut mir leid, ich habe selbst keinen Zugriff auf diese Information. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Können wir uns mal nach dem Dienst treffen, ich meine, auf einen Cocktail bei mir oder so?«

»Ich bin nur eine Computersimulation.«

»Tatsächlich? Hoffentlich mit kleinen festen Schaltkreisen.«

»Danke für Ihre Aufträge, Jäger.«

Das grünliche Leuchten auf seiner Haut erlosch.

»Ich glaube dir kein Wort, Lady.«

Mit einem grimmigen Grinsen zog Seth den Ärmel über sein Handgelenk. Vor dem Riesentor angekommen, aktivierte er den ID-Chip seines Tectoos, als ihm auffiel, dass es niemanden gab, der ihn hätte kontrollieren können. Dann betrat er den Dom durch die kleine Schleuse.

Das Hauptschiff und die Seitenschiffe mit ihrer Vielzahl von dämmrigen Nebenaltären und Nischenkapellen waren leer gefegt. Das Publikum hatte den Dom längst verlassen. Weit vorne, vor dem Altar, dessen barocke Pracht von Scheinwerfern in ein klinisch grelles Licht getaucht wurde, tummelte sich ausschließlich Polizei und anderes Sicherheitspersonal. Biomechas in ihren leuchtend orangefarbenen Uniformen kümmerten sich um die zahlreichen Opfer, die vor dem Altar und dem Südportal verstreut lagen. Ihr Wimmern und Stöhnen erfüllte die Luft.

Durch den Mittelgang zwischen den Bankreihen hindurch näherte sich Seth ein Zug, der von zwei Biomechas mit einer belegten Bahre angeführt wurde. Dahinter folgten einige Prätorianer. Prätorianer? Eine heiße Welle rieselte über sein Gesicht. Er stellte sich dem Zug in den Weg. Sofort riss eine der Leibwachen, ein vierschrötiger Kerl, die Waffe hoch und kam auf ihn zu. Seth hob die rechte Hand und zog mit der linken seine Marke heraus.

»Ich bin Jäger. Was ist passiert? Ist das ein Ratsmitglied?«

Auf einmal zog ihn jemand von hinten an der Schulter seines Mantels zur Seite. Überrascht drehte er sich um und blickte in die Augen von Nimrod. Mit seinem mehr als schmalen Gesicht sah sein Kollege ein bisschen wie eine unheimliche Marionette aus. Seth hatte ihn noch nie leiden können. Er war ein Kriecher und ein Sadist. Na gut, das mochte auch auf Kharon zutreffen, aber anders als Seths Partner hatte Nimrod überhaupt keinen Humor oder sonstige angenehme Eigenschaften, die seine offensichtliche Freude am Leid und Unglück anderer wettgemacht hätten. Die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Seth folgte der Bahre mit den Augen.

»Mr Tashtego«, murmelte Nimrod. Fast schien es, als färbe eine seltsame Befriedigung seine Stimme. Erstaunlich. Der Tod eines Ratsmitglieds bedeutete für jeden von ihnen eine nie da gewesene Katastrophe.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Seth.

Nimrod begann, mit kleinen, aber flinken Schritten in Richtung Altar zu gehen. Gebieterisch winkte er Seth, ihm zu folgen. Seths Neugier besiegte seinen Stolz. Widerwillig folgte er ihm.

Vor der Steinbalustrade, die den Altarraum begrenzte, kam Nimrod zum Stehen. Im Licht der Scheinwerfer standen immer noch die Kreuze, an denen jetzt zusammengesunkene und grausam zugerichtete Körper hingen.

»Wahrscheinlich eine Schussverletzung durch die Schießerei mit den Terroristen. Die Klärung der genauen Todesursache ist Angelegenheit der Leibärzteschaft. Aber eines ist sicher.« Die betonte Beiläufigkeit in Nimrods Stimme ließ nichts Gutes vermuten.

»Ach ja. Und das wäre?«

»Nun ja, wie es scheint, habt ihr, du und der andere Jäger, dieses Desaster und den Tod Mr Tashtegos zu verantworten.«

Nimrods selbstgefälliger Blick bohrte sich in Seths Augen und forschte nach einer Reaktion. Seth bemühte sich, keine zu zeigen. Nach ein paar Momenten breitete sich auf dem Gesicht seines Gegenübers ein bösartiges Lächeln aus.

»Jedenfalls ist das die Meinung des Vorsitzenden Starbuck«, fuhr Nimrod fort.

»Wo ist er?«

»Auf dem Weg in die Burg, um die Situation mit dem Rat zu besprechen. Dein unglücklicher Kollege begleitet sie. Wenn du mich fragst, solltest du wohlverstanden in deinem eigenen Interesse erwägen, schleunigst hinterherzueilen.«

In seinen Manteltaschen ballte Seth die Fäuste. Nimrods gespielte Besorgnis war schwer zu ertragen. Am liebsten hätte er dem Mann einfach ins Gesicht geschlagen. Aber er riss sich zusammen und überstieg stattdessen die Steinbalustrade. Dort stellte er sich vor eines der Kreuze, an dem ein erschlaffter Körper hing. Im Unterleib des Opfers steckte immer noch die Obsidianklinge, die Seth vor einer Stunde aus den Händen geglitten war. Wie ein grausiger Phallus. Offensichtlich hatte jemand sein Werk nicht ganz vollenden können. Hinter sich hörte er die schweren Tritte der Prätorianer.

»Wenigstens war die Exekution erfolgreich. Keiner der Schöpfer konnte fliehen.«

Seth wollte sich gerade umdrehen, um einen wüsten Fluch auszustoßen, da hörte er vor sich ein schwaches Wimmern. Fast unmerklich zuckte der Kopf des Menschen zur Seite. Seth war für einen Moment wie versteinert. Der Junge hatte die üble Verletzung überlebt. Ohne nachzudenken, ergriff Seth den Dolch und zog ihn aus der Wunde. Erst als der Verletzte laut aufstöhnte, wurde ihm klar, welchen Fehler er da machte.

»Dieser Schöpfer hängt an seiner armseligen Existenz, wie es scheint«, hörte er Nimrods hämische Stimme.

Seth ignorierte ihn und rief so lange nach einem der Biomechas in der Nähe, bis dieser mit einem Achselzucken einen verletzten Prätorianer sitzen ließ und zu ihm herüberkam.

»Was ist denn? Der Arm des Mannes dort ist gebrochen, ich muss ihn gleich noch schienen.«

»Vorher hilfst du dem hier.«

Der Biomecha blickte in stummem Erstaunen zu dem Knaben hinüber, der sich leicht hin und her wiegte, und dann sah er wieder zu Seth zurück.

»Aber das ist ein …«

»Das ist mir scheißegal. Du tust, was du kannst, oder ich sorge persönlich dafür, dass du es bereust.«

Der Biomecha schaute ihn noch einmal ungläubig an, schüttelte den Kopf und wandte sich dem Kreuz zu. Hinter sich hörte Seth Nimrod kichern und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Der Biomecha nahm den Knaben in Augenschein. Er betrachtete die Bauchwunde und sah sich die Blutlache an, die sich unter ihm auf dem Boden gebildet hatte. Schließlich wandte er sich wieder Seth zu. Mit einem gleichmütigen Gesichtsausdruck sagte er: »Da kann ich nichts mehr tun.«

Seth packte ihn am Kragen, zog ihn zu sich und fragte mit bedrohlichem Unterton: »Was meinst du damit?«

Der Mann riss sich empört los. »Ich sage, der ist hinüber«, schnauzte er zurück. »Die inneren Verletzungen sind zu ausgeprägt und der Blutverlust zu groß. Ich kenne diese Klingen und weiß, was sie anrichten. Für den ist das Spiel gelaufen. Wenn du ihm einen Gefallen tun willst, dann jagst du ihm … na, du weißt schon.«

Er machte eine eindeutige Geste. Seth schluckte. Der Biomecha zuckte die Schultern und wandte sich wieder dem Prätorianer mit dem verletzten Arm zu.

Seth betrachtete den Knaben, dessen Kopf jetzt von einer Seite auf die andere rollte. Er murmelte unverständliche Sprachfetzen vor sich hin. Seth fragte sich, ob er delirierte. Fast wünschte er es sich. Dann hob der Knabe kurz den Blick, und Seth konnte seine Augen sehen. Noch vor Tagen mochten sie voller Lebenshunger und Neugier gewesen sein. Jetzt lag darin nichts als das Wissen um das eigene Verhängnis und die Unausweichlichkeit des Schmerzes. Der Kopf sank wieder auf die Brust und rollte weiter von rechts nach links, von links nach rechts. Seth schaute nach oben, auf den Märtyrer, der am Boden kniete. Während er dessen entrücktes Gesicht betrachtete, entwickelte seine Hand ein Eigenleben, fand das kalte Metall in seiner Tasche und legte den Sicherungshebel um. Er brauchte nicht nach vorne zu schauen, um zu wissen, wie er zielen musste. Vor dem Heiligen stand hoch aufgerichtet ein Werfer, den Stein in der Hand, mit barockem Schwung ausholend.

Der Knall erschien ihm ohrenbetäubend laut und riss ihn jäh in die Wirklichkeit zurück. Er spürte Nässe auf seinen Wangen und seiner Stirn, fühlte seine eigenen Zähne, die sich tief in die Lippe gruben.

»Geht ja doch. Warum nicht gleich so, Kollege?«, erklang es hinter ihm.

Seth schnellte herum. Nimrod erkannte die Gefahr nicht – oder wollte sie nicht erkennen.

»Der Vorsitzende hätte …«

Die Faust landete in Nimrods Zähnen, bevor dieser sie überhaupt kommen sah. Sein schmaler Körper taumelte, stolperte rückwärts gegen die Balustrade und prallte auf den harten Marmorboden. Aus den Augenwinkeln konnte Seth das Entsetzen in den Augen des Biomechas sehen, der die Szene atemlos verfolgte. Nimrod lag rücklings auf dem Boden, stützte sich auf einen Arm und wischte sich das Blut vom Mund. Mit erstaunlicher Behändigkeit schnellte sein biegsamer Leib auf die Füße, und mit zwei, drei kurzen Sätzen sprang er auf Seth zu. Dessen Körper spannte sich in Erwartung des Aufpralls, doch als Nimrods Schulter gegen seine Rippen krachte, glitten seine Ledersohlen auf dem glitschigen Marmorboden aus, und beide Männer rollten und schlitterten über die blutigen Fliesen. Ein paar Momente rangelten sie ergebnislos darum, den anderen in eine günstige Position für einen Schlag zu bekommen. Dann spürte Seth auf einmal, wie sich zwei, drei, vier Arme wie Schraubstöcke um seine Glieder legten und ihn von Nimrod wegrissen.

»Besorg’s dem Humo-Freund. Wir halten ihn fest«, feixte einer der Prätorianer hinter Seth. Nimrod stand langsam auf, ein bösartiges Lächeln im Gesicht.

»Nein. Lasst ihn ziehen. Der ist sowieso erledigt.«


Die weite Lobby des Konferenzsaals war mit dunklem Furnierholz getäfelt. Plasmaleuchten hinter den geriffelten Glasabdeckungen an der Decke tauchten sie in ein ungemütliches Licht, das hell schien, ohne den Raum aber wirklich zu erleuchten. Seths Augen blieben an Kleinigkeiten hängen. Die vergilbten Risse im Furnierlack. Die unzähligen Brandflecke auf dem Veloursteppich, dessen Oberfläche unter dieser Beleuchtung keine bestimmbare Farbe aufwies, so als sei er der Übergang ins Nichts. Nervös knetete er den kleinen Spalt in seinem schmalen Kinn.

Zeit! Er wünschte sich weniger davon zum Nachdenken, während der Hohe Rat Kharon hinter der großen schallgedämmten Flügeltür zum Konferenzraum durch die Mangel drehte. Seth verfluchte sich für alles Schlechte, was er jemals über Kharon gedacht oder gesagt hatte. Menschen gegenüber mochte er ein sadistisches Schwein sein, aber Seth war er immer ein loyaler Partner gewesen. Mehr als einmal hatte er Seths Arsch aus der Scheiße gezogen. Deshalb war es nicht fair, dass er nun da drinnen für sie beide den Kopf hinhielt. Lieber hätte Seth sein Los geteilt, statt hier zur Untätigkeit verurteilt zu sein. Würde er Kharon überhaupt wiedersehen? Man munkelte, dass der Rat in einigen Fällen schweren Versagens die Unglücklichen gleich bei nächster Gelegenheit stillgelegt hatte.

War das ein gedämpfter Schrei, den er da gerade gehört hatte? Die Kameradrohne surrte geschäftig an ihm vorüber und weiter in den Schatten einer großen Fächerpalme, deren halb verdorrte Blätter sich wie Finger nach ihr ausstreckten. Er folgte ihr mit den Augen.

Unbemerkt von ihm hatte sich die Flügeltür geöffnet, und der Saaldiener stand vor ihm. Augenscheinlich eine Sonderanfertigung. Schmal und hochgewachsen. Eine männliche Statur, doch die leichte Wölbung unter der Brust seines tiefdunkelroten, fußlangen Samtkittels zeigte, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Über der markanten Gesichtsform unter den langen schwarzen Haaren spannte sich eine überaus zarte Haut, und der dezente Bartschatten umrundete ein Paar großzügig geschwungene, üppige Lippen. Zu groß und sanft waren die Augen für einen Mann, für eine Frau wirkte die Nase zu kräftig und zu herrisch.

»Wenn Sie mir dann bitte folgen wollen, Sir.«

Selbst seine Stimme schwankte unentschieden im geschlechtlichen Niemandsland, volltönend und dunkel, glockenhell und lieblich zugleich. Mit katzenhafter Eleganz schritt er voran, in der Hand eine hell brennende Kerze. Seine Finger berührten den langen, massigen Schaft mit einer so ausgesuchten Anmut, als handele es sich um zartestes Porzellan. Seth war von allem anderen kurz abgelenkt und betrachtete ihn mit atemloser Faszination.

Die Flügel der Tür schlossen sich geräuschlos. Jetzt waren das Licht der Kerze und die Züge des Dieners in ihrem Schein fast das Einzige, was noch zu sehen war. Seth folgte ihm dicht auf dem Fuße. Der Boden setzte sich in Bewegung. Weit vor ihnen verriet ein schwacher Lichtschein, dass dies nicht etwa das Nirwana war.

Der Raum war gigantisch. Viel größer als die Halle, in der er sich befand. Ein Meisterstück der quantenmechanischen Faltung. Allein seine Konstrukteure wussten, wie groß er tatsächlich war. Seth hatte ihn nie voll erleuchtet gesehen. Die einzige Lichtquelle, außer der Kerze seines Führers, war die riesige runde Leuchte, die ungefähr hundert Meter vor ihnen über dem jetzt schemenhaft erkennbaren Konferenztisch des Rates schwebte und ein gelbliches Licht ausströmte. Der Rest des Saales war in völliges Dunkel getaucht. Ein Teppich schluckte jedes Geräusch. Wenn man Seth erzählt hätte, sie stünden auf einer kleinen Scholle mitten im All und trieben ihrem Schöpfer entgegen, er hätte es für möglich gehalten.

Mittlerweile zeichneten sich der runde Konferenztisch und die daran tagenden Räte deutlich vor ihnen ab. Die Luft im Schein der Leuchte durchzogen neblige Schwaden. Ab und zu glühte vor dem einen oder anderen ein kleiner orangeroter Punkt auf. In einer Welt, in der man sich an jeder Straßenecke in weniger als einer Stunde eine frische Lunge implantieren lassen konnte, war Tabak fast beliebter als Wasser … und mit Sicherheit einfacher zu bekommen.

Vor dem Rund kamen sie zum Stehen. Kharon saß mit dem Rücken zu Seth. Sein Stuhl stand auf einem kleinen versenkbaren Podest, halb mannshoch, als sei er eine Ware, die es zu begutachten galt. Die Räte saßen schweigend und rauchend da, aller Augen auf den Neuankömmling gerichtet. In seltsamem Kontrast zu ihrer äußerlichen Ununterscheidbarkeit gab jeder Rat ein anderes Bild des Wartens ab. Während einer ständig zwischen drei glimmenden Zigaretten wechselte, lümmelte ein zweiter, die Füße auf den Tisch gelegt. Ein dritter riss einen Papierzettel unaufhörlich in immer kleinere Fetzen. Der Diener berührte ein unsichtbares Sensorfeld an der Tischkante, woraufhin sich eine Lücke in dem Kreis auftat. Mit einem süßlichen Lächeln wies er Seth den Weg. Kaum hatte dieser die Öffnung passiert, schloss sie sich wieder, und das Rund des Konferenztisches begann sich gemächlich in eine kreisende Bewegung zu versetzen.

Seth stellte sich auf das Podest neben Kharon, dessen Profil im Licht der Plasmaleuchte nur ein dunkler Schatten war. Sein Kopf schien leicht zu schwanken. Der Rat mit den drei Zigaretten drückte diese gemächlich nacheinander auf der Glasplatte aus, die die Oberfläche des Tisches bildete, und klatschte dann in die Hände. Sofort hob sich ein Stuhl aus dem Boden. Seth nahm Platz. Während er mit geisterhafter Leichtigkeit auf Kharons Höhe gehoben wurde, schaute er sich noch einmal um. Weit hinten in der Ferne verschwand langsam der Schein einer Kerze. Die Finsternis umgab sie von allen Seiten.

Als sich Seth wieder umwandte, war er überrascht, in Kharons Gesicht zu schauen. Die Augen seines Partners wirkten seltsam leer und erschienen rot geädert. An seinem Kopf waren mehrere Elektroden angebracht. Die Kabel endeten an Kharons Stuhl.

»Gentlemen, willkommen im Limbus.«

Ruckartig drehte sich Seth dem Mann zu, der die Worte gesprochen hatte und jetzt seine makellosen Zähne bleckte. Vor ihm lag das Zepter des Vorsitzenden. Einige der anderen Ratsmitglieder räusperten sich.

»Wie bitte?«, fragte Seth verwirrt.

»Oh, bringen sie euch nichts über die menschliche Kultur bei mit diesen, diesen Lerndrogen … wie heißt das noch mal?«

»Synupticloads!«, sprang einer der anderen Räte ein.

Die Stirn des Vorsitzenden legte sich in amüsierte Falten. »Genau, reizendes Zeug. Na ja, wie auch immer. Es war nur ein kleiner Scherz, nichts als eine alberne Anspielung.«

Seth zwang sich zu einem Lächeln oder jedenfalls zu etwas, das sich danach anfühlte. Neben ihm schien Kharon irgendetwas zu lallen.

Der Vorsitzende stand ruckartig von seinem Platz auf und begann, den Tisch gegen dessen langsame Kreisbewegung mit genussvollen, fast tänzerischen Bewegungen zu umrunden. Seth schwindelte bei diesem Anblick. Ein zweiter der sieben Sitze war leer. Starbuck blieb dahinter stehen. Er legte seine Hände auf die Lehne. Sogar von Seths Position aus konnte man sehen, wie seine Finger das massige Lederpolster einbeulten.

»Ich denke, du weißt, warum ihr hier seid.«

Seth blickte unwillkürlich wieder zu Kharon hinüber. Dessen Blick folgte schwerfällig Starbuck, der nun langsam aus ihrem Gesichtsfeld entschwand.

»Das ist der Stuhl des armen Mr Tashtego, Gott – oder wer auch immer – habe ihn selig. Er würde hier sitzen, wenn nicht die Jäger, in deren, wie ich meinte, fähige Hände ich seine und unser aller Sicherheit legte, bei der Erfüllung dieser Aufgabe so wenig Enthusiasmus gezeigt hätten.«

Starbucks Stimme kam jetzt von hinten. Der Vorsitzende artikulierte die Worte, als schmecke er jedes einzelne davon genüsslich ab, bevor seine Lippen es in die Freiheit entließen.

»Ich und die anderen Räte hier, wir haben den Fall diskutiert, aber wir waren bis jetzt nicht in der Lage, gemeinsam zu klären, wo der Fehler lag, der diese gravierenden Konsequenzen verursacht hat.«

Starbuck war seitlich von ihnen wieder aufgetaucht. Er schenkte ihm und Kharon einen langen, forschenden Blick, bevor er fortfuhr.

»Ich will euch anschaulich machen, was ich meine.« Dann verschwand er eine Weile im Dunkel jenseits des Scheins der Leuchte. Die anderen Räte musterten die zwei, während sie an ihnen vorbeizogen. Ein schleifendes Geräusch war zu hören, bevor der Rücken des Vorsitzenden in Seths Blickfeld erschien. Offensichtlich zog er etwas hinter sich her, eine längliche Gestalt. Seth verrenkte sich den Hals, um der Drehung des Tisches zu folgen, aber für eine Weile befand sich Starbuck erneut im toten Winkel. Als er wieder auftauchte, saß Tashtegos Leiche im Stuhl. Die Hälfte seines Schädeldachs und ein Auge fehlten. Auch der Rest seines nackten Körpers war durch mehrere Schusswunden schrecklich zugerichtet worden.

»Um einmal Bilanz zu ziehen«, dozierte Starbuck. »Das Ergebnis eures Einsatzes sind ein totes Ratsmitglied und ein immer noch nicht gefasster Bruder der Most-wanted-Terroristin. Nicht eben eine Glanzleistung, wenn ihr mir die saloppe Bemerkung gestattet.«

Der Vorsitzende schien wachsendes Vergnügen an der Veranstaltung zu empfinden, während die anderen Ratsmitglieder eher desinteressiert wirkten. Urplötzlich sprang er auf den Tisch und lief gegen dessen Drehbewegung, immer in Seths und Kharons Blickfeld. Die Spuren, die seine Schuhe dabei auf den Unterlagen seiner Kollegen hinterließen, schienen ihn nicht zu bekümmern.

»Dein Partner Kharon lieferte uns eine recht haarsträubende Beschreibung des Ablaufs der Ereignisse. Demnach war er zuerst bei den Terroristen, verpatzte aber deren Gefangennahme, weil ihn seine Waffe im Stich ließ. Du seist erst eingetroffen, nachdem Kharon die Menschen bereits hatte entwischen lassen. Dass seine Effizienz beim Versuch, mich und die anderen Ratsmitglieder zu schützen, ebenfalls einige markante Lücken aufwies, wissen wir nun aus eigener Anschauung, nicht wahr?«

Starbuck gab Tashtegos Leiche im Vorübergehen einen leichten Stups mit den Fingerspitzen, sodass der Kopf beziehungsweise das, was davon übrig war, mit einem widerlichen Schmatzen auf die Tischkante prallte. Statt dort liegen zu bleiben, rutschte er weiter zur Seite und landete schließlich auf dem Boden.

»Ich muss ehrlich sagen, dass die Version deines Partners den Eindruck macht, als ob sie den Anteil deines eigenen Versagens herunterspielen soll, mein lieber Seth. Auch wenn ich zugebe, dass ich nicht recht verstehe, aus welchem Grund er meint, dir diesen rührenden Anfall von Edelmut schuldig zu sein.«

Behände sprang er vom Tisch herunter in die Mitte des Runds, stellte sich direkt vor Kharon und Seth hin und betrachtete sie auf ihren Podesten fasziniert, wie zwei Fliegen hinter dem Schauglas einer entomologischen Sammlung. Mit exaltierter Ratlosigkeit hob er schließlich die Schultern.

»Andererseits ließ ich deinen Partner gerade eben einen wirklich exquisiten Moment kosten. Hast du schon einmal von Robert-François Damiens gehört? Nein? Schade! Nun, der werte Damiens war ein Bewohner des irdischen 18. Jahrhunderts. Berühmt wurde er durch seinen nicht besonders wirkungsvollen Versuch eines Attentats auf Ludwig XV. von Frankreich. Euer Abbild gewissermaßen, nur unter verkehrten Vorzeichen. Wie auch immer: Als Königsmörder kam er in den Genuss einer wahrhaft scheußlichen Hinrichtungsmethode, wie sie eben nur die Humos ersinnen können – nämlich der Vierteilung. Der menschliche Philosoph Foucault hat sie uns in allen grausamen Details überliefert. Unsere Psychurgen haben dies in Form einer Erinnerung aus der Ego-Perspektive nachempfunden und in einem Memplantat verewigt. Dein Kollege durfte es als Erster testen und ist selbst dann noch bei seiner Version geblieben, als ihm sein geistiger Scharfrichter Arm- und Beinsehnen durchtrennte, weil ihn sechs Pferde nicht zerreißen konnten.«

Starbuck lächelte Kharon versonnen an, bevor er fortfuhr.

»Nach unserem Ermessen hat er damit wohl zur Genüge unter Beweis gestellt, dass er die Wahrheit sagt. Dennoch wollten wir auch dir zumindest die Möglichkeit geben, seine Version zu ergänzen, falls du sie für ergänzungswürdig halten solltest.«

Starbuck sprang fast ohne Anlauf über den Tisch und nahm seinen Platz ein. Seth war bemüht, seiner Überraschung Herr zu werden. Warum hatte sein Partner alles auf sich genommen? Er musste das richtigstellen und öffnete schon den Mund. Ein leises Stöhnen neben ihm ließ ihn sich zu Kharon umdrehen. In dessen Augen schien der ganze Schmerz zu liegen, den er gerade ertragen hatte – aber auch noch etwas anderes war da, eine stumme Bitte: TU ES NICHT!

Seths Mund klappte hilflos zu.

»Nun?«

Starbucks Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Seth rang ein paar Momente um Fassung. Immer noch spürte er, dass Kharons Blick auf ihm ruhte. Nur mühsam kamen ihm die Worte über die Lippen.

»Alles ist ganz so, wie Kharon es gesagt hat, Vorsitzender.«


»Was hat sie vor?«

Dragan, der die Frage schon dreimal ergebnislos gestellt hatte, hielt Lasse am Kragen fest.

»Keine Ahnung. Ich bin nur ihr Bruder. Das heißt nicht, dass ich ihre Gedanken lesen kann, okay?«

Ärgerlich riss sich Lasse los und setzte seinen Weg durch den feuchten Tunnel fort. Höhle wäre ein besseres Wort gewesen. Hier waren die Wände nicht mehr glatt gehauen. An den Felsen glänzte überall eine schmierige Feuchtigkeit. Der Hall ihrer Schritte verlor sich weit vorne in der Dunkelheit jenseits des Scheins der schweren Leuchte, die er trug.

»Sie sucht diesen Jäger, diesen Finn … oder wie er heißt«, murmelte Dragan finster.

»Und wenn schon«, entgegnete Lasse trotzig.

»Ich sage es dir noch einmal. Diese Jack-in-der-Wüste-Geschichte ist doch Bockmist. Sie wird uns nur alle in Gefahr bringen.«

»Es war definitiv Finn Lansing«, beharrte Lasse. »Ich habe ihn erkannt. Tessa und er waren ein Paar, vor der Rebellion.«

»Ach. Noch besser. Sie rennt diesem Novaten hinterher, weil er aussieht wie der Typ, der sie früher gebumst hat.«

Lasse fuhr herum. »Halt die Klappe, ja?«

Die Laterne in seiner Hand zitterte. Auf den Tunnelwänden tanzten seltsame Schatten. Dragan lachte.

»Ist so ein Geschwister-Ding, nicht? Hey, gewöhn dich daran. Deine Schwester ist heiß. Ein echtes Talent im Bett. Davon kann ich ein Lied singen, weißt du?«

»Lügner. Halt endlich dein gottverdammtes Maul!«

»Jetzt komm mal runter, Kleiner. Verstehst du keinen Spaß?«

»Pst. Sei still. Ich glaube, ich höre ein Geräusch.«

Dragan verstummte augenblicklich. Die beiden lauschten in die Dunkelheit. Es dauerte etwas, dann ertönte ein leises Quietschen.

»Eine Ratte, du kleiner Trottel«, lachte Dragan.

»Nein, ich habe etwas anderes gehört. Es klang wie eine Stimme.«

»Sind wir hier überhaupt richtig?«

Lasse zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Wir müssten eigentlich längst beim Bunker sein. Vielleicht ist das Memplantat verblasst.«

»Dann frisch es auf, Junge.«

Lasse seufzte. Er hasste das Aufspielen von Memplantaten, aber es stimmte. Ohne Orientierung konnte man sich im Untergrund der Polis rettungslos verirren. Hier gab es noch andere Bewohner als die Rebellen. Es hieß, dass manche Menschen für immer untergetaucht waren und tief unter der Erde ein kärgliches Dasein fristeten, von gelegentlichen Streifzügen nach Nahrung an die Oberfläche unterbrochen.

Lasse griff in den Stoffsack, der an einem Riemen über seiner Schulter hing. Nach einer Weile hatte er die beiden Elektroden gefunden. Er befeuchtete die Kontaktstellen mit seiner Zunge und setzte sie sich an die Stirn. Dann brachte er das Gerät, das sich am anderen Ende der Kabel befand, in Gang. Ein schwaches Kitzeln dort, wo die Elektroden auf der Haut saßen, kündigte die Übertragung der gespeicherten Erinnerung an. Sekunden später erschienen die Bilder des Weges vor seinem geistigen Auge, allerdings aus einer ungewohnten Perspektive. Der Rekorder musste ein größerer Mann gewesen sein.

»Das kommt mir nicht bekannt vor. Ich glaube, wir haben uns verlaufen.«

»Warum nur vertraue ich mich einem Kind an?«

»Ich bin kein Kind mehr, und übrigens hast du dieselbe Erinnerung aufgeladen. Also: Wo ist eigentlich dein Orientierungssinn geblieben?«

»Es reicht. Ich mache jetzt eine Peilung, Kleiner.«

»Die Novaten werden dein Signal auffangen.«

»Bis die hier ankommen, sind wir über alle Berge.«

Dragan zog ein Funkpeilgerät aus einer seiner Beintaschen. Ein vorsintflutliches Modell, wie es oben bei den Novaten kaum noch zu sehen war. Aber hier, etliche Meter unter der Erde, wohin keines der Kommunikationsnetze der Oberfläche reichte, war es genau das Richtige. Die Peilung setzte sich mit einem Piepen in Gang. Angespannt warteten sie ein paar Augenblicke.

Dann ertönte eine sanfte weibliche Stimme: »9 Grad, 1 Minute und 4,78 Sekunden südlicher Breite und 239 Grad, 9 Minuten und 2,36 Sekunden östlicher Länge.«

»Eine hundertstel Sekunde zu weit östlich. Das sind etwa fünfhundert Meter vom Bunker unter dem Alexanderplatz«, errechnete Dragan. Geografie schien eine der wenigen Sachen zu sein, in denen er brillieren konnte.

»Vor ungefähr dreihundert Metern ging eine kleine Abzweigung nach Osten. Kann sein, dass ich dort eine Markierung übersehen habe«, meinte Lasse.

»Dann lass uns schnell … Autsch, verdammt!« Dragan griff sich an die Schulter.

»Was ist?«

»Etwas hat mich getroffen. Ich glaube, es kam von oben.«

Lasse richtete den Strahl seiner Lampe in die Richtung, die Dragan ihm wies … und erstarrte. Über ihm – an der zerklüfteten Decke der Höhle – hing ein Augenpaar.

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