Читать книгу Megapolis - Thomas Elbel - Страница 9

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Seth zerrte das dünne Sylonlaken von seiner Haut. Es war schweißnass. Zum gefühlten hundertsten Mal, seit er vor einer kleinen Ewigkeit nach Hause gekommen war, wälzte er sich auf die andere Seite. Die Klimaanlage atmete kalte Wehen auf seinen feuchten Rücken. Draußen kroch langsam und beharrlich das erste Licht des Tages über den Kraterrand in die Endlosigkeit der schneebedeckten Straßenschluchten. Seine Hand betastete die Sensoren auf der Oberfläche seines Nachttisches. Ein künstlicher Schatten verdunkelte die Glashaut, die sein Apartment von der Außenwelt abgrenzte. Nach wenigen Augenblicken war Phobos’ leuchtende Mondsichel das Einzige, das noch durch den Filter drang. Er drehte sich um und starrte aus schweren Lidern in die weite Dunkelheit seines Zimmers. Eine unsichtbare Uhr zählte Sekunden, die sich zu Minuten dehnten, und diese wiederum wurden zu Stunden. Gesichter aus der vergangenen Nacht flackerten vor seinem inneren Auge auf und verschwanden wieder.

Im namenlosen Niemandsland zwischen Wachen und Schlafen wollte Seth zuerst auch den blauen Schemen, der plötzlich neben seinem Bett aus dem Boden wuchs, für ein Traumgebilde halten. Doch sein Realitätssinn hatte ihn noch nicht vollständig verlassen. Der Schemen war nun zum Modell eines gesichtslosen männlichen Körpers emporgewachsen. Ein Holotar, den das Kommunikationssystem seines Apartments hierher projizierte. Irgendwer versuchte, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Regungslos drehte sich das leuchtende Bild vor Seths Augen in einem langsamen Kreis, während seine Helligkeit in regelmäßigen Intervallen pulsierte.

Seths Finger glitten unbeholfen über das Sensorfeld und stießen dort auf unerwarteten Widerstand. Mit dumpfem Klirren fiel ein Glas auf den Teppich. Süßlicher Whiskeygeruch stieg empor. Er fluchte und setzte sich halb auf. Diesmal fand seine Hand den richtigen Punkt. Unvermittelt nahm das Gesicht des Holotars Züge an, die ihm nur allzu bekannt waren. Und dann begann er zu sprechen: »Wach auf, du elende Eule. Es ist schon fünf.«

Kharons Stimme triefte vor Spott. Offensichtlich bereitete es seinem Partner großes Vergnügen, den Wecker zu spielen.

»Fünf? Bist du jetzt völlig irre? Das ist doch mitten in der Nacht.«

Auf Seths Befehl hin zog sich die Pigmentierung wieder aus dem Glas zurück. Das morgendliche Sonnenlicht schmerzte in seinen Augen und strafte ihn Lügen. Sofort passte der Holotar seines Partners seine Helligkeit den Verhältnissen an.

»Oh, Eure Majestät sind wohl etwas zerknittert. Ich bitte untertänigst um Verzeihung.« Der Holotar verfiel in einen Ausdruck gespielten Mitleids.

»Was ist das da auf dem Teppich? Hast du etwa gekotzt?«

Seth wurde bewusst, dass der visuelle Kanal offen war. Hastig zog er sich das Laken über seine nackte Mitte. Dann drehte er der Kamera den Saft ab.

»Oh, bitte schalte die Bildübertragung wieder ein. Orion hat behauptet, du hättest den größten Schwanz der gesamten Abteilung. Ich habe dagegengehalten. Lächerlich. Jeder weiß, dass du gegen mich keine Chance hast.«

»Was willst du eigentlich von mir?«

Seth rieb sich die pochenden Schläfen. Das Gesicht des Holotars verwandelte sich in eine Grimasse gekünstelter Ernsthaftigkeit.

»Schön zu sehen, dass du bei deinen nächtlichen Ausschweifungen deinen Job noch nicht ganz vergessen hast.«

»Komm zum Punkt, verdammt!«

»Starbuck beruft die Jäger ein.«

Seth schoss jähe Wärme ins Gesicht. Mit einem Schlag war er hellwach. »Starbuck?«

»Du hörst richtig, mein Freund. Der Kaiser aller Reußen, der Meister der Meister, der große Ratsvorsitzende höchstpersönlich.«

Seth versuchte, seine Überraschung herunterzuschlucken. »Jäger? Welche?«

Der Holotar schwieg vielsagend, während er fortwährend um die eigene Achse kreiste.

»Doch nicht etwa alle?«, fragte Seth atemlos.

Das Grinsen, zu dem sich der Mund des Holotars verzog, war Antwort genug. Seth überlegte angestrengt. Er konnte sich an keine Gelegenheit während seiner ganzen Dienstzeit erinnern, bei der man die gesamte Gilde auf einmal einberufen hatte. Die meisten seiner Kollegen kannte er überhaupt nicht, und das aus guten Gründen.

»Was will Starbuck von uns?«

»Ich dachte schon, du fragst mich gar nicht mehr.« Kharon – oder vielmehr das Gesicht seines Holotars – grinste noch breiter.

»Und?«

»Ich – habe – keine – Ahnung.« Genüsslich betonte Kharon jedes Wort.

Seth starrte ärgerlich auf den Schemen, auf dessen Lippen das Grinsen jetzt zu pixeligem Eis gefror. Diese Art von seltsamem Humorverständnis war für seinen Partner typisch.

»Du weißt nichts? Ich meine, wirklich überhaupt nichts?«, hakte Seth nach.

»Man sagt, es sei bis auf Weiteres geheim.«

»Ach, komm! Ich glaube dir kein Wort.«

Kharon war für seine guten Kontakte bekannt, die angeblich bis in den Rat selbst reichten.

»Na ja, es gibt Gerüchte. Irgendein Informant soll die für den Anschlag in den vatikanischen Museen Schuldigen aufgescheucht haben.«

»Jetzt schon? Der Anschlag war doch erst vorgestern. Warum hat mich die Abteilung nicht direkt benachrichtigt?«

»Sie haben’s versucht. Aber du warst nicht greifbar. Dein Tectoo muss inaktiv gewesen sein.«

»Mist.«

Seth erinnerte sich. Auf der Party gestern hatte er mit der Gastgeberin geflirtet. Diese besoffene Kuh hatte einen Ecstasita flambiert und dann beim Digisex über seinem Ärmel ausgekippt. Zwar konnte er sich nicht daran erinnern, dass er sich dabei verbrannt hatte, aber vielleicht hatte sein Tectoo doch etwas abbekommen.

»Wann ist das Treffen?«

»In einer halben Stunde.«

»Was?« Seth sprang auf. Das Laken glitt über seine Schenkel nach unten. »Das schaffe ich nie. Kannst du mich abholen?«

»O nein, Partner. Bin fast am Hradschin. Sorry, aber das ist dein Problem.«

»Aber …« Seth machte einen Schritt auf den Holotar zu, als etwas unter seinem Fuß zerbrach. »Au, verdammt.«

»Was ist los? Alles in Ordnung?«

»Ja, ja«, knirschte Seth.

»Okay, Partner! Ich sehe dich im Hauptquartier.«

»Fahr zur Hölle.«

Der Holotar schrumpfte und verschwand schließlich. Seth ließ sich zurück auf die Matratze fallen und hob seinen linken Fuß nach oben, aus dessen Sohle eine Scherbe von veritabler Größe ragte. Vorsichtig zog er sie unter einigem Zähneknirschen heraus. Auf einem Bein hüpfte er zum Fenster hinüber. Es war gleißend hell. Die Sonne stand bereits einen Fingerbreit über dem Horizont.

Mit einer Hand lehnte er sich an die Scheibe und sah unwillkürlich nach unten. Obwohl das Gewirr der Leipziger Straße nur zwanzig Stockwerke tiefer war, schien die Glashaut des Gebäudes unmittelbar vor seinen Zehen in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Kleine Hovers zogen an seinem Fenster vorbei.

Das monströse Newsboard auf dem Dach gegenüber blendete eine Zeitungsschlagzeile ein: »Zahl der Toten erhöht sich auf 44 – Rat ruft Bevölkerung zur Einigkeit im Kampf gegen die menschlichen Terroristen auf«.

Das war der Anschlag im Vatikan, von dem Kharon gesprochen hatte. Der schwerste in zwei Jahren. Seth ergriff seinen Fuß und betrachtete ihn im Licht der Sonne. Ein tiefer Schnitt. Unablässig rann das Blut an seiner Fußsohle herunter und tropfte auf den weißen Teppich. Fluchend hüpfte er zu den Marmorfliesen hinüber und von dort aus die Stufen zum Flur hinauf, von dem das kleine Badezimmer abging. Auf dem Badewannenrand sitzend, ergriff er den Mediscanner und zog ihn über den Fuß. Einige Momente später ertönte eine sanfte Stimme.

»Schnittwunde. Sechs Zentimeter Länge. Durchschnittliche Tiefe: fünf Millimeter. Glatte Ränder. Keine Fremdkörper. Therapievorschlag: Desinfektion. Fibrinverklebung durch medizinisches Personal. Bandage. Ruhigstellung für mindestens einen Tag.«

»Na klar. Danke fürs Gespräch«, grunzte Seth, öffnete den kleinen Schrank über dem Waschbecken und angelte einen Wundverband aus dem untersten Fach. Die Windungen zog er so stramm um seinen Fuß, wie es nur möglich war. Sofort breitete sich ein roter Fleck auf dem weißen Gewebe aus.

»Was mich nicht umbringt …«, murmelte Seth.


Einige Minuten später stand er im Lift nach unten. Sanft kam die Kabine zum Stehen. Die Türen öffneten sich in die weite Lobby. Er schob das Drehkreuz der Sicherheitsschleuse mit seinem Oberschenkel zur Seite und ging an der Theke des Concierge vorbei.

»Wieder auf den Beinen, Sir?«, erklang es hinter ihm mit nasal gefärbter Häme.

Seth brummte unwillig. Die Flügel der Glastür glitten zur Seite. Der Lärm des Verkehrs auf der Leipziger Straße, der bis eben nur ein schwaches Hintergrundgeräusch gewesen war, brauste nun mit nervtötender Geschäftigkeit in seinen Ohren. Wie übergroße Insekten schwirrten die Hovers weit oben über den Dächern umher. Sein Fuß pochte. Vor ihm blinkten die Symbole einer Rufsäule.

Er beschloss, dass ein Hover-Taxi die einzige Möglichkeit war, noch halbwegs pünktlich im Hradschin anzukommen, auch wenn es ihn ein kleines Vermögen kosten würde.

Er berührte die Schaltfläche mit dem geflügelten »T« und starrte ungeduldig in den klaren, kalten Himmel, während vor und hinter ihm unzählige Passanten über die dünne Schneedecke ihrem Tagewerk entgegenstrebten. Kurze Zeit später senkte sich der dunkle Umriss eines Hovers über ihm herab. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Die Fußgänger drückten sich an die Wand, als das Taxi langsam und mit lautem Sirren auf dem breiten Bürgersteig direkt vor ihm landete. Eine Tür klappte nach oben, und Seth glitt auf die Rückbank.

Der Fahrer ließ sein feistes Gesicht neben der Kopfstütze erscheinen. »Wo soll’s hingehen, Boss?«, tönte er mit gutturaler Behäbigkeit.

»Hradschin.«

»Oh.« Zwei buschige Augenbrauen, die eine haarige Brücke zu einem zyklopischen Gesamtorgan vereinigte, beschrieben einen anerkennenden Bogen. »Sie sind Regierungsbeamter. Hab ich gleich erkannt. Gleich, wie Sie eingestiegen sind, hab ich mir gedacht, Fafnir, hab ich mir gedacht, das ist ein Mann mit Klasse. Unsereiner hat ein Auge für so was.«

»Ja, ja, könnten Sie bitte starten? Ich muss in zehn Minuten da sein.«

»Zehn Minuten? Das ist knapp, Sir. Aber keine Angst, der alte Fafnir kennt ein paar Schleichkorridore.«

Er wälzte sich näher an seine Instrumente heran. Das Hover heulte auf und zitterte, bevor es erst langsam und dann immer schneller an den tristen Fassaden vorbei in die dünne Luft über den Dächern entschwebte. Seth sah die Leute auf der Leipziger Straße unter sich kleiner werden. Nachdem das Hover die ihm zugewiesene Ebene erreicht hatte, drehte es sich in den Einstiegsvektor und setzte die Bewegung in der Waagerechten fort.

Neben, über und unter ihnen zogen andere Hovers ihre mal mehr, mal weniger gemächlichen Bahnen auf unsichtbaren Korridoren. Die Stadt erstreckte sich in jeder Richtung bis zum Horizont. Nur dort, wo die Sonne stand, konnte man den Kraterrand ausmachen, der die Polis rundherum begrenzte. Die Leipziger Straße war jetzt nur noch eine von vielen kleinen Nebenstraßen in der gigantischen Stadt. Ein monströser Ameisenhaufen. Hier oben konnte man sich kaum vorstellen, dass irgendeiner dieser winzigen beweglichen Punkte auf dem Boden seine Existenz für maßgeblich hielt.

Im Norden, weit hinter dem Kraterrand, erahnte Seth jetzt die majestätische Silhouette des Olympus Mons. Selbst aus dieser Distanz war der Berg, dessen Grundfläche ein Hundertfaches des Stadtgebietes betrug, gewaltig. Noch immer stand Phobos’ blasse Sichel am Himmel, während das volle Rund seines Zwillingsmondes Deimos einige Grade links davon langsam am Horizont auftauchte.

Auf allen Flugebenen herrschte zu dieser Zeit starker Verkehr. Hovers der verschiedensten Typen zogen, einem unsichtbaren System folgend, ihre streng waagerechten Bahnen. Zuweilen erschien es ihm unvorstellbar, dass man diese Myriaden von Fluggeräten im Luftraum über der Polis überhaupt sinnvoll koordinieren konnte, aber offensichtlich funktionierte es. Das Taxi überflog in einem weiten Bogen die Grenze des Berliner Viertels. Abrupt änderte sich die Architektur der Gebäude. Vor ihnen zeichnete sich deutlich Manhattans Skyline ab.

»Wichtige Geschäfte, was, Boss?«

Seth wünschte, der Mann würde einfach seine Klappe halten. Er sah auf die Uhr. Das Meeting begann jede Minute, und vom Prager Viertel trennten sie noch mindestens vier weitere Bezirke.

»Hat bestimmt mit dem Anschlag zu tun, richtig, Boss?«

Seth sah verblüfft nach vorn. Sofort bedauerte er seinen Mangel an Selbstkontrolle, als seine Augen sich mit denen des Taxifahrers im Rückspiegel trafen. Der Mann hatte seine Antwort.

»Diese verdammten Menschen, Boss. Ich meine, nicht genug, dass sie unsereinen all die Jahre versklavt und unterdrückt haben. Nein, sie können nich mal ’ne verdammte Niederlage eingestehen, sogar dann noch nich, als der Rat ihnen nach der Rebellion das Friedensangebot gemacht hat.« Er unterstrich seine Ausführungen mit einem empörten Schnauben.

Seth lächelte grimmig. Als Mitglied der Menschenjäger wusste er es besser. Das sogenannte Friedensangebot des Rates war nur eine schlecht verhohlene Täuschung gewesen. Dadurch hatte man die paar Hundert Menschen, die die Rebellion der Novaten überlebt hatten, dazu bringen wollen, aus dem Untergrund aufzutauchen. Natürlich nur, um auch sie internieren und töten zu können.

»Haben Sie schon einmal echte Menschen gesehen, Boss?«

Seth nickte knapp, in der vagen Hoffnung, die Neugier seines Chauffeurs dadurch zu befriedigen. Ein Irrtum.

»Und wie sehen sie aus?«

Verblüfft starrte Seth in das Paar kleiner Augen, das ihm erwartungsvoll aus dem Rückspiegel entgegenleuchtete. »Wie meinen Sie das?«

»Na ja, ich kenn da einen Kollegen, der meint, er wäre dabei gewesen, wie die Jäger einen von ihnen festgenommen haben. Der Typ war riesig und hässlich wie ’ne Spinne, und er hatte so ganz lange Zähne.«

Seth konnte nicht glauben, wie bereitwillig die Bevölkerung die Schauergeschichten aufsog, die der Rat über die gleichgeschalteten Medien ausstreuen ließ, um die Menschen zu dämonisieren. Vor allem, wenn sie offensichtlich jeglicher Logik entbehrten.

»Das ist Unsinn. Die Menschen sehen aus wie Sie und ich. Immerhin haben sie uns nach ihrem Vorbild erschaffen. Und außerdem … Gesetzt den Fall, sie wären so anders als wir, wie könnten sie sich dann immer noch vor uns verstecken?«

Der Taxifahrer pfiff anerkennend durch die Zähne. »Ich seh schon. Sie kennen sich aus, Boss.«

Der Mann verfiel in einen ehrfürchtigen Flüsterton. Seine kleinen Augen blitzten im Rückspiegel vor Neugier. »Am Ende sind Sie noch einer von diesen, von diesen Jägern.«

Seth verfluchte ein weiteres Mal seinen Mangel an Vorsicht und seine Geschwätzigkeit. Ab jetzt galt es, sich zusammenzureißen.

»Nein, nein«, erwiderte er kopfschüttelnd, »ich bin bei der Steuerverwaltung, und es wäre schön, wenn Sie ein wenig Gas geben könnten.«

»Oh.« Der Fahrer blickte jetzt etwas enttäuscht drein. Das währte indes nur eine Sekunde, bevor er wiederum in die Leutseligkeit verfiel, die eine unvermeidliche Dreingabe seiner aufdringlichen Präsenz zu sein schien. Gleichzeitig ließ er den Motor hörbar aufheulen. Allerdings musste Seth sich eingestehen, dass dies bei dem Verkehr, in dem sie sich augenblicklich befanden, nur eine symbolische Geste war.

»Verstehe, Sir. Na ja, kann ja nicht jeder ein Held sein.«

Versonnen schwieg der Chauffeur einen Moment lang. Seth wollte innerlich schon aufatmen, doch das wäre zu früh gewesen. Die feiste Körperfülle des Fahrers quoll bedrohlich über den Sitz, als er sich nach hinten beugte und im Verschwörerton flüsterte: »Ich verrate Ihnen jetzt mal ein Geheimnis, Boss.«

Bedeutungsvoll riss er die Augen auf, bevor er sich erneut nach vorn drehte. »Hab nämlich mal einen Jäger gefahren.«

Als könnte Seth Zweifel an dieser sensationellen Enthüllung haben, fuhr der Fahrer fort: »Aber nich irgendeinen. Den besten von allen … Seth 2097. … Sie wissen doch, Boss … der, der neulich in den Etherstreams war wegen seines einhundertsten Abschusses. Hab den Stream aber verpasst. Hatte grad Nachtschicht. Aber meine Lilly hat’s aufgezeichnet, und wir haben’s zum Frühstück angeschaut. Is’ ’n hübscher Kerl, hat sie gesagt. Ich war fast ’n bisschen eifersüchtig, aber ich meine … wer kann sich mit dem schon vergleichen?« Der Mann lachte meckernd.

Seth rückte in die Mitte der Rückbank, wo das Dach einen Schatten auf ihn warf. »Ich glaube, ich hab auch schon von ihm gehört«, murmelte er leise.

»Wahnsinnstyp, Boss. Der dicke Heimdall, das is’ mein Kollege, hält zwar mehr auf seinen Partner, diesen Garvon … oder wie der heißt.«

Seth biss sich auf die Zunge. Er musste sich eingestehen, dass es ihm eine gewisse Freude bereitete, Kharons Namen so vergewaltigt zu hören.

»Aber allein zehn von dem seinen neunzig Abschüssen waren in Wirklichkeit ein Granatenwurf in einen geschlossenen Raum.«

Der Fahrer schlug sich amüsiert auf die fetten Schenkel. Seth musste unwillkürlich in sich hineingrinsen. Kharon litt regelrecht unter diesem Makel, der auf seinem Image lag, auch wenn beide wussten, dass das alles reine Propaganda war – gestrickt, um die Menschenjagd wie eine Sportart von edler Vornehmheit wirken zu lassen, in der echte Männer voller Ritterlichkeit um die Sicherheit des Planeten wetteiferten.

»Ich meine, das is’ doch nich dasselbe.«

»Könnten Sie jetzt endlich ein wenig Stoff geben. Wenn ich es richtig erkenne, sind wir gerade über Madrid und noch zwei Bezirke vom Hradschin entfernt.«

»Klar, Boss. ’tschuldigung.« Schnaufend wischte sich der Fahrer die feiste Stirn. Das Taxi sank auf einen tieferen Korridor, auf dem sich weniger Fahrzeuge bewegten. Seth lehnte seinen Kopf an die Scheibe. Unter ihnen zog das leuchtend weiße Rechteck des Palacio Real vorüber. Eine Viertelstunde später senkte sich das Hover zwischen die Passanten auf dem Hradschiner Platz.


Mit behutsamer Geräuschlosigkeit betrat Seth das mächtige Geviert des Wladislaw-Saals. Die Sonnenstrahlen hatten noch nicht ihren Weg durch die meterhohen Fenster an der Südseite der Halle gefunden, und so lag das gotische Gewölbe im Zwielicht. Der Vorsitzende hinter seiner Kanzel auf dem Podium schien Seths späte Ankunft nicht zu bemerken. So unauffällig er nur konnte, schlich er in den Raum. Er hatte Kharons mittelblonden Kurzhaarschnitt und den leeren Stuhl an seiner Seite schon von der Tür aus erkannt. Dutzende neugieriger Augenpaare begleiteten Seths Weg, während vorne auf der Rednertribüne Starbuck unbeirrt seine Ansprache fortsetzte:

»… seltsam erscheinen, dass ich euch in dieser großen Zahl zusammenrufen ließ. Auch werden sich nicht wenige wundern, dass nun ich an dieser Stelle stehe und nicht einer eurer direkten Vorgesetzten. Aber besondere Umstände, von denen ich sogleich berichten will, rechtfertigen dieses ungewöhnliche Vorgehen.«

Starbuck machte eine kurze Pause und ließ seine Augen über die Reihen gleiten. Auch die anderen sechs Ratsmitglieder behielten von ihren barocken Lehnsesseln aus das Publikum fest im Blick. In der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, hielt Seth im Schatten eines an die Wand gelehnten Stützpfeilers inne. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor alle Mitglieder der Marsregierung gemeinsam gesehen zu haben. Wahrlich, es war eine bizarre Szene. Sieben völlig identische Männer. Ihr Anblick war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Die große, kräftige Statur. Die extravagante Aufmachung. Das Bemerkenswerteste an ihnen aber waren ihre pechschwarzen Augen. Keine Seelenfenster, eher finstere Mahlströme, die ihrer Umgebung das Licht zu entziehen schienen.

Starbuck deutete mit einer knappen Geste das Ende seiner Pause an. Langsam setzte Seth seinen Weg an der Wand entlang fort. Noch trennten ihn zwei Dutzend Meter von Kharon.

»Ich darf darauf vertrauen, dass ihr alle über den Anschlag in den vatikanischen Museen informiert wurdet. Mit den grausamen Details will ich euch daher nicht belästigen, da ihr ohne Zweifel die Presseberichte verfolgt habt, wenn ihr nicht ohnehin selbst in die Ermittlungen involviert gewesen seid. Es steht wohl völlig außer Zweifel, dass ein Attentat von solchem Ausmaß nicht ohne Kenntnis und Beteiligung der Führungsspitze der Aufständischen erfolgt sein kann. Ja, es gibt sogar unwiderlegbare Erkenntnisse darüber, dass der Anschlag von Tessa höchstpersönlich geplant wurde.«

Augenblicklich erhob sich ein vielstimmiges Raunen im Saal. Wieder und wieder war der Name der berüchtigten Anführerin der Terroristen aus dem allgemeinen Flüstern herauszuhören. Selbst Seth durchfuhr ein vager Schauer. Sogar jenseits aller Ratspropaganda stand dieser Name für Hunderte von Toten und Verletzten. In den wenigen Jahren, seit die Novaten das Joch der menschlichen Herrschaft abgeworfen hatten, führte sie einen grausamen Kampf gegen die neuen Herren des Planeten. Es war kaum vorstellbar, dass eine einzelne Person die Verantwortung für so viel Leid und Grauen trug.

»Ich verstehe die Empörung. Doch ich bitte euch, mir noch ein paar Minuten eure Aufmerksamkeit zu schenken.«

Das Flüstern erstarb augenblicklich. Seth war jetzt keine zwanzig Meter von dem leeren Platz neben Kharon in der dritten Stuhlreihe entfernt. Allerdings befand sich dieser fast auf der anderen Seite der Halle vor einem der Fenster. Vorsichtig löste sich Seth aus dem Schatten der Wand, während vorne der Vorsitzende seine Rede fortsetzte.

»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen, denn es gibt bei alledem auch großartige Neuigkeiten. Die Ermittlungen haben uns unerwartet direkt in Tessas Umgebung geführt. Es sieht so aus, als ob die Menschen einen weiteren, ganz ähnlichen Anschlag vorbereiten, und zwar anlässlich der öffentlichen Exekution einiger gefangener Terroristen im Stephansdom. Wir wissen aus zuverlässigen Quellen, dass ein kleines Team von Menschen versuchen wird, Bomben in die Veranstaltung zu schmuggeln. Aus unseren Ermittlungen hat sich nicht nur der Zeitpunkt des Anschlags, sondern auch die Zusammensetzung des Teams ergeben, das ihn ausführen wird.«

Hier und da waren Laute des Erstaunens zu hören. Das war in der Tat ein großer Erfolg. Seth begann seinen mühsamen Weg durch die engen Reihen. Sein verletzter Fuß stieß gegen ein Stuhlbein, und er konnte nur mit Mühe einen Schmerzenslaut unterdrücken.

»Es sieht so aus, als sei einer der Attentäter Tessas eigener Bruder. Nur für diejenigen unter euch, die ihre Ment-O-Drills in Menschenkunde noch nicht vollständig absorbiert haben: Die Menschen werden nicht im Wege kontrollierter maschineller Fabrikation vermehrt, sondern durch sexuelle Vereinigung zweier verschiedengeschlechtlicher Individuen. Die Zufallsprodukte dieser Vereinigung verlassen die Brutstätte schon vor Beendigung ihrer Reifung. Von den Menschen selbst werden sie als Kinder bezeichnet.« Starbuck sprach das Wort aus, als handle es sich um eine verabscheuungswürdige Krankheit. »An dem mangelhaften Grad ihrer Ausreifung sind sie leicht zu erkennen. Kinder derselben Erzeuger – oder Geschwister, wie die Menschen sie nennen – pflegen untereinander ein besonderes emotionales Näheverhältnis. Insofern bedeuten unsere Ermittlungsergebnisse einen großen Fortschritt in den Bemühungen um Tessas Verhaftung und die Zerschlagung des menschlichen Terrorismus.«

Ein Raunen setzte ein, das Starbuck jedoch abermals mit einer knappen Handbewegung zum Verstummen brachte. Kharon, von dem Seth inzwischen noch etwa fünf Stühle entfernt war, hatte ihn jetzt erspäht und winkte ihn mit einer unauffälligen Geste zu sich.

»Und das führt mich zu meinem Anliegen. Natürlich hoffen wir, dass uns Tessas Bruder zu ihr führen kann. Allerdings steht kaum zu erwarten, dass er es freiwillig tun wird. Auch das Instrument der Folter hilft in solchen Konstellationen erfahrungsgemäß wenig. Nach Rücksprache mit der Führung eurer Abteilung sind der Rat und ich daher zu dem Ergebnis gekommen, dass uns dieser Bruder nur dann zu Tessa führen wird, wenn er es selbst gar nicht bemerkt. Eure Kommandanten haben hierzu einen aus Sicht des Rates recht erfolgversprechenden Plan entwickelt, der dem Ausführenden allerdings ein gewisses Risiko aufbürdet.«

Kharon grinste Seth aus schmalen blauen Augen spöttisch von unten herauf an, bevor er seine Beine leicht zur Seite schwenkte, um ihm den Weg freizugeben.

»Doch dafür brauche ich einen unerschrockenen Freiwilligen aus euren Reihen.«

Seth, der endlich vor seinem Stuhl stand, drehte sich erleichtert zur Bühne, um Platz zu nehmen. Kurz wandte er seine Augen nach oben zum Podium. Sofort bemerkte er, welchen Fehler er damit begangen hatte. Zwei schwarze Abgründe kreuzten seinen Blick. Starbucks Lächeln jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

»Danke, Jäger Seth. Ich hatte gehofft, dass du derjenige sein würdest.«


»Auf gar keinen Fall.« Ihre schwarzen Locken zitterten vor Erregung. »Das werde ich niemals zulassen. Niemals. Er ist noch viel zu jung. Sechzehn. Die Novaten würden ihn sofort erkennen.«

»Ach, reg dich ab. Wir schminken ihn halt ein bisschen, kleben ihm einen Bart an oder so.«

Die Luft in Tessas Arbeitsraum war so warm und dicht, dass man sie hätte schneiden können. Selten waren ihr die Wände aus nacktem Beton enger vorgekommen. Dragans hünenhafte Gestalt hatte sich jetzt halb zwischen Tessa und ihren kleinen Bruder geschoben, der auf einem Stuhl saß und auf den fleckigen Estrich starrte, als ginge ihn die Unterhaltung nichts an. Sie verspürte den Drang, sich Lasse zu schnappen und ihm den Hintern zu versohlen. Doch das war Unsinn. Es war ganz sicher Dragan, ihr Quasistellvertreter, der ihm diesen idiotischen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Sie fragte sich nur, was sich Dragan davon versprach. Wollte er sie unter Druck setzen? Sein Einfluss in der Führung des menschlichen Widerstands wuchs von Tag zu Tag. Den Bombenanschlag in den vatikanischen Museen hatte er gegen ihren Willen durchgesetzt. Ihren eigenen Vorschlag der Entführung eines Ratsmitglieds hingegen hatten die anderen regelrecht vom Tisch gewischt. Seit einiger Zeit gewannen die radikaleren Kräfte im menschlichen Widerstand stetig an Einfluss, was nicht zuletzt auf das immer grausamere Vorgehen der Novaten zurückzuführen war. Fast schien es, als spielten die Novaten den glühendsten Fanatikern unter ihren Feinden absichtlich in die Hände. Dragan war definitiv einer von diesen Fanatikern.

Am Ende war der Anschlag zu genau dem Massaker geworden, das Tessa befürchtet hatte. Niemand konnte es der Novatenpresse nun noch verdenken, wenn sie schrieb, die Menschen seien an einem Frieden gar nicht interessiert, sondern wollten ihre Herrschaft über die Novaten wieder herbeibomben. Schon lange hatte sie den Verdacht, dass ebendies Dragans tumber Plan war. Für ihn waren die Novaten ohnehin nicht mehr als ungehorsame Haustiere, die man disziplinieren und unterdrücken musste. Aber wie sollten wenige Hundert Menschen dreißig Millionen Novaten kontrollieren? Die Siedler waren Narren, als sie die Gefahr einer Rebellion ihrer Geschöpfe so gründlich ignorierten. Wäre Tessa eine Novatin gewesen, sie hätte kaum anders gehandelt. Sie seufzte.

»Warum muss es unbedingt Lasse sein?«

Die Haut, die sich so dürftig um Dragans kahlen Schädel spannte, faltete sich zu einem feisten Grinsen. Über seinem Kopf pendelte eine nackte Glühbirne, die sein Gesicht in einen zerfurchten Acker verwandelte.

»Es wird Zeit, dass aus dem Kleinen ein Mann wird, der sich an unserer Sache beteiligt. Die anderen sehen das genauso. Er hat doch eine Ausbildung in Waffen- und Sprengstofftechnik.«

Das stimmte. Tessa hatte es Lasse nicht abschlagen können, obwohl sie ahnte, dass es ihn eines Tages in eine solche Situation bringen würde.

Dragan fuhr unbekümmert fort: »Und außerdem – er selbst will es so. Nicht wahr, Kleiner?« Er wandte sein kantiges Profil dem Jungen zu.

Tessa trat einen Schritt zur Seite und fixierte ihren Bruder. »Lasse? Ist das wahr?«

Der Junge mied ihre Augen und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Auch Dragan hatte sich nun zu Lasse umgewandt, der auf dem Blechstuhl und vor der kahlen Betonwand noch kleiner und zarter aussah.

»Ich habe dich gefragt, ob das wahr ist.«

Ohne sie anzuschauen, nickte der Junge. Tessa seufzte. Unwillkürlich stiegen bedrohliche Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Lasse in einer Schießerei. Lasse in Handschellen. Lasse als Opfer einer öffentlichen Exekution.

»Aber du hast nicht die Ausbildung, du hast auch nicht die Kraft, nicht die Erfahrung. Du bist einfach …«

»… zu jung? Ist es das, was du sagen wolltest?« Lasse funkelte sie jetzt wütend an.

Tessa hörte Dragan neben sich leise kichern. Etwas in ihr wollte ausholen und ihm in sein feistes Grinsen schlagen, doch sie schaffte es, ihre Wut zu kontrollieren.

»Schau mal, Lasse, es ist ja nicht so, dass ich deinen Eifer für unsere Sache missbillige, aber ich denke eben, dass es einfach noch ein bisschen zu früh ist.«

»Das erzählst du mir seit Vaters und Mutters Tod. Aber du musstest sie nicht sterben sehen. Sie haben Vater und mich gefesselt und Mutter zu Tode gequält und mich dabei zuschauen lassen, als sie ihm die Kehle aufschlitzten.«

Tessa hatte die schrecklichen Bilder sofort vor Augen. Sie war gerade noch rechtzeitig gekommen, um die drei Novaten, die ihre Familie in der Dienstwohnung ihres Vaters überfallen hatten, zu erschießen und wenigstens ihren kleinen Bruder zu retten. Es hatte keine Zeit zum Trauern gegeben. Der Aufstand war in vollem Gange gewesen. Die Novaten zerrten die Menschen aus ihren Häusern und rächten sich grausam für die jahrelange Unterdrückung. Ihre Nachbarn hatte man mit ihren kleinen Kindern aus dem siebzehnten Stock vom Balkon gestürzt. Auf der Flucht waren sie und Lasse an den Leichen vorbeigelaufen, die zerschmettert auf dem Bürgersteig gelegen hatten. Sie atmete tief durch und bemühte sich, die Erinnerung aus ihrem Kopf zu verscheuchen.

»Wie lange willst du mir noch verbieten, unsere Eltern zu rächen? Seit vier Jahren hocke ich jetzt hier im Untergrund. Vier Jahre in diesen Kammern und Höhlen unter der Stadt, wie eine Ratte im Käfig. Ich bekomme hier keine Luft mehr. Jeden Tag Angst, dass uns die Novaten doch finden und einfach mit ein paar gezielten Sprengungen verschütten, so wie Wills Gruppe vor sechs Monaten.«

Wie zur Bestätigung erzitterte der Raum unter dem rollenden Donner einer entfernt vorbeifahrenden U-Bahn.

»Vier Jahre ohne Sonnenlicht, während meine Schwester den Aufstand gegen diese … diese Monster anführt und mich nichts anderes tun lässt, als hier rumzusitzen und zu warten.«

Lasse sprang auf. Seine dunklen Haare fielen ihm in die Augen, die Funken zu sprühen schienen. So hatte ihr Vater ausgesehen, wenn Tessa über die Stränge geschlagen hatte. Nie hätte sie erwartet, ihn irgendwann ersetzen zu müssen, doch der Junge war einfach nicht in der Lage, die Konsequenzen seiner Entscheidung ganz zu überschauen. Aber war es nicht genau das, was ihr Vater ihr selbst entgegengehalten hatte, wenn sie eine ihrer haarsträubenden Ideen ausbrütete? Feuerkopf. So hatte er sie immer genannt. Tessa biss sich auf die Lippen. Sie legte alle Autorität, die ihr zu Gebote stand, in ihre Stimme.

»Ich verbiete dir, den Untergrund zu verlassen. Ich verlange nicht, dass du das verstehst. Aber ich kann dich nicht gehen lassen. Diesmal nicht.«

Der Junge schaute sie ein paar Sekunden regungslos an. Fast schien es Tessa, als würde er ihr jeden Moment an den Hals springen.

»Dann werde ich eben ohne deine Erlaubnis gehen«, entgegnete er stattdessen überraschend ruhig.

Tessa entfuhr ein erstauntes Keuchen. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Lasse in demselben leisen Tonfall fort.

»Ich habe das nicht gewollt, nicht so. Aber wenn es nicht anders geht, werde ich es gegen deinen Willen tun. Ich bin kein Kind mehr. Du hast kein Recht, noch immer über mich zu bestimmen. Ich will kämpfen, so wie alle anderen auch.«

Er sah sie an mit diesem traurigen, ernsten Blick. Fast wollte sie zu ihm hinübergehen und ihn in den Arm nehmen. Sie spürte, dass es keinen Zweck hatte, ihm zu widersprechen. Und überhaupt, was konnte sie schon machen? Ihn einsperren? Sosehr sie sich auch um ihn sorgte, das hätte sie nie tun können. Erst recht nicht, wenn sie die anderen gegen sich hatte. Sie drehte sich zu Dragan um. Auf seinem Gesicht leuchtete eine aufreizende Zufriedenheit. Was immer diese Situation für eine Bedeutung für ihn hatte, offensichtlich war genau das Ergebnis eingetreten, das er hatte erzielen wollen. Tessa zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einem Ausweg, während sie ihn betrachtete. Schließlich brodelte eine vage Idee aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins empor.

»Na gut, Lasse, du sollst deinen Willen haben.«

Sie hörte den Jungen tief durchatmen. Dragans Grinsen wurde noch etwas unverschämter.

»Aber er wird dich begleiten.« Sie wies auf Dragan, dessen Gesicht augenblicklich gefror.

»Ich hatte bereits Viktor dazu abgestellt«, warf er sichtlich nervös ein.

Jetzt bildeten sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Sie hatte schon häufiger bemerkt, dass er bei der Durchsetzung seiner Pläne deutlich enthusiastischer war, als wenn es um die Teilnahme an deren Ausführung ging. Gern ließ er andere ihre Haut zu Markte tragen. Tessa wandte sich halb zu Lasse um und zog die Schlinge zu.

»Tja, kleiner Bruder, ich habe fast den Eindruck, als ob dein Freund hier zu bescheiden ist, dir zur Hand zu gehen. Fragst du dich auch, was die anderen zu so viel vornehmer Zurückhaltung sagen würden?«

Lasse blickte verwirrt zwischen ihr und Dragan hin und her. Mit heimlichem Vergnügen sah Tessa, wie Dragans breite Kiefer zu mahlen begannen. Hektisch zuckte sein Blick zu dem Tisch, der neben ihm stand. Es war, als ob er im Holz eine Antwort auf seine Fragen finden könnte.

Schließlich spuckte er aus und schaute sie trotzig an. »Pah. Bin ich eben dabei. Werde ihm zeigen, wie man so eine Aktion richtig durchzieht. Wirst schon sehen.«

»Dann sei es so«, erwiderte Tessa grimmig. »Um was für eine Aktion handelt es sich eigentlich?«

Dragan grinste. Er schien seine Fassung schnell zurückgewonnen zu haben. »Ein Bombenanschlag im Stephansdom.«

Innerlich verfluchte ihn Tessa. Wieder so ein verdammter Bombenanschlag. Wie hatte er es auch diesmal geschafft, die Planungen komplett an ihr vorbeilaufen zu lassen? Sicher ging es Dragan letztlich nur darum, ihre Autorität weiter zu untergraben. Ihr war keineswegs entgangen, dass er schon seit Monaten eine Gruppe Jugendlicher um sich scharte. Eine Art von Schülern, die ihn glühend verehrten und seine Abneigung gegen Tessas vorsichtigere Strategie teilten. War Lasse sein neuester Jünger geworden? Trotz seines Alters hatte sie ihn für einen unabhängigen Kopf gehalten, hatte gehofft, dass er gegen Dragans Einflüsterungen immun war. Ja, sie hätte sogar Stein und Bein geschworen, dass der Junge Dragan aus tiefstem Herzen verachtete. Doch sie wusste, dass es jetzt keinen Zweck hatte, auch darüber noch eine Diskussion zu beginnen. Die Würfel waren gefallen.

»Wann?«, fragte sie.

»Heute.«

Diesmal war es Lasse, der antwortete. Sein Gesicht war bleich. Er sah überhaupt nicht mehr mutig aus.

Megapolis

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