Читать книгу Megapolis - Thomas Elbel - Страница 8

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Prolog

Für Svantovit 2098 war es ein Tag wie jeder andere. Von seinem Arbeitsplatz und dem Beginn der Frühschicht im Industriegürtel der Polis trennte ihn höchstens noch eine Viertelstunde. Wohl zum dritten Mal an diesem Morgen sah er auf den Beifahrersitz. Auf dessen grünem Velours befand sich in einer schmucklosen Schatulle ein kleiner Datenkristall, Ergebnis von ungezählten Nächten freiwilliger Arbeit. Heute wollte er seinen Chef mit diesem unschlagbaren Beweis seiner Eigeninitiative überraschen. Es war nichts weniger als die Lösung des Wasserversorgungsproblems im Madrider Viertel, die ihm in endlosen Stunden mühevoller Ingenieursarbeit an seinem virtuellen Reißbrett gelungen war. Dieses Meisterstück, so dachte sich Svantovit, müsste die Beförderung wert sein, die ihm eigentlich schon seit Jahren zustand.

Hätte er gewusst, dass an diesem kalten Wintermorgen auf seinem Weg zur Arbeit der Tod auf ihn lauerte, er hätte seine letzten Gedanken möglicherweise auf bedeutendere Angelegenheiten gerichtet. So aber kreisten sie um nichts anders als um den Karrieresprung, den ihm seine Erfindung bescheren sollte, während sein Schicksal bereits auf Kollisionskurs eingeschwenkt war.


Drei Jahre nach seiner Abfahrt war das kleine Gefährt fast am Ziel. Aus der Ferne mochte es mit seinen sechs Rädern und dem flachen Aufbau wie ein übergroßer Käfer wirken. Und tatsächlich hätten seine Unverwüstlichkeit und Zähigkeit einem Insekt alle Ehre gemacht. Stunde um Stunde hatte es sich den Weg durch zerklüftete Kraterlandschaften und schier endlose Geröllflächen erkämpft. An manchen Tagen betrug der

Geländegewinn kaum eine Handvoll Meter. Einmal, beim Umrunden der chaotischen Schluchtenlandschaft des Noctis Labyrinthus, fuhr es sich im Sand einer Düne fest. Eine Woche lang bewegte die kybernetische Intelligenz seiner Bordelektronik die Räder in wechselnde Positionen, bis es schließlich freikam. Nachts – oder wenn Staubstürme die Sonne verdunkelten – lieferten die Solarzellen nicht genug Energie, und das ganze Ding verfiel in einen digitalen Schlummer. Doch sobald das Licht des Tages seine Batterien wieder auffüllte, setzte es sich erneut in Bewegung.

Der Anstieg über die Ausläufer des gewaltigen Kraters des Arsia Mons war der schwierigste Teil, der allein schon an die vier Monate verschlang. Am Kraterrand angekommen, hatte es einige Minuten pausiert. Fast sah es so aus, als wolle es den Ausblick genießen. Die riesige Caldera des Vulkans barg eine Stadt, die sich von hier oben aus in alle Richtungen bis zum Horizont zu erstrecken schien. Aus dieser Entfernung waren keine Bewohner zu sehen, nur endlose Schluchten aus Stein und Asphalt.

Einige Wochen lang bewegte sich das Gefährt am Kraterrand entlang, bis es eine Stelle fand, die sich flach genug zur Stadt hinabneigte. Der letzte Akt seiner Reise begann. Schon ein paar Tage später fuhr es durch die breiten Alleen der äußeren Bezirke, deren Bebauung noch niedrig und schmucklos war. Auf dem Asphalt konnte es dann endlich auch seine Höchstgeschwindigkeit erreichen.


In Gedanken rechnete Svantovit 2098 bereits aus, wie viel ihm als Verheiratetem und Patron dreier Neuerweckter die nächsthöhere Vergütungsstufe einbringen würde. Sicher sollte ihn das Gehalt in die Lage versetzen, das schrottreife Earthbound, mit dem er sich jeden Tag in die Vorstadt bewegte, durch ein Hover zu ersetzen. Gut gelaunt blickte er nach oben, wo die anderen Mitglieder des Klubs, dem er eines Tages angehören würde, zwischen den tanzenden Schneeflocken majestätisch ihre Bahnen zogen.

Wie ein einsames Phantom glitt das halb transparente Band eines Newsflydes im Schattenreich der Morgendämmerung jenseits seines Fensters vorbei. Zunächst war eine Werbung für eine jener beliebten historischen Nachstellungen der Gladiatorenkämpfe im römischen Kolosseum zu sehen, bei denen man menschliche Gefangene in die Rolle der Opfer zwang. Svantovit hatte so etwas schon immer einmal besuchen wollen, aber für sein schmales Beamtengehalt war das einfach zu teuer gewesen.

Eine neue Nachrichtenschlagzeile flackerte über das Newsflyde: »Anschlag im Vatikan – mehr als 40 Tote«. Svantovit schüttelte unwillig den Kopf. Würde die Menschheit ihre Niederlage denn nie akzeptieren? Offensichtlich konnte man sich nirgendwo vor ihnen sicher fühlen, nicht einmal in den Palästen des obersten Heilands. Daher hatte sich Svantovit längst angewöhnt, neue Kollegen während der ersten Wochen ihres Dienstes in seinem Büro besonders kritisch zu beäugen. Woher sollte man schließlich wissen, ob es sich nicht um einen dieser schmutzigen Infiltranten handelte? Die Informationen über die Versorgung der Polis mit Wasser, die das Amt verarbeitete, waren für die Terroristen bestimmt hochinteressant. Wenn es bis jetzt noch keinen Giftanschlag auf städtische Zisternen gegeben hatte, dann, so fand Svantovit, hatte man das auch seiner Aufmerksamkeit zu verdanken.

Er hatte sich mit einem Kollegen, dessen Schöpfung bereits vor der Rebellion stattgefunden hatte, über die Herrschaft der Menschen unterhalten. Svantovit war nicht überrascht, dass dessen Geschichten die offiziellen Historien an Grausamkeit sogar noch übertrafen. Nach alledem war kaum zu verstehen, dass der Hohe Rat den verbliebenen Menschen gegenüber immer noch seine Politik der ausgestreckten Hand verfolgte. Hätte man ihn, Svantovit, nach seiner Meinung gefragt, er hätte jedem gesagt, dass dem Menschenproblem nur durch unerbittliche Verfolgung begegnet werden konnte.

Nicht, dass es ihm anstand, die Entscheidungen des Ratsvorsitzenden Starbuck zu kritisieren. Im Gegenteil. Er hatte das unter den Novaten durchaus umstrittene Gesetz des Hohen Rates zum präventiven Gedankenscanning vor seiner Frau und seinen Freunden verteidigt. Zweifellos erforderte die seit der Rebellion ständig angespannte Sicherheitslage auch solche drastischen Maßnahmen. Er hatte es sich sogar gestattet, dem Büro des Rates eine persönliche Ermutigungsmail zukommen zu lassen, um der Regierung zu zeigen, dass es unter den Novaten genug Bürger gab, die uneingeschränkt zu einem harten Kurs standen.

Ob seine Nachricht überhaupt angekommen war? Hatte vielleicht ein Ratsmitglied selbst sie gelesen? Svantovit ließ es sich auf diese Möglichkeit hin nicht nehmen, seiner Botschaft ein kleines Postskriptum hinzuzufügen, in dem er die Eckdaten seiner Lösung für die Wasserversorgung des Madrider Viertels beschrieb. Sicher hatte der Rat Wichtigeres zu tun, aber andererseits war Wasser, jedenfalls unmittelbar nach dem Terrorismusproblem, das vorherrschende Thema. Wer weiß, vielleicht würde ihn eines Tages ein Anruf aus dem Hradschin erreichen. Vielleicht entdeckten sie dann, welch ein verkanntes Talent da auf einem einfachen Sachbearbeiterposten schlummerte.

Seinen Chef, diesen kleinmütigen Gimpel, hatte man sogar für die neu geschaffene Direktoratsstelle in Betracht gezogen, und das, obwohl der Mann kaum eine Gelegenheit ausließ, die Diktatur als eine schlechte Regierungsform zu schmähen. In seinen Träumen sah sich Svantovit bereits im ledernen Sessel des Abteilungsleiters hoch oben im neunten Stock des Wasseramts sitzen.

Ein kleines Gefährt, das plötzlich mitten auf der sonst noch recht leeren Straße auftauchte, riss ihn aus seinen Gedanken und zwang ihn zu einer Vollbremsung.

Nur mit Mühe verhinderte er eine Kollision. Nachdem sein Earthbound endlich auf dem leicht verschneiten Randstreifen zu stehen kam, dauerte es einige Minuten, bis er den Schock der unerwarteten Begegnung überwunden hatte. Schließlich wischte er sich mit seinem Einstecktuch den Schweißfilm ab, der sich auf seiner Stirn gebildet hatte. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass das seltsame Gefährt nach wie vor mitten auf der Straße stand. Svantovit verließ seinen Wagen, um es aus der Nähe zu betrachten. Kalt schnitt ihm der Winterwind in die wässrigen Augen.

Mit seinen sechs Rädern und den altertümlichen Sonnenkollektoren sah das Gefährt ziemlich archaisch aus. Wie ein Relikt aus einer lang vergangenen Ära. Wo mochte es hergekommen sein? Handelte es sich überhaupt um novatische Technologie? Misstrauisch blickte sich Svantovit um. Zu dieser Tageszeit war die Gegend recht einsam. Flache Lagerhäuser mit ausgedehnten Parkplätzen säumten die Straße. Einige Kilometer entfernt erhob sich, gewaltig und drohend, der Kraterrand. Ein Stück weiter, in der Innenstadt, konnte man ihn kaum noch erkennen.

Ein Surren lenkte seinen Blick auf das Gefährt zurück. Am oberen Ende eines antennenartigen Gebildes befand sich eine zigarettenschachtelgroße Box mit so etwas wie einem Objektiv, offensichtlich eine Art Visor- oder Kamerasystem, das ihm mit quirliger Geschäftigkeit zu folgen begann. Svantovit machte ein paar Schritte zur Seite. Artig folgte ihm das gläserne Auge. Fast wirkte das Gefährt wie ein kleines Haustier auf der Suche nach einem unbekannten Herrchen. Er hob die Hand und winkte, als wolle er einen Bekannten grüßen, und kam sich gleich darauf unsäglich albern vor.

Auf einmal setzte sich eine winzige Lade an der Flanke des Gefährts unter den Sonnenkollektoren in Bewegung. Svantovit hatte sie bis jetzt noch gar nicht bemerkt. Arglos näherte er sich der Lade, während sie gemächlich aus dem Hauptkörper des Aufbaus heraussurrte. Zuerst konnte er ihren Inhalt nicht erkennen, bis sie sich so weit geöffnet hatte, dass das Licht einer Straßenlaterne senkrecht hineinfiel. Es war etwas Gläsernes, Rundes, ein Fläschchen, in dem eine dunkle Flüssigkeit zu schwappen schien.

Mit einem mechanischen Ruck kam die Lade zum Halten. Svantovits Instinkt ließ ihn eine Sekunde zögern. Doch dann überwog seine Neugier. Vorsichtig beugte er sich über das Fläschchen, um das geheimnisvolle Fluid in Augenschein zu nehmen. Genau in diesem Moment entschied die Bordelektronik, dass jenes bewegliche Objekt in ihrem Fokus, das alle Kriterien ihres Zielrasters zu erfüllen schien, nah genug war. Ein winziger Dorn schoss – von einer ebenso winzigen Sprengladung getrieben – hervor und zerbrach den dünnen Hals des Fläschchens mit einem leisen, trockenen Knacken. Der Druck entwich, und augenblicklich ging die Flüssigkeit eine Verbindung mit der Luft ein. Noch bevor Svantovit begriff, was geschah, trieb ein robuster kleiner Zerstäuber das Gemisch in sein Gesicht. Er taumelte ein paar Schritte zurück.

Kopfschüttelnd und prustend bemühte er sich, die unerwartete Wendung der Ereignisse zu verstehen. Eine empörte Stimme in seinem Inneren wollte das Verhalten des kleinen Gefährts als Attacke werten. Ein Verbrechen schien in der Luft zu liegen. Kurz erwog er, dem Gefährt einen Fußtritt zu versetzen, doch die Furcht vor weiteren unerwarteten Wendungen hielt ihn schließlich davon ab. Er entschied, dass die Angelegenheit jedenfalls außerhalb seiner Kompetenzen lag. Hier waren Experten der Ordnungsbehörden gefragt. Missmutig schlurfte er zu seinem Earthbound zurück, nicht ohne dem Gefährt einen letzten ärgerlichen Blick zuzuwerfen. Mit seinem Einstecktuch wischte er sich die Reste des Gemischs vom Gesicht. Mit einem Fingerstrich weckte er das Tectoo auf seinem Unterarm aus dem digitalen Schlummer und wählte die Nummer der Polizei.

»Sicherheitszentrale. Was wünschen Sie?«, krächzte es nach einer Weile.

»Äh, hier Hydrotechniker zweiter Klasse Svantovit 2098. Ich, äh, muss einen, na ja, einen seltsamen Vorfall melden, bei dem …«

»Wo befinden Sie sich, Sir?«

»Äh, an der Ausfallstraße B 12, ungefähr zehn Minuten vor dem Wasseramt.«

»Schön, und was möchten Sie melden?«

»Ja, hier ist so ein seltsames Ding. So eine Art kleiner Wagen. Ich habe so einen noch nie gesehen. Sechs Räder und ein bisschen Technik. Uralte Sonnenkollektoren. Sieht irgendwie fast antik aus. Und hat mich besprüht. Ich glaube, Sie sollten herkommen und sich das ansehen. Vielleicht ist …«

»Sir!«

»Ja?«

»Ich habe den Vorfall notiert. Wir werden uns umgehend damit auseinandersetzen. Die ID-Daten Ihrer Tectowierung wurden gespeichert. Sie sollten sich nun zu Ihrem Arbeitsplatz begeben.«

»Ins Büro? Aber ich dachte, dass ich vielleicht …«

»Sir!«

»Ja?«

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meine polizeiliche Anweisung befolgten.«

Svantovit würgte einen Kloß Verblüffung und Aufbegehren herunter.

»Ja, äh, selbstverständlich. Ich werde … Also gut, ich fahre dann.«

»Einen schönen Tag noch, Sir.«

»Wie? Ja … ach so. Ebenfalls.«

Das Tectoo auf seinem Arm knackte kurz. Die Verbindung brach ab und die Linien in seiner Haut, die bis eben noch sanft geleuchtet hatten, erloschen. Svantovit konnte seiner Überraschung kaum Herr werden. Würde er denn nicht gebraucht werden, wenn die Polizei eintraf? Wer würde das Gefährt so lange bewachen, bis die Einheit vor Ort war? Musste man nicht seine Aussage aufnehmen? Andererseits: Der Beamte hatte seine ID-Daten aufgenommen. Sicher würde man später auf ihn zurückkommen. Wahrscheinlich würde die Polizei jeden Moment eintreffen. Immerhin standen ihnen Hovers der neuesten Generation sowie Tachycopter zur Verfügung. Die Vorgehensweise des Beamten mochte ihm etwas ungewöhnlich vorkommen, aber schließlich: Wer war er, die Entscheidungen der Sicherheitskräfte zu hinterfragen? Svantovit setzte seinen Wagen in Gang.


Als Svantovit am Abend unter den prächtigen Leuchtern der Komsomolskaja-Station durch das Gewirr der heimkehrenden Berufspendler strich, hatte er den Vorfall fast vergessen. Ein Streit mit seinem Chef, der den Madrid-Vorschlag für schlicht und einfach undurchführbar hielt, hatte ihm den Tag mehr verhagelt, als ein seltsames Treffen mit einem Stück Technoschrott es je gekonnt hätte. In seiner Wohnung am Sacharova-Prospekt angekommen, küsste er müde seine Frau und rief ihrer Konkubine ein schwaches Hallo zu, bevor er sich deprimiert in sein Arbeitszimmer zurückzog. Erst hier bemerkte er das eigenartige Kitzeln in der Nase. Es war, als zwickten ihn winzige Flöhe in die Schleimhaut. Er beschloss, das Gefühl zu ignorieren, und setzte mit einem knappen Befehl den Neuroclient in Gang, um sein Wasserversorgungsmodell noch einmal durchzukalkulieren. Vielleicht würde ja der Rat …

Erst als sich das Jucken so verstärkte, dass es sich nicht mehr in die Tiefen seines Unterbewusstseins verbannen ließ, ging er ins Badezimmer hinüber, um seine Nase zu inspizieren. Durch den Spalt der Wohnzimmertür konnte er sehen, wie sich seine Ehefrau bereits mit der Konkubine vergnügte, einem großbusigen Modell, das man ihr erst vor zwei Wochen zur Verfügung gestellt hatte. Eigentlich entsprach es auch ganz seinem Geschmack, aber ihm war heute kaum danach, sich zu ihnen zu gesellen. Im Badezimmer angekommen, befahl er Licht. Mit einem Fingerstrich verwandelte sich die Wand über dem Waschbecken in einen Spiegel, und er erschrak. Das Blut tropfte bereits von seinem Kinn auf das Hemd, wo es sich zu großen, dunklen Flecken ausbreitete.

Svantovit aktivierte hektisch sein Tectoo und rief den Gesundheitsdienst an. Nur eine Viertelstunde später fand er sich in einem Kranken-Hover auf dem Weg zum Universitätskrankenhaus an der Krasnoselskiy wieder. Tief unter ihm bewegten sich die Earthbounds wie kleine Ameisen über die A 104. Svantovit genoss den Anblick und teilte dem Pfleger, der neben ihm gelangweilt seine eigenen Fingernägel studierte, mit, dass er sich selbst einmal ein Hover zulegen würde. Der Mann setzte die Selbstinspektion ungerührt fort. Seine Beförderung sei nur eine Frage der Zeit, ergänzte Svantovit daraufhin. Die Reaktion blieb dieselbe. Keine achtundvierzig Stunden danach kam für ihn jede Beförderung zu spät. Schon bald spürten auch seine Frau und ihre Konkubine das Jucken in der Nase. Ebenso die beiden Polizisten, die das seltsame Gefährt in der Vorstadt doch noch eingesammelt hatten, und etwas später auch sein Chef und seine Kollegen. Ein Gruß, vor drei Jahren viele Kilometer weit entfernt ausgesandt, war an seinem Ziel angekommen.

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