Читать книгу Hexenkolk - Wiege des Fluchs - Thomas H. Huber - Страница 8

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KAPITEL 1

HANSESTADT-HERFORD, DEUTSCHLAND GEGENWART


Wie aus dem Nichts trat eine Gruppe von dreizehn Menschen aus einem kleinen Wäldchen, das am Rande eines gepflegten Parks lag. Es waren sieben Männer und sechs Frauen. Einer der Männer war sehr groß und trug eine dunkelbraune Mönchskutte. Er überragte alle anderen um fast einen halben Meter. Ob sie Touristen waren, oder vielleicht einer Theatergruppe angehörten, hätte niemand genau sagen können. Seltsam erschien nur ihre Kleidung, die an eine weit zurückliegende Zeit erinnerte. Die Stoffe ihrer Kleider, Hosen und Jacken waren grob, wobei die Farben grau und beige überwogen. Ihr Schuhwerk ähnelte dem von mittelalterlichen Bauern. Nur eine der sechs Frauen trug ein modernes, schwarzes Etuikleid und Pumps, wodurch sie sich vom Rest der Gruppe deutlich abhob. Der große Mann in der Kutte war entweder ihr Reiseleiter oder der Regisseur, denn er führte sie an und erklärte ihnen bei jedem Schritt, wo sie sich gerade befanden: „Ja, meine Freunde, das ist das moderne Herford der Gegenwart. Momentan befinden wir uns im Aawiesen-Park. Das kleine Wäldchen, aus dem wir gerade gekommen sind, war früher mal ein Friedhof, aber das haben Sie anhand der herumstehenden Grabsteine sicherlich schon bemerkt. Nun gehen wir mal eine kleine Runde über den Stadtwall, oder besser gesagt über das, was seit dem Mittelalter noch von ihm übriggeblieben ist“. Vor ihnen lag eine prächtige Lindenallee, die gesäumt war von Jugendstilvillen und hübsch restaurierten Fachwerkhäusern. Sie gingen etwa eine halbe Stunde auf dem Wall entlang und überquerten dabei immer mal wieder eine Straße. Manchmal blieben Passanten stehen und beäugten die seltsam gekleidete Truppe voller Neugier. Einige von ihnen grüßten die Fremden freundlich, andere ließen sie mit offenem Mund an sich vorüberziehen. „Was Sie jetzt gleich auf der linken Seite sehen werden, kennen Sie ganz bestimmt“, kommentierte der Anführer der Gruppe nicht ohne Stolz in der sonoren Stimme. Und in der Tat, jeder von ihnen erkannte das außergewöhnliche Gebäude sofort wieder. Die rot verklinkerten Mauern, bei denen es keinen rechten Winkel gab, schienen kreuz und quer in den Himmel zu ragen. „Das ist das MARTa, das hiesige Kunstmuseum. Entworfen und geplant von einem unserer Landsleute, dem Architekten Frank Owen Gehry. Von ihm ist auch das berühmte Guggenheim-Museum in Bilbao und das Weis Art Museum in Minneapolis, wie Sie vielleicht wissen“. Das Museum glich eher einer organischen Masse, als einem Gebäude aus Stein und Metall, und zog aufgrund seiner Einzigartigkeit zwangsläufig sämtliche Blicke auf sich. Nach weiteren zehn Gehminuten, sprach er erneut: „Durch dieses Tor haben wir damals die Stadt betreten, erinnern Sie sich? Man nennt es auch heute noch das Steintor“ Aber keiner von ihnen wusste, wo sie sich gerade befanden, schließlich lagen zwischen dem heutigen und ihrem damaligen Besuch knapp vierhundert Jahre. Und außerdem war von dem alten Stadttor nicht mehr viel zu sehen. Als sie jedoch nach wenigen Gehminuten, und dem Durchqueren enger Gassen innerhalb der ehemaligen Stadtmauer die Münsterkirche sahen, deren Kalksteinmauern golden in der Sonne leuchteten, freuten sie sich wie Kinder. „Sie sieht aus wie damals“, rief die älteste Frau der Gruppe aufgeregt, und der Mann neben ihr fügte stolz hinzu: „Kaum zu fassen, dass wir schon einmal hier waren“. Sie blieben vor dem großen, gotischen Eingangsportal stehen und staunten, wie gut der Bau erhalten war. „Wussten Sie, dass sie so alt ist wie Notre Dame? Nur spricht kaum jemand darüber, ein echter Jammer“, seufzte er. Natürlich hatte sich das angrenzende Stadtbild seit ihrem letzten Besuch wesentlich verändert, doch noch immer konnten sie das mittelalterliche Flair fühlen. Auf den ehemals freien Feldern standen nun Wohnhäuser und gegenüber der Kirche lag jetzt ein prächtiges, neobarockes Gebäude, in dem die Büros des Bürgermeisters und der städtischen Angestellten untergebracht waren. Als sie jedoch um die Kirche herumgingen, fühlten sie sich wieder in der Zeit zurückversetzt. Heute war dort wohl kein Markt mehr, aber es schien, als hätten die Pflastersteine alle Geräusche und Gerüche von einst in ihrem Inneren gespeichert. Sie hörten plötzlich wieder die Marktfrauen schreien, sahen vor ihrem geistigen Auge die Barden und Feuerschlucker, und natürlich auch die Scheiterhaufen am Rande des Platzes, auf denen unbescholtene Frauen ihr schmerzhaftes Ende fanden. „Durch diese Tür sind wir damals hineingegangen“, sagte einer der Männer und zeigte auf die Südseite der Kirche. „Ohne Wilhelm wären wir dort weder rein, noch rausgekommen“. „Ich würde sagen, ohne unsere Goldmünzen hättet ihr das nicht geschafft“, fügte der Reiseleiter lachend hinzu.

Dann führte er sie am ehemaligen Abteigelände vorbei, wieder in Richtung Radewig, dem ältesten Herforder Stadtteil. Als sie vor dem Hexenkolk stehenblieben, schmiegte sich die modern gekleidete Frau ganz nah an den großen Mann, der ihr auf väterliche Art seinen Arm um die Schultern legte: „Für Sie muss dieser Anblick furchtbar schrecklich sein. Wollen Sie vielleicht schon einmal weitergehen?“ Aber die Frau schüttelte vehement den Kopf. „Es ist ja glücklicherweise vorbei. Ich komme darüber hinweg“. Danach schlenderten sie wieder durch den Park, beobachteten Eltern, die ihren Kindern beim Spielen zusahen, und betraten schließlich wieder das kleine Wäldchen. Vor einer Nebelwand, die wie waberndes Quecksilber aussah, blieben sie kurz stehen, bevor einer nach dem anderen darin verschwand.


Foto: iStock/Thomas H. Huber

NEW YORK, MELISSA UND JEREMIAH

31. Dezember 2010


Es war Liebe auf den ersten Blick und es war Silvester. Jeremiah Clover stand bereits seit Stunden mit ein paar Freunden auf dem Broadway Ecke 47. Straße. Wie in jedem Jahr, wollten sie auch heute wieder beim Ball-Drop dabei sein, New Yorks berühmtestem Silvesterevent. Wenn man eine gute Sicht auf den Ball haben wollte, musste man sich allerdings sehr früh an Ort und Stelle einfinden, am besten schon nachmittags. Nun war es bereits kurz vor Mitternacht und Jeremiah steckte seine behandschuhten Hände noch tiefer in die Taschen seines Parkas, um sich gegen die frostigen Temperaturen der Nachtluft zu wappnen. Dabei trat er von einem Bein aufs andere, damit sein Blutkreislauf nicht ins Stocken geriet. Er arbeitete als Bauarbeiter und war an Kälte gewöhnt. Doch dabei bewegte er sich in der Regel, und stand nicht bewegungslos im Schnee, so wie an diesem Silvestertag. Jeremiah war fünfunddreißig Jahre alt und arbeitete gern in seinem Beruf. Obwohl er ein abgeschlossenes Studium in Maschinenbau hatte, entschloss er sich für diesen Job an der frischen Luft. Kritische Zeitgenossen könnten jetzt durchaus behaupten, dass New York nicht für seine besonders frische und reine Luft bekannt ist. Andere hingegen, würden darauf antworten, dass sie dafür jedoch von etwas ganz Besonderem erfüllt ist, nämlich mit Leben.

Wenn man sich durch die überfüllten Straßen schlängelt, hat man tatsächlich den Eindruck, als befänden sich alle Einwohner zur gleichen Zeit auf den Gehwegen und in den Parkanlagen. Überall sieht man Gesichter, soweit das Auge auch reicht. Mal strahlen sie freundlich, mal sind sie mürrisch. Ein anderes Mal verängstigt, dann wieder mutig und voller Selbstvertrauen. Die Gesichter haben alle Farben und ihre Besitzer entstammen den unterschiedlichsten Ethnizitäten. In New York hat man das wahrhaftige Gefühl, Weltbürger zu sein, und gleichzeitig könnte man meinen, die ganze Welt würde sich an diesem Ort befinden. Und genau dieses Empfinden war der eigentliche Grund. für Jeremiahs Entscheidung. Er wollte jeden Tag im Zentrum dieser globalen Vernetzung sein und welcher Job hätte sich da besser geeignet, als der eines Straßenbau-Arbeiters. Er hätte es sich nicht vorstellen können, eingesperrt in einem Büro zu sitzen und Pläne zu zeichnen. Sein Job bot ihm alles, was er zum Leben brauchte, und das war die Nähe zum Leben, zu den Menschen. Deshalb begab er sich auch an diesem besonders kalten Silvesterabend wieder ins Herz dieser wundervollen Stadt.

Bereits am Morgen fielen die ersten Schneeflocken und mit ihnen die Temperaturen. Jetzt schneite es wohl auch noch, doch glücklicherweise nicht mehr so stark wie noch wenige Stunden zuvor. Das hätte ihnen die schöne Aussicht auf das gesamte Spektakel vermasselt und das stundenlange Warten wäre umsonst gewesen. Gerade als er eine Schneeflocke beobachtete, wie sie sich sanft auf die Nasenspitze seines Freundes und Arbeitskollegen, Sammy, legte, und sich innerhalb eines Wimpernschlags in einen winzigen Wassertropfen verwandelte, sah er sie, eine Frau in seinem Alter. Sie hatte langes dunkles Haar, das üppig unter einer purpurroten Strickmütze hervorquoll. Sie trug nahezu den gleichen Parka wie er, und auch sie hatte ihre linke Hand tief in dessen Seitentasche vergraben. In der rechten Hand trug sie einen Koffer und sah damit wie eine Touristin aus, die gerade die schönste Stadt der Welt besuchte. Als sich ihre Blicke trafen wussten beide sofort, was mit ihnen geschah. Die meisten Menschen hätten es als Liebe auf den ersten Blick bezeichnet, aber in ihrem Fall schien es so zu sein, als würde die Zeit verschmelzen. Alles kam ihnen so bekannt vor, und doch war es neu. Auch wenn sie sich an diesem kalten Silvesterstabend zum ersten Mal begegneten fühlten beide gleichzeitig, dass sie schon immer zusammengehörten, und lediglich durch Raum und Zeit, nicht aber von ihren Seelen getrennt waren. „Hey, ich bin Jeremiah. Schön, dich kennenzulernen“. Sie sah ihn mit ihren smaragdgründen Augen an und erwiderte: „Ich bin Melissa, und gerade erst angekommen“, dabei deutete sie mit dem Kinn auf ihren Koffer.

Als der Ball-Drop vorüber war, und die Menschenmenge sich langsam in den Straßen der Stadt verteilt hatte, nahm Jeremiah seine Traumfrau an die Hand, packte ihren Koffer, und nahm sie mit zu sich nach Hause. Die darauffolgenden Jahre waren erfüllt von Glück und harmonischer Zweisamkeit, bis die Welt eines Tages zum Stillstand kam, und ein schwerer, erdrückender Nebel sich auf sie herabsenkte.

HERVORDIA (HANSESTADT-HERFORD)

DER HEXENKOLK, 21. August 1627


Die Sonne kroch behäbig über den Horizont und hüllte die kleine Stadt in ein goldenes, warmes Licht. Schon zu dieser frühen Morgenstunde konnten die Einwohner spüren, dass ihnen ein heißer Tag beschert würde. Zahlreiche Händler errichteten ihre Stände auf den beiden Marktplätzen, wovon einer im ältesten Stadtteil, der Radewig lag, und der andere sich seit einiger Zeit direkt neben der Münsterkirche etabliert hatte. Der Markt in der Radewig war der ursprüngliche Markt, auf dem Lebensmittel, Stoffe und andere Gegenstände für das tägliche Leben angeboten wurden. Der junge Markt am Münster hingegen, war für seine gegrillten Speisen, Wein, Gesang, und andere Attraktionen bekannt.

Von überall her kamen sie mit schwer beladenen Fuhrwerken, um ihre Waren feilzubieten. Manche von ihnen hatten einen Ochsen vorgespannt, andere ein oder zwei schwergewichtige Kaltblüter, die sich durch ihr besonders ruhiges Temperament wesentlich von allen anderen Pferderassen unterscheiden, und für diesen Knochenjob wie geschaffen waren. Ihnen war kein Karren zu schwer, kein Weg zu schwierig. Auch auf den Flüssen, Werre und Aa, lagen etliche Barken bis über die Bordwand hinaus beladen mit Stoffen, Schmuck, Getreide und vielerlei exotischen Gewürzen. Jongleuren und Feuerschlucker, fanden sich auf dem Marktplatz ein und verliehen der Szenerie etwas zauberhaft Mystisches.

Doch diese, ganz offenbar heile Welt des Marktes, konnte nichts daran ändern, dass man nur wenige Meter entfernt viele Frauen einer sehr gewaltsamen Prozedur unterzog, der sogenannten Wasserprobe.

Dieses archaische Element der Rechtsgeschichte, reicht zurück bis ins dritte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung und diente dazu, eine Person der Zauberei zu überführen.

Dabei steckte man die oder den Verdächtigen, in den meisten Fällen handelte es sich jedoch um eine Frau, in einen Leinensack und warf sie in den Fluss. Im Herford des späten Mittelalters, nutzte man dazu die Radewiger Brücke. Diese Stelle war für die Wasserprobe wie geschaffen, denn unter ihr befand sich ein Stauwehr. Durch das hinabstürzende Wasser hatte sich im Flussbett über die Jahre hinweg eine Vertiefung ausgebildet, die man Kolk nennt. Diese Vertiefung erfüllte gleich zwei Anforderungen der Prozedur des Kolkens. Erstens war das Wasser an dieser Stelle tief genug, um einen erwachsenen Menschen vollkommen darin zu versenken, und zweitens entwickelte sich durch die aufschlagenden Wassermassen Kehrwasser, welches dafür sorgte, dass der Mensch nicht flussabwärts weggespült wurde, sondern sich stattdessen an Ort und Stelle um die eigene Achse drehte. Nun musste der Sack nur noch zusätzlich mit Steinen beschwert werden, damit er mit seinem menschlichen Inhalt nicht an die Wasseroberfläche auftreiben konnte. Wenn die Frau diese grausame, oft mehrere Minuten andauernde Prozedur nicht überlebte, sprach man sie zwar von der Hexerei frei, doch tot war sie dennoch. Bei jeder Überlebenden hatten die Folterknechte dann den hieb- und stichfesten Beweis, dass es sich um eine Hexe handelte, denn kein normaler Mensch hätte diesen grausamen Akt lebendig überstehen können. „Selbst das reine Wasser hat sie verschmäht“, hieß es dann ohne jeglichen Zweifel. Je nachdem wie schwer die einzelnen Anklagepunkte wogen, brachte man sie dann entweder in den sogenannten Tortur-Turm, um weitere Geheimnisse aus ihr herauszulocken, oder stellte sie an den Pranger, wo sie von allen Bewohnern der Stadt angespuckt und beschimpft werden konnte. In den meisten Fällen jedoch, beförderte man sie im Namen Gottes direkt auf den Scheiterhaufen. Der menschliche, oder besser gesagt, der männliche Wahnsinn dieses Zeitalters sorgte dafür, dass mit jeder einzelnen Frau nicht nur ein unschuldiges Lebewesen starb, sondern auch ein unwiederbringliches Wissen, zu dem kein Mann jemals Zugriff hatte und bis heute hat. Meist waren sie durch ein großes Wissen in der Kräuterkunde und der Medizin auffällig geworden, oder aber durch eine überragende Intelligenz. Ein Grund allein, reichte meist schon aus, um sie der Wasserprobe zu unterziehen. Hätte man diese wissenden Frauen geehrt und beschützt, anstatt sie der Hexerei zu bezichtigen, wäre unsere Welt heutzutage vermutlich ein friedlicherer Ort, ohne Kriege, Verbrechen und Krankheiten.

An diesem Samstag, dem wohl dunkelsten in der Geschichte der Stadt, fanden dreißig unbescholtene Frauen entweder direkt am Radewiger Kolk den Tod, oder kurz darauf im alles vernichtenden Höllenfeuer der Heiligen Inquisition.

Natürlich machten sich die Kleriker bei der Tötung der Unschuldigen nicht persönlich die Hände schmutzig, dies erledigte ein anderer für sie, Maximilian Gosejohann. Er war der Sohn eines betuchten, gottesfürchtigen Gutsherrn. Maximilian war von schlichtem Gemüt, er konnte kaum lesen und schreiben, obwohl sein Vater bereits seit früher Kindheit zwei Lehrer für seine Ausbildung angestellt hatte. Leider waren sämtliche Versuche, ihm die einfachsten Grundsätze der Grammatik und Mathematik einzutrichtern, fehlgeschlagen. Haareraufend gaben die Lehrer irgendwann auf, und Maximilians Vater war verzweifelt. „Er ist zu dumm, um eins und eins zusammenzuzählen. Lieber Gott, was soll nur aus ihm werden? Wie soll er mit dem Hof und meinem Vermögen klarkommen, wenn ich mal nicht mehr da bin?“ brummte er mit traurigen Augen, während er sich gedankenversunken den grauen Bart kraulte. Als er jedoch eines Tages die strahlenden Augen seines Sprösslings bemerkte, nachdem dieser die starken Männer am Kolk beobachtet hatte, wie sie die wimmernden und flehenden Frauen in den Fluss warfen, stieg Hoffnung in ihm auf. Der Junge war zu diesem Zeitpunkt wohl erst neun Jahre alt, was seinen Vater aber nicht daran gehindert hatte, ihn dennoch in die Hände des Klerus zu geben. Den wahren Grund, warum er den Jungen weggab, behielt er allerdings für sich. Niemand sollte etwas davon erfahren, zumindest nicht in diesem Moment: „Nehmt ihn unter Eure Fittiche“, sagte er zum Obersten Priester des Inquisitionstribunals und drückte ihm einen schweren Sack Goldmünzen in die Hand. „Am Kolk wird er Euch später bestimmt gute und treue Dienste leisten“. Auf wundersame Weise verwandelte Maximilian sich ab diesem Zeitpunkt in einen recht guten Schüler, mit ganz passablen Leistungen, auch wenn er sein Defizit in der Grammatik nie vollständig aufholen konnte. Dafür entwickelte er jedoch schnell Interesse für die Funktionsweise des menschlichen Körpers, vor allem aber, wie man diesen durch Schmerzen redselig machen konnte. So kam es, dass man ihn an seinem achtzehnten Geburtstag zum obersten Folterknecht und Scharfrichter der Stadt Hervordia ernannte, und ihm kurz darauf den Titel „Heiliger Kolker“ verlieh. Er genoss durch seine Arbeit schon bald ein hohes Ansehen in der ganzen Region, denn schließlich befreite er alle gottesfürchtigen Bewohner von bösen Hexen. Aus seiner Sicht nahm er, durch das Töten der verderbten Frauen, den Kampf mit Satan persönlich auf, wodurch er ganz gewiss in Gottes Gunst steigen würde.

Schon vor dem unseligen Augusttag, im Jahr des Herrn 1627, nahm er unzähligen Frauen das Leben. Heute spricht man davon, dass die Geschichte der Hexenverfolgung im späten Mittelalter, und zu Beginn der frühen Neuzeit, in Europa ihren Höhepunkt erreicht hatte, und dann auch auf andere Kontinente übersprang, wie beispielsweise Amerika, wovon die Hexenprozesse von Salem bis heute in Erinnerung geblieben sind.

Die Geschichtsbücher sind sich nicht ganz einig, was die Dauer dieses Wahnsinns betrifft, aber etwa 400 Jahre könnten es gewesen sein. Es war nicht nur ein Kampf der Geschlechter, in dem Männer Frauen aus freier Willkür töteten, sondern ein regelrechter Vernichtungswahn des gesamten Patriarchats. Manche sagen, es waren 9 Millionen Menschen, wovon die meisten Frauen waren, die auf den Scheiterhaufen Europas den Tod fanden. Es gibt sogar Stimmen, die von 30 Millionen Opfern ausgehen. Liegt auch hier die Wahrheit irgendwo in der Mitte, waren es rund 12 Millionen Opfer, also 30.000 pro Jahr. Wie viele Frauen durch Maximilians Arbeit auf dem Scheiterhaufen landeten ist ungewiss, doch es bleibt genügend Raum für Spekulationen.

Anfänglich schnitzte Maximilian für jedes seiner Opfer ein kleines Kreuz in seinen Wanderstab, den er im Alter von neun Jahren von seinem Vater bekommen hatte. Obwohl er von Hass getrieben war, bedankte er sich bei Gott für dessen Gnade und natürlich dafür, dass er ihn durch die Arbeit am Kolk zu seiner rechten Hand erkoren hatte. Als auf dem Stab der Platz für Kreuze knapp wurde, ging er dazu über, stattdessen kleine, horizontale Kerben in die Zwischenräume zu ritzen. Bereits nach wenigen Jahren gab es keine freie Stelle mehr und er hörte damit auf, und mit dem Ende seiner Gravuren, befand er sich auch auf dem Höhepunkt seiner grausamen und bizarren Karriere.

Am 21. August 1627 zog er den schweren Leinensack gleich dreißigmal aus dem Wasser und wusste, trotz seiner körperlichen Erschöpfung, dass er Gott und der Kirche wieder mal einen guten Dienst erwiesen hatte.

Doch das war nicht alles. Bei einer der Frauen fühlte er eine besonders tiefe Befriedigung in sich aufsteigen, nachdem er sie lebendig aus dem Sack gezogen hatte. „Ich wusste es! Ihr seid eine Hexe“, flüsterte er ihr ins Ohr, „nun werdet Ihr auf dem Scheiterhaufen Eure gerechte Strafe finden“. Dann übergab er sie dem Feuermeister und befahl ihm: „Zündet sie erst an, wenn ich hier fertig bin. Ich will sehen, wie die Hure brennt“. Und schon stülpte er der nächsten Frau den noch nassen Leinensack ihrer Vorgängerin über. Auch sie war starr vor Angst und unfähig, sich gegen den groben und starken Maximilian zur Wehr zu setzen. Es war bereits später Nachmittag, die Strahlkraft der Sonne hatte ihren Höhepunkt längst überschritten, als er die letzte Frau tot aus dem Wasser zog. Da ihr Tod wieder einmal der Beweis dafür war, dass sie keine Hexe war, kniete er nieder und betete ein inbrünstiges ‚Vater Unser‘. Allerdings war unklar für wen er das tat, ob für seine eigene Seele oder für die seines unschuldigen Opfers. Dann nahm er vier gleichgroße Steine aus dem triefenden Leinensack und hängte ihn zum Trocknen fein säuberlich über ein Holzgestell, das er eigenhändig für diesen Zweck gebaut hatte. Mit der gleichen Sorgfalt legte er die vier Steine neben das Gestell, zwei links und zwei rechts. Warum es ausgerechnet vier gleichgroße Steine sein mussten, und nicht drei oder mehrere ungleiche, wusste ebenfalls keiner, nur Maximilian kannte den Grund. Es entsprang seiner Phantasie, dass sich in den Steinen mehrere Geister oder Seelen aufhielten, die alle den gleichen Platz zur Verfügung haben sollten. Im ersten Stein befand sich die Kraft Gottes, auf dessen Oberfläche er eine Triquetra, das keltische Zeichen für die Dreifaltigkeit eingeritzt hatte. Im zweiten war die Essenz von Satan, die er von außen mit einem Teufelshaken symbolisierte. Im dritten Stein befanden sich die Seelen der Hexen und darauf war ein Pentakel zu sehen, welches die böse Kraft der schwarzen Magie für immer im Stein einschließen sollte. Der vierte und letzte Stein, bot den Seelen der unschuldigen Frauen Zuflucht, und er war mit einer Doppelspirale gekennzeichnet, ebenfalls ein keltisches Symbol, das für die Geburt und den Tod steht. Nachdem er seine persönlichen Kultgegenstände an Ort und Stelle platziert hatte, zündete er eine dicke weiße Kerze an und stellte sie vor das Trockengestell und die Steine, während er sich erneut bekreuzigte. Dann schlenderte er pfeifend in Richtung Münsterkirche, vor deren Haupteingang man zwölf Scheiterhaufen aufgebaut hatte, nur zwanzig Meter neben dem Marktplatz, auf dem noch immer die Feuerschlucker und Barden ihre Kunst zum Besten gaben. Während die einen tranken, tanzten und lachten, sahen die verurteilten Frauen ihrem qualvollen Tod ins Antlitz. „Maximilian, kommt her und trinkt einen Becher Honigwein. Den habt Ihr euch heute redlich verdient“ rief ein kleiner, dicker Mann mit schriller Stimme, dem das einzige Wirtshaus am Ort gehörte. Aber der Kolker hob nur ablehnend die Hand und ging weiter, bis er sie endlich sah, seine ganz spezielle Hexe. Wie versprochen hatte der Feuermeister noch nicht mit ihrer Verbrennung begonnen und Maximilian stellte sich nun breitbeinig vor den Scheiterhaufen und sah sie mit kalten, hasserfüllten Augen an. Dabei starrte er auf ihren Bauch, so als wollte er sich mit einem Röntgenblick davon überzeugen, dass ihre Leibesfrucht noch da war, die sie aus seinen Lenden gehext hatte.


Katharina Seidenweber, die Tochter eines armen Schneiders, war eine sehr schöne und intelligente Frau, die schon in jungen Jahren im Mittelpunkt von Maximilians Begierde stand. Bei jeder Gelegenheit stieg er ihr nach, und anfänglich fand sie sogar Gefallen daran. Aber mit der Zeit wurde er stets brutaler und nahm sie so oft und so hart er wollte. Manchmal schlug er sie auch und beschimpfte sie dabei auf üble Weise. „Wenn Ihr jemandem von uns erzählen tut, bringe ich Euch um, hört Ihr?“ sagte er, wenn er mit ihr fertig war. „Wenn Ihr Euer Maul nicht im Zaum halten tut, stopfe ich es Euch“. Da sie sich als Tochter des Schneiders weit unter Maximilians gesellschaftlichem Stand befand, ließ sie alles über sich ergehen. Erst als eines Tages ihre Blutung aussetzte, konnte sie nicht anders, als ihn zur Rede zu stellen. „Maximilian, es ist Euer Kind. Ihr müsst mich ehelichen, sonst kommt große Schande über uns“. „Uns?“ fuhr er sie mit geballten Fäusten an, „es gibt kein uns, versteht Ihr. Wer weiß, mit wem Ihr es sonst noch treiben tut, dreckiges Weib“, schrie er außer sich vor Wut. „Ihr seid eine elende Dirne, sonst nichts. Euch und Eurem Balg werde ich es zeigen“. Dann stampfte er davon. Am darauffolgenden Sonntag, als sich alle Gläubigen durch das Kirchenportal drängten, schlich er sich von hinten an Katharina heran und riss ihr das Kleid von den Schultern, ohne, dass jemand es bemerkt hätte. „Seht!“ rief er dann theatralisch, „seht! Sie trägt das Zeichen Satans auf dem Rücken!“ Er hatte es schon beim ersten Mal gesehen, als er es ihr von hinten besorgte, ein ganz ansehnliches Muttermal auf ihrem rechten Schulterblatt. Eigentlich sah es aus wie ein harmloser, perfekt proportionierter Schmetterling, doch Maximilian deutete es als Symbol des Bösen. „Da, seht es euch an. Es sind die Schwingen des Antichristen, mit denen er sich aus der Hölle erhebt. Sie ist zweifellos eine Hexe“.

NEW YORK, JONATHAN KRAMER 2019


Freitag, Manhattan, 5th Avenue: Jonathan Kramer kam gerade aus einem Meeting mit dem Creative Team seines Verlegers. Nachdem es ihm vor einem Jahr gelungen war, einen Bestsellerroman zu schreiben, wurde das Verlagshaus zu seinem zweiten Zuhause. Man wollte, dass er mit einer neuen Geschichte möglichst schnell an seinen aktuellen Erfolg anknüpfte. „Du musst die Welle reiten, solange sie da ist, sonst gerätst du bei deiner Leserschaft schnell in Vergessenheit“, sagte David Jennings, Jonathans junger und ehrgeiziger Literaturagent. Natürlich nahm Jonathan sich das zu Herzen und schrieb innerhalb weniger Monate ein neues Buch. Wieder ging es dabei um unerfüllte Liebe, Sex und Drogen. „Das interessiert die Menschen“, postulierte David, „verstehst du, nichts verkauft sich besser als Mord und Totschlag, Sex and Crime“.

Beim heutigen Meeting ging es nur noch darum, den richtigen Titel zu finden, und das war hauptsächlich die Angelegenheit der Kreativkräfte, weshalb Jonathan im Grunde genommen nur dasaß, um hin und wieder zustimmend zu nicken, oder vehement den Kopf zu schütteln. Nach mehrstündigem Brainstorming war es dann soweit, der Titel stand fest: „Der Tod trägt ein Schwarzes Etuikleid“. Gedankenversunken saß er nun hinter dem Steuer seiner silbergrauen Mercedes E-Klasse und wartete darauf, dass die Ampel auf Grün umsprang. „Wie viele Stunden wir wohl während unseres Lebens im Straßenverkehr verschwenden?“ murmelte er fast lautlos vor sich hin und blickte dabei durch das Beifahrerfenster, um einen Mann im Blaumann zu beobachten, der in der einen Hand einen silbernen Blecheimer, und in der anderen eine, mit Farbklecksen überzogene, Aluminiumleiter trug. Über seiner Schulter hing ein strahlend weißer Lappen, und aus seiner Gesäßtasche ragte eine zusammengerollte Zeitung.

Vor einem ziemlich schmutzigen Schaufenster blieb er abrupt stehen, klappte mit einer Hand geschickt die Leiter auseinander, und wuchtete den offenbar vollen Eimer auf die oberste Stufe. „Die Scheibe hat es wirklich nötig“, dachte Jonathan, und verglich sie dabei mit den pikfeinen Schaufenstern der angrenzenden Geschäfte. Dann fragte er sich, was für ein Mensch der Fensterputzer sein mochte. „Wie alt wird er sein? Ist er verheiratet? Hat er vielleicht Kinder? Ist es sein Job, Schaufenster zu putzen, oder gehört ihm der Laden? Was ist das überhaupt für ein Geschäft?“ Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen, denn der Wagen hinter ihm hupte energisch. Während Jonathan den Mann mit dem Eimer beobachtet hatte, war die Ampel auf Grün gesprungen, und der Straßenverkehr zwang ihn nun, schnell zu reagieren. Während sein Wagen wieder ins Rollen kam hob er die rechte Hand, um sich bei dem nachfolgenden Fahrer für seine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen.

Dann sah er noch einmal kurz zu dem Fensterputzer hinüber, so als wollte er sich von ihm verabschieden. „Schließlich habe ich mich für gefühlte zwanzig Sekunden mit dir und deinen mutmaßlichen Lebensumständen beschäftigt“, murmelte er. Dann trat er unvermittelt auf die Bremse, woraufhin das nachfolgende Auto scheppernd in sein Heck krachte. Der massige Fahrer des auffahrenden Fahrzeugs, ein hellblauer, von Rost zerfressener Nissan Note, stieg aus, lief wutschnaubend zu Jonathan und klopfte fluchend an dessen Seitenfenster: „Bist noch ganz bei Trost? Was soll das, du Arschloch?“ Aber Jonathan reagierte nicht auf den tobenden Mann, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Gesicht einer Frau, welches er in diesem Moment hinter der Schaufensterscheibe vernommen hatte, die der Fensterputzer gerade mit seinem Schwamm bearbeitete. „Wer bist du?“ fragte Jonathan sich, und starrte wie gebannt auf das makellose, wundervolle Antlitz einer Frau in seinem Alter. Sie war schlank, hatte schulterlanges braunes Haar, und trug ein rotes Kleid.

Er fühlte sich auf eine unglaublich tiefe Art zu ihr hingezogen, wurde aber durch das vehemente Klopfen an seiner Seitenscheibe zurück in die Realität katapultiert. Mittlerweile standen zwei Männer neben seinem Wagen, die ihn mit aufgerissenen Augen vorwurfsvoll anstarrten. Einer davon war uniformiert und stand mit gezogener Waffe da. „Aussteigen, sofort aussteigen“, befahl der Polizist.

Jonathan löste den Sicherheitsgurt und stieg langsam aus. „Hände auf das Dach und Beine auseinander“. Während Jonathan tat, was der Polizist von ihm verlangte, starrte er wieder auf die schöne Frau, die seinen Blick in diesem Moment zu erwidern schien.

„Haben Sie Alkohol getrunken oder irgendwelche Drogen konsumiert?“ hallte die Stimme des Ordnungshüters in seinem Kopf. „Nein“, erwiderte Jonathan leise, „verzeihen Sie, ich war einfach nur kurz abgelenkt“.

Nachdem der Polizist sämtliche Formalitäten aufgenommen und der auffahrende Fahrer seine Wut wieder im Griff hatte, ließ Jonathan sich in seinen Sitz fallen und fuhr los. Die Frau im Fenster war mittlerweile verschwunden.

Eine halbe Stunde später erreichte er das Haus seines Freundes, Jack Bishop, mit dem er verabredet war.

“Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?” wollte Jack wissen, als er die hängenden Schultern und den mürrischen Blick von Jonathan sah. Jack bewohnte das Haus seiner verstorbenen Eltern, eine nette Stadtvilla im Westen der Upper East Side, dem wohlständigsten Stadtteil New Yorks. „Ach, nichts“, antwortete Jonathan achselzuckend, „mir ist an der Ampel einer hintendrauf gefahren“. „Schlimm?“ „Nein, nur eine kleine Beule“. „Und deshalb machst du so ein Gesicht?“ Jonathan zögerte und wiegelte dann kopfschüttelnd ab. Er wollte Jack nichts von der Frau erzählen, die er im Schaufenster gesehen hatte. Der würde sich nur wieder über ihn lustig machen. „Nein, mir ist heute einfach nicht ganz wohl“.

„Na, dann wird ein eisgekühltes Bier deine Stimmung vielleicht etwas aufhellen. Jack schob seinen Freund in die Küche und zog zwei Flaschen Budweiser aus dem Kühlschrank.

„Wir haben eine sturmfreie Bude!“ strahlte Jack mit kindlicher Begeisterung, und ließ dabei außer Acht, dass die sturmfreie Bude der Status Quo war, denn schließlich lebte er allein in dem großen Haus. „Du wirst wohl nie erwachsen“, erwiderte Jonathan, worauf Jack mit erhobenen Armen die Hüften kreisen ließ, so als würde er einen Balztanz vollführen. Dabei bewegte er den Unterkiefer auf sehr alberne Weise mal nach vorne, mal nach hinten, wie eine spazierende Taube, vor und zurück, vor und zurück. Fehlte nur noch, dass er anfing zu gurren. Stattdessen imitierte er die Bee Gees und sang: „Night Fever, night feveher“. Dann fügte er grinsend hinzu: „Du weißt doch, man muss die Feste feiern wie sie fallen. Wir können mal richtig die Sau rauslassen und ein paar heiße Bienen einladen“.

Jonathan hatte Jack erst vor wenigen Jahren bei einem Baseball-Spiel der New York Mets gegen die Brooklyn Cyclones kennengelernt und fand dessen draufgängerische Art auf bizarre Weise interessant. Bizarr deshalb, weil Jonathan ein ruhiger, tiefgründiger Mensch war und Jack das krasse Gegenteil verkörperte. Er war laut, nahm niemals ein Blatt vor den Mund und scheute sich auch nicht, seine Fäuste einzusetzen, falls er mit seinen lockeren Sprüchen mal auf Widerstand gestoßen war. Jack war 185 cm groß, hatte pechschwarzes Haar, war durchtrainiert und verfügte über ein sehr gewinnendes Wesen, zumindest beim weiblichen Teil der Schöpfung. Kurz gesagt, er war ein Weiberheld und vögelte alles, was ihm vor die Flinte kam, während Jonathan auf die große Liebe wartete. Vielleicht war es genau das, was ihm an Jack so gefiel, diese Lockerheit, dieses unglaubliche Selbstbewusstsein, durch das er nahezu jede Frau ins Bett bekam. Er hingegen war traurig, dass seine Traumfrau derart auf sich warten ließ. Insgeheim hoffte er, dass Jacks unbändige Dynamik auf ihn abfärben würde, damit er seine Tiefgründigkeit ablegen und seiner Melancholie einen Tritt in den Hintern versetzen konnte. Aber nichts geschah, je häufiger Jack mit einer Fremden abzog und Jonathan allein zurückließ, desto mehr zweifelte Jonathan, ob sein Vorhaben, auf Mrs. Right zu warten, überhaupt realisierbar war. Denn wie hätte er bei seiner Schlagzahl, ein Date pro Schaltjahr, seine Traumfrau unter Milliarden von Frauen finden sollen, wenn doch sein Kumpel fast täglich eine andere abschleppte, ohne, dass sich daraus je eine feste Beziehung entwickelt hätte. Gut, Jack wollte per se keine feste Bindung, und Jonathans Ansprüche waren so hoch, dass es ihm nun fast unmöglich erschien, der großen Liebe jemals zu begegnen. Vielleicht hätte es ihm sogar gutgetan, hin und wieder mit einer wildfremden Frau belanglosen Sex zu haben, ohne ihr gleich einen Antrag zu machen, aber dafür war er einfach nicht geschaffen. Er suchte verzweifelt nach einer tiefgründigen Beziehung, bei der Treue ein wichtiger Eckpfeiler sein sollte.

Während es bei Jack immer nur um Sex ging, spielte bei ihm die wahre Liebe die tragende Rolle. Doch obwohl seine Hoffnung derzeit auf dem Tiefpunkt angelangt war, zumindest immer dann, wenn er gerade mit Jack zusammen war, fühlte er tief in seinem Inneren die Gewissheit, dass seine ideale Frau bereits existierte und irgendwo in New York auf ihn wartete. Nur wo und wann sie sich begegnen sollten, stand noch in den Sternen. Aber wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, würde er sie unter Tausenden erkennen, da war er sich sicher. Denn in seinem Kopf war ein detailliertes Bild von ihr eingeprägt, und dies war viel mehr als ein billiges „Beuteschema“, nachdem Jack seine Frauen auswählte, nämlich blond, schlank, geil. In Jonathans Herz stattdessen, befand sich der Blueprint seiner Frau, der keinen Irrtum und keine Verwechslung zuließ. Davon war er nach einigen misslungenen Dates und Kurzbeziehungen felsenfest überzeugt. Dieser Blueprint äußerte sich nämlich zunächst tatsächlich wie ein stinknormales Beuteschema, wonach seine Traumfrau 165 cm groß war und über grüne Augen verfügte, die im Sonnenlicht bernsteinfarben schimmerten. Sie hatte braunes Haar, und außerdem war sie intelligent, eloquent und humorvoll.

Hin und wieder stieß er dann auch auf Frauen, die seinem „Beuteschema“ ziemlich nah kamen, aber leider nicht nah genug. Meist schon nach wenigen Wochen, manchmal auch nach wenigen Stunden, und in den häufigsten Fällen waren es nur ein paar Sekunden, stieg in ihm ein regelrechtes Ekelgefühl auf. Die eine plapperte wie ein Buch, natürlich weit entfernt von Intelligenz und Eloquenz, die nächste war oberflächlich und egoistisch, der Körpergeruch einer anderen löste bei ihm einen Würgreflex aus, und so weiter und so weiter.

Schließlich fasste er all seine Gefühle, Sehnsüchte und Vorstellungen in einer Art Bilanz zusammen und nannte sie spaßeshalber das „Kramer´sche Sensogramm“.

Er war sich absolut sicher, dass die für ihn erschaffene Frau, jeden seiner fünf Sinne zu 100% befriedigen würde.

Der erste Sinn war das Sehen: Ihr Aussehen würde exakt seiner Vorstellung entsprechen, ohne Wenn und Aber.

Der zweite Sinn, das Hören: Die Frequenz ihrer Stimme entfaltete sich in seinem Gehirn zu einer absolut perfekten Symphonie.

Der nächste Sinn, das Schmecken: Der Geschmack ihres Körpers löste in ihm eine wahrhaft erotische Gefühlskaskade aus, der er sich vollkommen hingeben konnte.

Ebenso das Riechen: Ihr Duft glich in seiner Vorstellung dem einer Rose und umschmeichelte seine Sinne.

Als fünfter Sinn kam das Fühlen: Ihre Haut, ihr Haar, und ihre ganze Statur fühlten sich wundervoll an und schmiegten sich zu 100% an seinen Körper.

Sein selbst erschaffenes Sensogramm wurde zu seinem Navigationssystem, das ihm ganz sicher den richtigen Weg aufzeigen würde. Als er eines Tages die Entscheidung fasste, felsenfest daran zu glauben, dass es diese ganz besondere Frau tatsächlich gab, und sie nach den gleichen Überlegungen IHN wählen würde, schwor er sich, mit keiner anderen mehr ausgeschweige denn ins Bett zu gehen, bis sie endlich vor ihm stehen würde.

„Hey, Träumer“, riss Jack ihn aus dem zweiten Wachtraum dieses Tages, „wollen wir uns Terminator ansehen und noch ein paar Bier trinken?“ Jonathan sah Jack unsicher an, offenbar irritiert, dass sein Freund ihn nicht in eine Bar im Rotlichtviertel schleppen wollte, und nickte: „Ja, prima, gute Idee“.

NEW YORK, CONOR MATHESON, 2019


In der Klasse herrschte das reinste Tohuwabohu. Erst als Conor die Zimmertür lautstark ins Schloss fallen ließ, bemerkten die tobenden Schüler die Anwesenheit ihres Mathelehrers. Mit hochroten Gesichtern, vollkommen aufgewühlt von den Raufereien in der Pause, begaben sie sich nun in wildem Durcheinander auf ihre Plätze.

Conor stand lächelnd neben seinem Pult und erinnerte sich an seine Schulzeit in der 3. Klasse. Es hatte sich seitdem nicht viel verändert. Zumindest nicht bei den Kindern in diesem Alter. Sie liebten es, ihre Kräfte zu messen, und verloren sich bei körperlichen Aktivitäten vollkommen im Hier und Jetzt, genau wie er und seine damaligen Klassenkameraden. Die älteren Schüler in den höheren Klassen, unterschieden sich in ihrem Verhalten allerdings sehr deutlich von denen aus seiner Zeit. Während man damals in Grüppchen zusammensaß und darüber grübelte, wie man die Welt verbessern konnte, hatte man heutzutage den Eindruck, dass jeder für sich allein blieb. Abgeschottet von der Außenwelt, galt ihre ganze Aufmerksamkeit nur einem einzigen Freund, dem Smartphone. Ob allein, am Schreibtisch sitzend, beim Gehen oder sonstigen Tätigkeiten, starrten sie auf das Display und chatteten mit bekannten und auch fremden Personen. Sie waren nie wirklich anwesend, zumindest hatte man den Eindruck, wenn man in ihre gelangweilten Gesichter sah.

Conor entschied sich relativ früh für seinen Beruf. Schon während der High-School stand für ihn fest: „Ich will Lehrer werden, und zwar Lehrer der Theologie und der Mathematik“. An seinem achtzehnten Geburtstag wurde er allerdings von etwas heimgesucht, das sein Bewusstsein vernebelte, ihm seine Klarheit nahm. Von da an konnte er seine Umwelt nur noch durch einen dicken, nahezu undurchlässigen Schleier wahrnehmen. Nicht, dass er sich dabei krank gefühlt hätte, nein, ganz im Gegenteil, er fühlte sich kraftvoll und lebendig. Trotzdem hatte sich irgendwie alles verändert. Er fühlte sich als Sonderling, als Einzelgänger.

Heute war aus seiner Sicht alles wieder in Ordnung, bis auf ein paar unerklärliche Blackouts, die er weder auf Alkohol noch auf Drogen zurückführen konnte, denn er nahm keine der beiden Substanzen im Übermaß zu sich. Er war auch durchaus davon überzeugt, eine Beziehung mit einem anderen Lebewesen eingehen zu können, doch einen Partner hatte er bislang nicht gefunden. Lag es vielleicht daran, dass er ein schräger Vogel war, der alles um sich herum mit Zahlen messen musste? Zugegeben, manchmal verlor er sich tatsächlich in seinen Berechnungen, ganz gleich ob es sich dabei um derart banale Dinge wie sein Haushaltsbudget drehte, den exakten Kraftstoffverbrauch seines Autos, oder die Dimensionen unseres Sonnensystems im Vergleich zur gesamten Größe des Universums. Alles, was sich um ihn herum abspielte, musste er auf irgendeine Weise berechenbar machen. Newtons Welt der Gravitation und Einsteins Relativitätstheorie fesselten ihn seit seiner Volljährigkeit so sehr, dass er sich heute oftmals darin verlor. Aber dennoch war er ein netter, aufgeschlossener Kerl, ein Mensch mit großem Herzen, wie man meinen könnte. Er war gepflegt, humorvoll, hatte ein ganz passables Einkommen und, wie er vor seinem Spiegelbild oftmals selbst betonte, sah er nicht übel aus.

Aufgrund seiner Liebe für den Kosmos, die der Schleier damals auch mit sich brachte, hatte er sich einen 3D-Beamer angeschafft, selbstverständlich mit allem was dazugehört. 3D-Brillen, eine für ihn selbst, zwei für mögliche Freunde, eine Soundanlage und unzählige Filme, natürlich alle rein wissenschaftlicher Natur. „Heute Abend sehe ich mir einen IMAX-Film an. Hubble in 3D. Hast du Lust rüberzukommen?“ fragte er Charly, das Handy dabei fest ans Ohr gepresst. Charly war ein Freund aus der Nachbarschaft. „Na klar, gerne. Ich habe diese Woche aber Bereitschaftsdienst. Kann sein, dass ich zwischendurch wegmuss“. Natürlich wusste Conor, dass Charly Sanitäter war und regelmäßig zu Einsätzen gerufen wurde. Er sagte oft zu dem schüchternen, liebenswürdigen Mann, dass er ihn für seinen Mut bewunderte. „Ich könnte das nicht“, betonte er immer wieder, „blutige Menschen aus dem Auto ziehen, davor gruselt es mich“. Dabei schüttelte er sich immer und schlug dem netten Charly anerkennend auf die Schulter: „Gut, dass es Menschen wie dich gibt“.

Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, klingelte es auch schon an der Tür. „Ich habe uns eine Tüte Chips mitgebracht. Ist gut für die Nerven“, lächelte Charly, der in voller Berufsmontur vor der Tür stand. „Mach es dir bequem, die Vorstellung geht gleich los“, sagte Conor aufgeregt. Er konnte es kaum abwarten, endlich ins All hinauszufliegen, wenn auch nur auf der Leinwand, die in seinem Fall eine nackte, weiß getünchte Wohnzimmerwand war. „Dreieinhalb Meter Bilddiagonale“, schwärmte er und Charly nickte anerkennend. Als sie beide auf der Couch platzgenommen und die 3D-Brillen aufgesetzt hatten, kommentierte Conor voller Vorfreude: „Tataaa, und nun geht’s los“. Allein das Intro entlockte den beiden Zuschauern ein entzücktes „Ahhh!“ Riesige Ziffern erschienen als Countdown auf der Bildfläche und flogen auf sie zu, woraufhin die beiden Männer unbewusst mit dem Oberkörper eine Ausweichbewegung machten und lachten. 5, 4, 3, 2, 1 und…. „Wow“ rief Charly begeistert, „das ist ja besser als im Kino“, und bemerkte dabei nicht, wie viel Stolz in diesem Moment in Conors Augen leuchtete, gerade so, als hätte er den Film selbst gedreht.

Dann hörten sie in gewaltigem Sound die Stimme von Leonardo DiCaprio, die ihren Ausflug ins Weltall begleitete. Zuerst führte er sie ins Spaceshuttle, dann in ein riesiges Wasserbecken, in dem die Astronauten ihre Arbeit in der Schwerelosigkeit trainierten, und letztlich zu den Geburtsstätten der Sterne. „Das ist Wissenschaft zum Anfassen“, postulierte Conor, wobei er das Gefühl hatte vor seiner Klasse zu stehen, um seine Faszination für Mathematik und Astrophysik zum Ausdruck zu bringen.

Genau wie Conor, liebte auch Charly seinen Job. Verletzten zu helfen, war seine Leidenschaft. Zum Medizinstudium reichte es allerdings nie. Es war nicht so, dass er dazu nicht genügend Grips gehabt hätte das Studium zu schaffen, nein, es war eher seine finanzielle Lage, die ihm das unmöglich machte. Er kam aus einem armen Haus, seine Eltern, Miguel und Bonita Rodrigues, beide mexikanische Einwanderer, hatten kaum genug Geld, um die sechsköpfige Familie zu ernähren. Von Kindesbeinen an musste er arbeiten, um seinen kargen Lohn mit der Familie zu teilen. Deshalb entschied er sich irgendwann für das Nächstbeste und wurde Rettungssanitäter.

Kurz nachdem er seine erste feste Anstellung hatte, zog er von Zuhause aus und mietete sich eine kleine Wohnung in Brooklyn. Nicht gerade die beste Lage, aber hier aus hatte er es nicht weit zur Arbeit, und es war ein Ort, an dem er ein beschauliches, und vor allem, anonymes Leben führen konnte, denn er trug ein Geheimnis mit sich herum, von dem niemand jemals etwas erfahren sollte. Nicht einmal seine Eltern wussten davon, und schon gar nicht seine früheren Freunde. Charly war nämlich schwul und dafür schämte er sich. Wenn seine Clique davon Wind bekommen hätte, wären sie über ihn hergefallen und hätten ihn vermutlich zu Tode geprügelt. Schließlich musste er das selbst oft genug mit ansehen. „Taco-Schwuchtel oder Latino-Schwuchtel“ nannten sie Seinesgleichen, und dann quälten sie die armen Schweine, traten auf sie ein, bis sie nur noch ein blutendes Häufchen Elend waren. Einige davon haben diese Tortur auch nicht überlebt. Deshalb verließ er seinen Heimatort und war dankbar dafür, so gute Nachbarn wie Conor zu haben.

Auch seine Kollegen waren zweifelsfrei nett, und ein paar von ihnen waren ebenfalls schwul, doch geoutet hätte er sich trotzdem nie.

Seine Angst, wegen seiner Homosexualität ausgeschlossen zu werden war größer, als sein Wunsch nach einer Partnerschaft und einem freien, selbstbestimmten Leben. Deshalb blieb er lieber allein, und im Grunde genommen existierte er nur für seine Arbeit. Wenn da nicht hin und wieder die Einladungen von Conor gekommen wären, hätte er nur selten Gelegenheit für private Gespräche gehabt. Doch glücklicherweise gab es diesen netten, charmanten Nachbarn. Bei ihm fühlte er sich sicher und geborgen, obwohl er nicht einmal ihm sein dunkles Geheimnis anvertraut hatte.

Doch er würde dies in Kürze nachholen, sagte er sich jedes Mal, wenn er Conors Wohnung wieder verließ, mit einem klitzekleinen Gefühl der Hoffnung in der Magengrube, dass er und Conor ein Paar würden.

NEW YORK, THERAPEUTISCHE PRAXIS

DR. WILLIAM SUTHERFORD, 2019


„Es ist immer der gleiche Traum“, begann Vanessa ihre Erzählung, während ihr Therapeut, William Sutherford, aufmerksam zuhörte und sich hin und wieder Notizen machte. „Da ist eine Frau in meinem Alter. Ihr Haar ist fast schwarz, schulterlang und sie ist wunderschön. Sie trägt ein hellgraues, wallendes Kleid mit langen Ärmeln und Fingerschlaufen“. Als sie bemerkte, dass ihr Therapeut bei dieser Beschreibung ahnungslos die Stirn in Falten legte, fügte sie unaufgefordert hinzu: „Das ist eine Fingerschlaufe“, sie streckte ihm eine Hand entgegen und deutete auf eine mit Spitzen besetzte Stoffapplikation am Ärmel ihrer roten Bluse. „Sehen Sie, die Schlaufe umschließt den Mittelfinger. Trägt sich super und ist sexy, finden Sie das nicht auch?“ Natürlich ging Sutherford nicht darauf ein und erwiderte gewohnt sachlich: „Danke für diesen Ausflug in die Haute Couture. Wollen Sie jetzt vielleicht mit Ihrer Erzählung fortfahren?“ Vanessa räusperte sich verlegen: „Äh, na klar, sorry. Also, ja, diese Frau besucht mich jede verdammte Nacht. Bevor sie mir erscheint, bildet sich um mich herum ein dichter, weißer Nebel. Aber nicht ich befinde mich im Nebel, sondern ich stehe quasi auf einer kreisrunden Lichtung, die von einer Nebelwand eingegrenzt ist. Dann schreitet die Frau durch die Wand und kommt zu mir auf die Lichtung. Sie ist sehr schön und ich fühle mich auf eine ganz besondere Weise zu ihr hingezogen. Es ist nichts Sexuelles…“, sie machte eine Pause und suchte nach den passenden Worten, bevor sie Sekunden später weitersprach: „Da ist eine unglaubliche Vertrautheit, für die ich keine Erklärung habe. Ich kenne sie schließlich nicht, auch, wenn wir uns auf eine gewisse Weise sogar ähneln. Und obwohl ich mittlerweile jeden ihrer Sätze auswendig kenne, bringt sie mich jedes Mal erneut aus der Fassung. Sie sagt, dass ich mich für sie rächen muss“. „Würden Sie mir bitte Wort für Wort erzählen, was genau sie Ihnen sagt, damit ich mir ein besseres Bild machen kann?“ unterbrach Sutherford seine Klientin. „Nun, äh, sicher, kann ich machen. Sind Sie bereit?“ Als Sutherford zustimmend nickte, schloss Vanessa die Augen, so als wollte sie sich willentlich in den Traumzustand versetzen, um ja kein Detail auszulassen. „Sie nennt mich bei meinem Namen: „Vanessa, du bist das Gefäß meiner Rache und mit mir bis in alle Ewigkeit verbunden. Deine Seele ist meine Seele und sie schreit nach Vergeltung. Wir müssen rächen, was man mir und meinem ungeborenen Kind angetan hat. Du musst den Mann töten, der das Blut meines Henkers in sich trägt. Und dies muss am 21. August 2019 geschehen“. Vanessa öffnete die Augen und sah blinzelnd zu ihrem Therapeuten, der offenbar alles mitschrieb, was seine Patientin ihm gerade anvertraute. „Hm“, brummte er, „das kommt mir bekannt vor“. „Soll das heißen, Sie kennen jemand mit demselben Traum?“ Er lächelte und antwortete: „Nein, die Träume sind anders, aber in ihrer Essenz stimmen sie miteinander überein. Ich will Sie auch nicht zu sehr verwirren“. Er überlegte kurz, bevor er weitersprach: „Sagen Sie, Vanessa, wurden Sie schon einmal von einem Mann körperlich verletzt? Vielleicht sogar vergewaltigt?“ Sie schluckte und dachte an den Moment in ihrem Leben, den sie lieber für immer vergessen hätte. Dann sagte sie: „Sie wollen wissen, ob ich diesen Mann so sehr hasse, dass ich ihn töten würde? Und der Traum soll dann wohl meinem rachsüchtigen Unterbewusstsein entspringen, stimmt´s?“ „Ja, so in etwa meine ich das“. Vanessa nickte und ein paar Tränen liefen ihr über die Wange. Sutherford gönnte ihr eine kleine Pause, bevor er mit seiner Befragung fortfuhr: „Wann genau trat der Traum zum ersten Mal auf?“ Sie zögerte kurz, doch dann erzählte sie ihm die ganze Wahrheit: „Der Traum kam zunächst zeitgleich mit meiner ersten Periode. Ich war damals zwölf Jahre alt. Dann hörte es plötzlich auf. Ich dachte schon, der Traum wäre für immer verschwunden, aber dann kam er wieder“. „Wann kam er wieder?“ Sie sah ihn jetzt mit großen Augen an. Ganz offenbar fühlte sie sich ertappt, und war gleichermaßen erstaunt, dass er ihr Geheimnis durchschaut hatte. Zögerlich beantwortete sie seine Frage: „Nachdem ich vergewaltigt wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt“. Wieder kräuselte der Therapeut die Stirn. „Stimmt was nicht, Doc?“ „Doch, doch, ich versuche mich gerade an einen anderen Fall zu erinnern“, erwiderte er, ohne seine Patientin in die Wahrheit seiner Vermutung einzuweihen. „Ich denke, wir sprechen beim nächsten Termin nochmal darüber“, sagte er und klopfte dabei gestenreich mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr. Vanessa verstand natürlich sofort, dass er die heutige Sitzung damit für beendet erklärte und stand auf. „Gut, dann bis nächste Woche, Doc“, sagte sie und ergriff seine riesige Hand, die er ihr lächelnd entgegenstreckte. Als sie sein Arbeitszimmer verließ, saßen sechs weitere Patientinnen im Wartezimmer und ihr wurde in diesem Moment bewusst, dass Sutherford offenbar wirklich einer der angesagtesten Psychotherapeuten auf Long Island war, wenn nicht sogar der angesagteste.

William Sutherford war nicht nur rein optisch eine sehr eindrucksvolle Persönlichkeit, sondern er hatte auch die Gabe, selbst den schwierigsten Patienten neue Perspektiven aufzuzeigen. Auch wenn keiner genau wusste woher er kam, und an welcher Universität er sich seine hervorragenden therapeutischen Kenntnisse angeeignet hatte, vertrauten sie sich ihm an.

Lag es vielleicht an seiner außergewöhnlichen Statur, die seinen Patienten Respekt einflößte, und er sie dadurch folgsam machte? Immerhin war er ein Hüne von 219 cm Länge, die er, wie er immer wieder scherzhaft sagte, seinen göttlichen Eltern mit einem gewissen Hang zur Mathematik und Spiritualität zu verdanken hatte. „Wissen Sie, meine Schöpfer glaubten an die Zahl Zwölf“. Da ihn seine Patienten daraufhin meist stirnrunzelnd ansahen, fügte er schelmisch hinzu: „Nun, die Quersumme von 219 ist 12. Und die 12 ist eine magische Zahl“. Wenn seine Zuhörer nach dieser Erklärung keine weiteren Fragen stellten, beließ er es dabei. Wer jedoch wissbegieriger war und ihn um eine nähere Erläuterung bat, den weihte er in sein Wissen ein: „Ich glaube, Sie sollten noch etwas mehr über die Zahl 12 erfahren“, bemerkte er dann gedankenversunken, bevor er fortfuhr: „Nun, die 12 ist schon seit jeher im Gedächtnis der Menschen verankert, ob das dem einzelnen bewusst ist oder nicht. Die 12 bestimmt auf gewisse Weise den allgemeinen Lebensrhythmus auf der Erde, aber auch das spirituelle Gedankengut ihrer Bewohner. Angefangen bei den 12 Stunden, welche die Länge eines Tages bestimmen. Das Jahr, das aus 12 Monaten besteht, die 12 Tierkreiszeichen, welche für astrologische Voraussagen und zur Deutung des persönlichen Schicksals herangezogen werden, sowie die 12 Chakren, welche die Schnittstellen zwischen der physischen und der feinstofflichen Welt darstellen. Das ist Ihnen vermutlich auch alles schon bekannt. Wie man sieht, beruhen viele Dinge auf dieser Zahl, doch das meiste davon blieb dem Menschen bisher verschlossen“. An dieser Stelle machte er stets eine Pause, um festzustellen, ob sein Gesprächspartner ihm auch tatsächlich folgen konnte. War dies der Fall, referierte er weiter. „Dazu gehört unter anderem die Tatsache, dass es in jeder Galaxie zwölf Planeten mit intelligentem Leben gibt. Das bedeutet, dass sich davon allein in der Milchstraße zwölf befinden. Geht man davon aus, dass dort genauso viele Menschen leben wie auf der Erde, haben wir rund 90 Milliarden Nachbarn in unmittelbarer Nähe. Und in jedem Universum gibt es so viele Galaxien, deren exakte Anzahl das Vorstellungsvermögen eines jeden Menschen übersteigt. Sie sehen, da draußen im All wimmelt es geradezu von Leben“. Während er das sagte, sah er jedes Mal aus dem Fenster und deutete mit dem Zeigefinger zum Himmel. Nach einer kurzen, aber sehr bewussten Unterbrechung, sprach er dann weiter: „Es gibt zwölf parallele Universen mit dem gleichen Setting wie das unsere. Diese Universen existieren zeitgleich, sind miteinander vernetzt, aber dennoch voneinander unabhängig. In ihrer Gesamtheit laufen alle Stränge im zentralen Schöpfungsbewusstsein zusammen. Das ist harter Tobak, ich weiß. Sie werden es aber irgendwann verstehen, vielleicht sogar schon nach ein paar Sitzungen“.

Auch wenn die meisten seiner Patienten danach einen äußerst verwirrten Eindruck machten, kamen sie alle wieder. Vielleicht war es gerade die schräge Art und Weise, wie er seine astronomische Weitsicht zum Besten gab, so als handelte es sich dabei ganz zweifellos um die unumstößliche Wahrheit, die seine Praxis aus den Nähten platzen ließ. Jeder, der einmal bei ihm war, empfahl ihn weiter, und alle verspürten schon bald eine Veränderung in ihrem Inneren. Es war ein Gefühl der Verbundenheit und der Gewissheit, dass sie nicht allein, sondern mit allen anderen Menschen in Liebe verbunden waren.

Hexenkolk - Wiege des Fluchs

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