Читать книгу Hexenkolk - Wiege des Fluchs - Thomas H. Huber - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 2
NEW YORK, JACK UND RACHEL 2019
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Er kam gerade aus der Dusche, als auf dem Display seines Smartphones eine WhatsApp-Nachricht von Rachel aufpoppte. Er kannte sie erst seit wenigen Monaten, traf sich aber öfter mit ihr, als mit allen anderen seiner weiblichen Bekanntschaften. „Hey, Süßer, kommst du zu mir? Bin heiß und warte auf dich“. Noch bevor er antworten konnte, kam die nächste Nachricht: „Ich habe mir gerade eine Flasche Champagner aufgemacht und mich in Stimmung gebracht. Du weißt doch, wie scharf ich auf Champagner werde, nicht wahr?“. Natürlich wusste Jack, wozu sie mit Champagner fähig war. Schon oft hatte er ihr die prickelnde Flüssigkeit aus sämtlichen Körperöffnungen geleckt und genau das war es, was er jetzt brauchte.
„Gib mir 30 min.“, schrieb er zurück. Dann lief er nach oben ins Schlafzimmer und zog sich an. Fünf Minuten später schnappte er sich den Schlüsselbund vom Sideboard neben der Haustür, und tippte voller Vorfreude die nächste Nachricht in sein Handy: „Bin auf dem Weg…lass den Slip an“. Allein der Gedanke an ihren Slip löste in ihm eine Erektion aus. Er liebte es, wenn er ihre intimste Zone selbst enthüllen konnte. Als er dies wahrnahm, musste er sich eingestehen, dass er scharf auf Rachel war, richtig scharf. Seit er sie zum ersten Mal getroffen hatte, veränderte sich etwas in ihm. Er dachte sehr oft an sie, was für ihn eine vollkommen neue Erfahrung war, denn normalerweise verschwendete er nicht den kleinsten Gedanken an eine Frau, zumindest nicht auf diese tiefe Weise. Doch seit er sich mit ihr traf, blitzten auch dann Bilder von ihr vor seinem inneren Auge auf, wenn er gerade mit einer anderen zusammen war. Nur der kleinste Impuls von Rachel reichte dann aus, und sein Penis erschlaffte vor den Augen seiner zeitweiligen Geliebten. Es kam ihm so vor, als würde sein bestes Stück nur noch in Rachels Vagina wollen, was ja irgendwie auch stimmte. Es blieb ihm in solchen Momenten dann nichts anderes übrig, als sich für seine Ladehemmung zu entschuldigen: „Hey, sorry, zu viel Stress im Büro“, sagte er dann überaus theatralisch und suchte daraufhin möglichst schnell das Weite. Rachel hatte es ihm angetan, ob er das wahrhaben wollte oder nicht. Natürlich hätte er dies aus Scham vor seinen anderen Kumpels nie erwähnt, denn dazu war er zu sehr Macho. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er am Haken hing. Er saß in Rachels duftender, erotischer Falle.
Als er ankam, erwartete sie ihn bereits unter der Wohnungstür, nackt, bis auf einen rubinroten Seidenschlüpfer. Ihr blondes Haar bedeckte beide Brüste und nur schemenhaft schimmerten ihre gekräuselten Brustwarzen hervor. Mit leuchtenden Augen umschlang er sie und trug sie ins Schlafzimmer. Rachel war der Garant für unkomplizierten Sex und ausschweifende Orgien. Sie tranken, schnieften massenweise Kokain und trieben es an allen erdenklichen Orten. Ob in der Kirche, im Supermarkt, im Kino, oder auf der Rückbank eines Taxis. Rachel und Jack ließen einfach keine Gelegenheit aus. Es war auch wirklich leicht mit ihr, denn sie sprach deutlich aus was sie wollte, und was nicht. „Du kannst mich überall anfassen, aber mein Anus ist Tabu, verstanden?“
Jack akzeptierte und respektierte ihren Wunsch, denn schließlich war der Rest der sexuellen Möglichkeiten auf dem Spielfeld ihres wunderschönen Körpers wirklich ausreichend. Rachel war unglaublich kreativ und schaffte es immer, ihn heiß zu machen, aber er ließ sie nie wissen, dass er bei ihr überhaupt keine besondere Stimulation benötigte, sie musste einfach nur da sein, das war alles.
Nachdem sie an diesem Abend dreimal Sex hatten, im Bett, unter der Dusche und auf dem Esstisch, kramte Rachel nervös in ihrem Schuhschrank herum. „Irgendwo muss es doch sein, zur Hölle“. Dann griff sie in einen schwarzen Lacklederstiefel und rief: „Yeah, da bist ja, du kleines Scheißerchen“. Mit einem weißen Tütchen in der Hand ließ sie sich neben Jack auf die Couch fallen: „Der Stoff, aus dem multiple Orgasmen gemacht werden“. Sie zog zwei zehn Zentimeter lange Linien auf dem Tisch, während Jack bereits einen Geldschein zusammenrollte. „Eine für dich, eine für mich. Ich lasse dir den Vortritt“, lachte sie, „zieh du dir schon mal den Heißmacher rein, während ich uns noch eine Flasche Schampus aus dem Kühlschrank hole“. Als sie nur wenige Minuten später mit einer bereits offenen Flasche in der Hand zurückkam, war Jack am Grinsen: „Du glaubst ja nicht, wie dieses Zeug bei mir wirkt. Ich könnte schon wieder über dich herfallen“. Dass er seine Linie nicht geschnieft, sondern mit der Hand vom Tisch gewischt hatte, um das feine Pulver danach im Flokati zu verteilen, behielt er für sich. Er brauchte das Zeug nicht, um einen hochzukriegen, nicht bei Rachel, sie war sein Kokain. Außerdem vermied er den Konsum dieser Droge schon seit Jahren, um seine ohnehin rastlose Seele nicht noch mehr in Wallung zu bringen. Nur wenn Rachel anwesend war machte er eine Ausnahme, um sie mit einer Ablehnung nicht aus ihrer Partylaune zu reißen. Der Gedanke, wieviel des teuren Stoffes er bisher schon im langhaarigen Teppich unter dem Couchtisch verteilt hatte, entlockte ihm jetzt ein Lächeln: „Sie hat vermutlich den wertvollsten Staubsaugerbeutel der Stadt, den ein Müllkutscher einfach so in die Deponie wirft, ohne zu ahnen, dass er beim Verkauf des Inhalts früher in Pension gehen könnte“. Das Lächeln auf seinen Lippen wurde dann noch etwas verstärkt, als Rachel ihn fragte: „Willst du mich mit der Zunge verwöhnen?“ „Das musst du mich kein zweites Mal fragen“, antwortete er, ließ sich von der Couch auf den mit Kokain angereicherten Flokati rutschen, während sie einen Fuß auf die Couch stellte, sodass er von unten an sie herankommen konnte. Nach drei Orgasmen hintereinander konnte sie nicht mehr.
„Komm, zieh dich an, wir gehen aus“. „Was hast du vor, Rachel?“ „Lass dich überraschen, Süßer“. Dann zogen sie sich an und Jack checkte unauffällig sein Handy. Es war mittlerweile nach Mitternacht und Sandy, eine seiner anderen Freundinnen, hatte ihm drei Nachrichten hinterlassen.
23: 00 Uhr: „Hey, Jack, kommst du zu mir?“
00: 10 Uhr: „Warum meldest du dich nicht?“
00: 45 Uhr: „Na gut, dann gehe ich jetzt schlafen“.
„Ja, träum süß“, grinste Jack, „morgen ist auch noch ein Tag“. In letzter Zeit hasste er sich manchmal dafür, dass er neben Rachel noch andere Frauen am Start hatte. Aber das jahrelange Singleleben hatte in ihm Gewohnheiten geschaffen, die sich so schnell nicht abstellen ließen, auch wenn Rachel ihn in jeglicher Hinsicht vollkommen zufriedenstellte. Sie war wild, sie war purer Stress, und sie war die stürmische See voller Abenteuer. Er war süchtig nach ihr, und er war süchtig nach Leben. Rachel war schön und hatte Klasse. Sie wusste, wie sich eine Frau anzuziehen hatte, um die Blicke der Männer auf sich zu ziehen. Sie war eine dieser ganz besonderen Frauen, die im Grunde genommen alles tragen konnten und auch im hässlichsten Fummel elegant und sexy aussahen, auch wenn er sie noch nie mit schlabberigen Jogginghosen oder Sweatshirt gesehen hatte. Für Jack stand jedenfalls fest: „Sie ist der personifizierte Sex auf zwei Beinen, sehr schönen Beinen, wohlgemerkt“. Dann kamen noch das ganze Koks und der Alkohol hinzu, alles Substanzen, die es offenbar vermochten, ihrer beiden Hemmschwellen bis auf das Fundament einzureißen, wie ein Tsunami es mit ganzen Städten vollbringt.
Als Rachel zurück ins Wohnzimmer kam wusste er, dass der Vergleich mit einem Tsunami den Nagel ziemlich genau auf den Kopf getroffen hatte. Sie trug ein hellgraues, wallendes Kleid mit langen Ärmeln und Fingerschlaufen. Der hauchdünne Stoff ließ ihre knackigen, sonnengebräunten Brüste verheißungsvoll hindurchschimmern. Darunter leuchtete ihr roter Slip wie ein Werbebanner auf dem stand: „Komm, nimm mich, Jack!“ Ihre schlanken, straffen Beine steckten in schwarzen Lackstiefeln, die ihr bis knapp über die Knie reichten. Natürlich hatte er keine Ahnung, dass sie sich nur deshalb so angezogen hatte, weil sie damit genau wie die Frau aus ihrem immer wiederkehrenden Traum aussah. Sie folgte damit einer Aufforderung, die aus ihrem tiefsten Inneren kam, so als würde eine andere Person darüber bestimmen, sich so zu kleiden. Mit offenem Mund starrte Jack sie an: „Was hast du jetzt vor, meine Schöne?“ Rachel antwortete knapp: „Wart‘s ab, wir machen einen kleinen Ausflug, komm jetzt!“ Kurz darauf saß sie hinter dem Lenkrad ihres Mazda MX-5 Roadster, während Jack sich in den Beifahrersitz des kleinen Cabriolets zwängte. Dann öffnete sie das Dach und sagte: „Mir ist heiß, die kühle Nachtluft wird mir guttun“. Sie trat das Gaspedal durch und sie rasten unter einem klaren, sternenbedeckten Himmel in Richtung Süden.
HERVORDIA (Hansestadt-Herford), 21. August 1627
PRIESTER KONSTANTIN ALBA
„Guten Morgen, Hochwürden, schönes Wetter heute, ne?“ rief Mathilde, die Frau des Bäckers, Priester Konstantin Alba über die Straße zu. „Guten Morgen, Mathilde“, erwiderte der Geistliche, und winkte freundlich, jedoch ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Zwar mochte er die Bäckersfrau, wusste aber auch, dass sie gern mal ein kleines Schwätzchen hielt, dem man nur sehr schwer entkommen konnte. Schon oft hatte sie ihn am Ärmel seines Gewandes in die Backstube gezogen und in ein Gespräch verwickelt, welches nach wenigen Minuten in einem langatmigen Monolog endete. Da er heute dafür keine Zeit hatte, wechselte er, in weiser Voraussicht, schon ein paar Meter vor der kleinen Backstube die Straßenseite. Er war auf dem Weg zur St. Marien-Kirche, die außerhalb der Stadt auf dem Stiftberg lag. Das Gotteshaus wurde Anfang des 14. Jahrhunderts errichtet, um einer Marienerscheinung zu gedenken, die um das Ende der Jahrtausendwende in Erscheinung getreten sein soll. Der Legende nach war es ein Hirte oder Bettler, dem die Jungfrau Maria in strahlendem Licht erschienen war, als er gerade auf dem Weg zum Kloster um Almosen bettelte.
Priester Alba war ein vom Vatikan abgesandter Hüter dieser Marienerscheinung und er bewohnte seit vielen Jahren eine kleine Wohnung im Ortskern. Da er sich zu den liberalen Katholiken zählte, fühlte er sich in der überwiegend protestantischen Stadt sehr wohl. Herford war für Gläubige der unterschiedlichsten Religionen ein ganz besonderer Ort, denn obwohl sie unmittelbar zum Katholischen Reich gehörte, gab es kein Landesherr, der eine bestimmte Konfession vorgeschrieben hatte. Dadurch entwickelte sich Herford zu einer Stadt, die offen war für viele fremde Kulturen und Glaubensrichtungen.
Man schätzte sich gegenseitig und gestattete jedem, seine religiöse Meinung zu vertreten, ohne ihn dafür zu bestrafen oder zu diskriminieren. Die Bürger Herfords waren weltoffen und stolz darauf, ein Teil dieser Stadt zu sein. Für Männer wie Alba, die zölibatär und normalerweise unter strenger Aufsicht lebten, bedeutete dies viel Freiheit. Deshalb war er nicht nur hier, weil er es musste, sondern weil er diesen ganz besonderen Ort von Herzen liebte. Und genauso wurde er von den Bewohnern anerkannt und geschätzt. Seine Aufgabe bestand nicht darin zu predigen, denn er leitete keine Kirchengemeinde, sondern er kümmerte sich ausschließlich um den Erhalt des Mariendenkmals und gab den Pilgerscharen Gottes Segen, die täglich kamen und Marias Gnade erflehten. Natürlich gab es in der Stadt nicht nur freudige Ereignisse, sondern seit vielen Jahrzehnten wurden dort auch abgrundtief schlechte Dinge begangen, und das unter dem Deckmäntelchen der Frömmigkeit. Das Werk am Hexenkolk wurde von seiner Glaubensgemeinschaft ins Leben gerufen, und er fühlte sich dafür schuldig. Auch wenn der Klerus längst Handlanger aus den Reihen der städtischen Ratsmitglieder die Drecksarbeit machen ließ, war seine Kirche der Auslöser dieser Misere. Konstantin setzte sich wohl nicht offiziell dafür ein, dieser Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten, doch gutheißen konnte er es nicht.
Er distanzierte sich deutlich von dem Hexenwahn und tat auch seine Meinung kund, sofern man ihn darum fragte. Aufgrund seiner aufgeschlossenen Art und seinem Sinn für Nächstenliebe, war er bei den Herforder Bürgern und auch bei seinen protestantischen Kollegen ein gern gesehener Gast. Kurzum, der Priester war ein gottesfürchtiger Mann mit hellem Verstand und einem ebensolchen Herzen. Und genau dieses liebevolle Herz wollte irgendwann mehr, als der Zölibat ihm erlaubte. Er verliebte sich in eine Frau, genauer gesagt in Magdalena, die Tochter eines Bauern. Zunächst trafen sie sich heimlich, doch schon bald wollte Magdalena mehr. „Konstantin, ich liebe Euch, und flehe Euch an: Pfeift auf das Zölibat“. Da sie ihn mit ihrer Bitte in die Enge trieb, antwortete er zunächst etwas harsch: „Wir Priester bevorzugen den Artikel „der“. Es heißt also der Zölibat, auch wenn der Volksmund dies anders sieht“. Als er bemerkte, dass er sie mit seiner abweisenden Haltung verletzte, fügte er in sanfterem Ton hinzu: „Magdalena, das kann ich nicht. Wenn man das im Vatikan erfährt, bin ich erledigt“. „Wollt Ihr mit dem Papst zusammen sein oder mit mir? Ihr habt die Wahl“. Doch konnte er tatsächlich wählen? Er hatte Gott die Treue geschworen und Keuschheit war schließlich ein Teil dieses Schwurs. „Was ist das nur für ein Gott, an den Ihr da glaubt? Wie kann er Adam und Eva erschaffen, und sie dann nicht zusammenleben lassen“. „Magdalena, mein Herz, ich bin kein normaler Mann. Ich bin ein treuer Diener Gottes!“
Sein Freund und Vertrauter, Johannes Bredenkamp, er war ein protestantischer Pfarrer, sagte unzählige Male zu ihm: „Das mit dem Zölibat ist eine kranke Sache, sage ich Euch. Die Triebe sind stärker als alles andere. Wer glaubt, sie beherrschen zu können, bewegt sich auf sehr dünnem Eis. Ich will nicht darüber nachdenken, was die Priester Eurer Zunft alles tun, um diese heimlich zu stillen. Die nutzen vermutlich jede Gelegenheit, um sich abzureagieren, und vertuschen danach alles, weil sie sich davor fürchten, dass Gott ihre Taten verurteilen könnte. Mein lieber Konstantin, ich frage Euch wirklich: Wollt Ihr ein solches Leben führen? Ein Leben voller heimlicher Gelüste, stets mit der Angst im Nacken, Gott könnte Euch dafür bestrafen. Habt Ihr Euch schon einmal gefragt, was mit Eurem Herzen passieren würde, wenn Magdalena Euch plötzlich nicht mehr liebte?“ Dieser Gedanke trieb dem Priester ein paar Tränen in die Augen, die er ungeschickt mit dem Handrücken abzuwischen versuchte. Es blieb allerdings nur bei einem sehr kläglichen Versuch, denn plötzlich öffneten sich sämtliche Schleusen und Konstantin brach zitternd in sich zusammen. Die Vorstellung, Magdalena könnte sich von ihm abwenden, weil er lieber den Gesetzen der Katholischen Kirche folgte und nicht seinem Herzen, war das entscheidende Element in seiner Gedankenkette. Seine Angst, durch einen Bruch des Zölibats Gottes Liebe zu verlieren, war groß, doch die Angst, Magdalena könnte ihn verlassen, war letztlich größer.
So setzte er sich an einem verschneiten Januartag im Jahr 1627 an seinen Schreibtisch und verfasste einen Brief an Papst Urban VIII. Darin bat er seine Heiligkeit um Nachsicht, dass er, Konstantin Alba, sich dazu entschieden hatte, von seinem Amt zurückzutreten. Um dem Papst möglichst wenig Angriffspunkte zu bieten, erwähnte er nichts von seiner Liebe zu Magdalena.
Es vergingen sieben Monate, bis ein Bote des Vatikans ihm endlich das langersehnte Antwortschreiben des Heiligen Vaters überbrachte. Mit zitternden Händen zerbrach er das päpstliche Siegel und las mit ebensolcher Stimme die Antwort des Kirchenoberhauptes. Darin stand, dass man nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen sei, sein Rücktrittsgesuch anzunehmen. Allerdings bat der Papst ihn darum, sich trotz seiner Amtsniederlegung weiterhin um den Ort der Marienerscheinung zu kümmern. Dafür wollte man ihn wie bisher entlohnen. Auch die Priesterkleidung sollte er weiterhin tragen, um nicht zu viel Aufsehen in der Bevölkerung zu erregen. Als Abschlusssatz schrieb der Heilige Vater, dass man keinen Priester finden konnte, der im protestantischen Herford diese Arbeit übernehmen wollte. Konstantin traute seinen Augen nicht und las den Brief erneut. Anschließend noch drei weitere Male, bevor er voller Freude zu Magdalena lief, um ihr den Brief aus dem Vatikan zu zeigen. Die beiden waren außer sich vor Glück, und als ihre Freudentränen versiegt waren, liefen sie zu Johannes, der die Trauung durchführen sollte. Nach einem kurzen Blick in seinen Kalender entschieden sie sich für den 21. August 1627.
Und dieser große Tag war nun gekommen.
Als er die Steigung zur Kirche am Stiftberg überwunden hatte, blieb er schnaufend stehen und blickte hinunter auf die Stadtmauer. „Herr Gott, ich danke dir“. Dann betrat er die Kirche, um nachzusehen, ob für die Hochzeit, die am Nachmittag stattfinden sollte, alles in Ordnung war. Außer ihm war niemand hier und seine aufgeregten Schritte hallten laut durch das Gewölbe. Am Altar bekreuzigte er sich und kniete nieder. Während er im stillen Gebet seinem Schöpfer dankte, spürte er, wie ein kühler Luftzug seine Soutane umspülte. „Ungewöhnlich für diese Jahreszeit“, dachte er, zumal es gerade an diesem Sommertag außergewöhnlich heiß war. Als er seine Augen wieder öffnete bemerkte er von hinten einen Schatten über sich kommen, der nahezu den ganzen Altar überdeckte. Langsam stand er auf und drehte sich um. Sein Blick fiel auf einen baumgroßen Mönch mit bernsteinfarbenen Augen. Er fühlte sich im Vergleich zu diesem Hünen wie ein Zwerg. „Was wollt Ihr? Was kann ich für Euch tun?“ fragte er unsicher. Der Mönch sah auf ihn hinab und erwiderte mit sehr tiefer Stimme, die dem Brummen eines Bären gleichkam: „Ich habe ein Geschenk für dich“. „Was…was für ein Geschenk?“ stammelte der Priester verwirrt. „Ich schenke dir ewiges Leben“. „Ewiges Leben? Wer bist du?“ Wieder erfüllte die gewaltige Stimme des Mönchs den Raum: „Ich bin Noah, der Oberste Wächter des Universums, und ich will deinen Körper. Ich werde dich unsterblich machen, doch dein Leib soll mir dienen, jetzt, und bis in alle Ewigkeit“.
Dann wurden Konstantins Knie weich, aber er war dennoch weit entfernt von einer Ohnmacht. Der heutige Tag sollte der glücklichste seines Lebens werden, da durfte er sich keine Schwäche erlauben. Er starrte den fremden Riesen ungläubig an, brachte jedoch kein Wort mehr über die Lippen. Der Mönch packte ihn unter den Achseln und zog ihn zu sich hinauf, bis ihre Augen auf einer Höhe waren. „Hab keine Angst, Menschlein, es geht ganz schnell“.
Plötzlich kroch eine Art Nebel aus dem Mund des Mönchs, und umwaberte Konstantins Gesicht. Es war ein kühler, trockener Nebel, geradeso wie der Luftzug vor wenigen Minuten. Er spürte, wie die wabernde Masse über seine Lippen trat und die Kehle hinunterglitt. Währenddessen erschienen Bilder vor seinem geistigen Auge, schreckliche Bilder, voller Blut und Verderben. Frauen, Männer und Kinder, die missbraucht und gequält wurden. Er sah Menschen grauenvoll sterben und er sah, dass er es war, der diese Taten begangen hatte. „Neeeiin, das war ich nicht. So etwas könnte ich niemals tun“, schrie er voller Furcht und Abneigung. Aber als der Nebel vollkommen in ihm verschwunden war, wusste er, dass es die Erinnerungen des Mönchs waren, der nun seinen Körper und seine Seele in Besitz genommen hatte. Als er einen letzten Blick nach außen richtete, konnte er erkennen, dass der Riese in der Kutte zu seinen Füßen lag. Dann senkte sich eine abgrundtiefe Dunkelheit auf seinen Geist hernieder.
NEW YORK, JONATHAN KRAMER
Dr. WILLIAM SUTHERFORD TEIL 1
21. AUGUST 2019
Es war ein Dessous Geschäft. Kein namhaftes, wie Victoria's Secret oder Bravissimo, nein, es war ein sehr unscheinbarer Laden mit dem Namen „Lady´s“. Unsicher trat er über die Türschwelle und erschrak fürchterlich, als dabei eine schrille Glocke aufheulte. Offenbar wurde diese über einen Bewegungsmelder aktiviert und kündigte mit einem wahnsinnigen Lärm neue Kundschaft an.
Sogleich kam eine Verkäuferin mit breitem Lächeln auf ihn zu. Sie war die Art Frau, vor der Jonathan sich insgeheim fürchtete. „Ein Vamp“, durchzuckte es ihn. Sie hatte nahezu hüftlanges, schwarzes Haar, welches im Neonlicht bläulich schimmerte. Sie trug ein sehr enganliegendes, karminrotes Kleid, das bis knapp über ihre Knie reichte und schwarze, wildlederne High-Heels. Ihr Lippenstift, im gleichen Rot wie ihr Kleid, ließ ihren Mund riesig aussehen, und wurde auf diese Weise zu einem optischen Highlight, das perfekt zu ihren Brüsten passte, die üppig aus dem Dekolleté quollen. Jonathan hielt einen gebührenden Sicherheitsabstand, lächelte aber freundlich zurück. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte sie noch immer strahlend. Jonathan fragte sich, ob ihr Lächeln das Ergebnis einer Schönheitsoperation war, sozusagen eine in Stein gemeißelte Permanent-Mimik, da sich ihre Gesichtszüge niemals zu verändern schienen. Jonathan hätte Gabrielle, ihr Name stand auf einem goldenen Namensschild, das unterhalb ihres gewaltigen Ausschnitts baumelte, nicht unbedingt als echte Schönheit bezeichnen können, aber hässlich fand er sie auch nicht. So entschloss er sich, sie unter charismatisch, interessant und einzigartig einzustufen, aber unter keinen Umständen sah sie der Frau ähnlich, die er zwei Tage zuvor im Schaufenster gesehen hatte. Verlegen trat er von einem Bein aufs andere, bevor er räuspernd hervorbrachte: „Hören Sie, äh, Gabrielle, ich…. Ich, äh…“ Gabrielle musterte ihn grinsend und fiel ihm in sein Stammeln: „Hören Sie…, wie ist Ihr Name?“ „Jo…Jon…Jonathan, ich heiße Jonathan!“ Dann schwieg sie und zog angestrengt ihre Augenbrauen zusammen. „Oh, sie kann ihre Gesichtsmuskulatur ja doch steuern“, dachte Jonathan, als Gabrielle ihn mit ungläubigem Blick fragte: „Sie sind Jonathan Kramer, der Schriftsteller, stimmt´s?“ Jonathan, der leidenschaftlich gerne schrieb, von der dazugehörenden Publicity aber nichts wissen wollte, antwortete nur knapp: „Ja, das stimmt!“. „Oh mein Gott“, jaulte Gabrielle, „Jonathan Kramer, der berühmte Autor, ist in meinem Laden. Ich fühle mich geehrt“. Sie erweckte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment die Tür aufreißen und die Neuigkeit hinaus auf die 5th Avenue brüllen. „Ist ja gut“, beschwichtigte Jonathan, sichtbar peinlich berührt von der überschwänglichen Reaktion der Ladenbesitzerin. „Ich habe Ihren Roman förmlich verschlungen. Der ist ja so was von spannend. Ganz besonders hat mir die Szene gefallen, in der man den Pfaffen festnimmt und es sich herausstellt, dass er tatsächlich der Mörder dieser Kinder war. Herrlich! Dürfen sich Ihre Leser schon auf ein neues Buch von Ihnen freuen?“ Ohne seine Reaktion abzuwarten, redete sie weiter: „Ach, schön, Jonathan, ich darf sie doch Jonathan nennen, nicht?“ Auch jetzt gab sie ihm keine Chance, ihre Frage zu beantworten „Hören Sie, Jonathan, hier kommen täglich Männer rein, die ihrer Frau etwas Schönes kaufen wollen. Seien Sie also ganz entspannt. Ich berate Sie gerne. Wer ist denn die Glückliche?“ Jonathan, dem nun fast der Geduldskragen platzte, starrte auf ihre roten Lippen und rang nach freundlichen Worten: „Ja, äh, Gabrielle, eigentlich möchte ich nichts kaufen, sondern…“ Nun wich Gabrielle, sichtbar irritiert, einen Schritt zurück, bevor sich wieder ihr bizarres Lächeln auf ihrem glatten Gesicht ausbreitete: „Nein, wie dumm von mir, Sie sind auf der Suche nach neuem Stoff für Ihr nächstes Buch, richtig? Oh mein Gott, dieser Tag wird der aufregendste in meinem Leben“. Wieder versuchte Jonathan Ruhe zu bewahren und erwiderte sachlich: „Nein, Gabrielle, das ist es auch nicht“. „Ach, und warum sind Sie dann hier?“ antwortete sie jetzt sichtbar brüskiert, während sie ihren berühmten, aber durchweg unschlüssigen Besucher, von Kopf bis Fuß musterte. Auf Jonathans Stirn bildeten sich ein paar kleine, glänzende Schweißperlen und seine Kehle trocknete aus wie die Serengeti im Hochsommer. Instinktiv nahm er den un-ausgeglichenen Wasserhaushalt seines Körpers wahr, schluckte daraufhin ein paar Mal angestrengt, und sagte schließlich mit zögerlicher Stimme: „Ich suche meine, äh, ich suche eine Frau“. Da begann Gabrielle donnernd zu lachen: „Da sind Sie bei uns aber falsch, mein Lieber. Wir ziehen Frauen an, nicht aus“. Jonathan versuchte über das kehlige Lachen der Verkäuferin hinwegzugehen und fasste nach: „Haben Sie vielleicht eine Kollegin? Sie ist etwa 165 cm groß, braunes, schulterlanges Haar, schlank, und damit meine ich nicht dürr“. Gabrielle rief über ihre Schulter hinweg, ließ Jonathan dabei aber keine Sekunde aus den Augen: „Mandy, kommst du mal?!
Dein Typ wird verlangt. Hier ist Jonathan Kramer, du weißt schon, der Schriftsteller. Er verlangt nach dir“. Dann drehte sie sich um, ließ Jonathan stehen und stöckelte auf ihren hohen Absätzen in Tippelschritten davon, da ihr enges Kleid sie zu dieser Art der Fortbewegung zwang. Kurz darauf kam besagte Mandy in den Verkaufsraum und Jonathan wusste im ersten Moment, dass auch sie es nicht war. Sie war durchaus sein Typ, gemessen an der allgemeinen Bedeutung des Begriffs „Beuteschema“, aber weit entfernt von seiner Idealvorstellung. Früher hätte er sie vielleicht auf einen Drink oder ein nettes Abendessen eingeladen. Doch heute war das für ihn eine unmögliche Vorstellung. Schon im Abstand von fünf Metern wurde ihm klar, dass sie den Anforderungen seines Sensogramms nicht standhielt. Zugegeben, sie war tatsächlich 165 cm groß, ihre Haare und ihre Figur entsprachen schon irgendwie seiner Vorstellung, aber sie hatte weder grüne, noch bernsteinfarbene Augen, und als sie den Mund aufmachte, wusste er wie wichtig es war, auf seine Sinneswahrnehmungen zu achten.
„Hallo, Sie suchen nach mir, Mr. Kramer?“ fragte sie sehr freundlich, jedoch mit einer impertinenten Piepsstimme, die Jonathan erschaudern ließ. Mit gekräuselter Stirn und einem Summen im Ohr, antwortete er: „Äh, wissen Sie, ich glaube, ich habe Sie verwechselt“. Er fühlte sich schlagartig elend. Wie konnte er nur so oberflächlich sein und Menschen im Allgemeinen, und Frauen im Besonderen, nach ihren äußeren Qualitäten einstufen.
„Ah, verstehe“, antworte Mandy mit gesenktem Blick und erweckte mit ihrer Haltung bei ihm den Eindruck, als wäre sie zutiefst enttäuscht, auch wenn das vermutlich nur auf sein schlechtes Gewissen zurückzuführen war. „Verzeihen Sie mir“, sagte er unbeholfen, „tut mir wirklich leid. Ich dachte…“. Dann verstummte er und Mandy antwortete: „Ist schon okay. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“. Da er sich sicher war, seine Frau hinter diesem Schaufenster gesehen zu haben, überlegte er kurz und legte noch eine Frage nach: „Gibt es hier vielleicht noch eine Kollegin, die Ihnen ähnlichsieht?“
Mandy legte nachdenklich einen Zeigefinger auf ihre Lippen, eine Geste, die in Jonathan freudige Erwartung aufsteigen ließ. Doch dann sagte sie äußerst frostig: „Nein, tut mir leid. Schönen Tag noch, Mr. Kramer“. Sie drehte sich um und Jonathan verließ niedergeschlagen das Dessous Geschäft. Er blickte kurz auf seine Armbanduhr und machte sich zu Fuß auf den Weg zum New York Plaza.
Er war dort um 13: 30 Uhr mit einem Reporter der Times verabredet, der mit ihm ein Interview hinsichtlich seines neuen Romans machen wollte.
Um 15: 00 Uhr stand dann ein ganz besonderes Event auf seiner Agenda, ein Vortrag von einem gewissen, Dr. William Sutherford, dem der Ruf eines hervorragenden Paar- und Beziehungstherapeuten vorauseilte. An diesem Tag wollte er die jüngsten Erkenntnisse aus seiner Praxis der Öffentlichkeit vorstellen. Die Überschrift seines Vortrags lautete „Das Adam und Eva Syndrom“, mit dem Untertitel „Warum wir auf der Suche nach unserem Seelenpartner sind“. Doch dieses vielversprechende Thema war nicht der alleinige Grund, warum Jonathan sich auf den Vortrag freute, sondern hinzukam, dass sein Freund Jack sich ihm anschließen wollte. „Was, Jack der Womanizer und eingefleischte Single will sich so etwas antun? Das glaub ich nicht! Ist wohl doch etwas Ernstes mit Rachel, oder etwa nicht?“ hörte er sich nun erneut sagen, während er sich seinen Weg durch den Fußgängerstrom bahnte.
Als er eine gute Viertelstunde zu früh im Plaza eintraf, setzte er sich in einen der bequemen Ledersessel in der Champagner Bar und bestellte sich eine Tasse Kaffee und ein Glas stilles Wasser. So richtig konzentrieren konnte er sich allerdings nicht, da seine Gedanken nach wie vor um den Zwischenfall auf der 5th Avenue, und um die jüngste Enttäuschung im Lady‘s kreisten.
Müde sah er sich in der betriebsamen Bar um, bis sein Blick direkt neben dem Tresen auf ein Plakat fiel, das auf Sutherfords Vortrag hinwies. In fetten Lettern stand darauf geschrieben: „Das Adam und Eva Syndrom“ ein Vortrag des berühmten Psychotherapeuten, Dr. William Sutherford. Mittwoch, den 21. August, um 15: 00 Uhr im Grand Ballroom des New York Plaza. Eintritt frei.
„Warum er das wohl kostenlos anbietet?“ murmelte Jonathan überrascht, „ist er so reich, dass er das Geld nicht braucht? Oder ist er so schlecht, dass er es sich nicht traut, etwas dafür zu nehmen?“ Er entschied, dass mit Sicherheit die erste Option die richtige war, denn schließlich war der Therapeut sehr berühmt. Dann erinnerte er sich wieder an sein bevorstehendes Interview und sah auf seine Armbanduhr: „Der Reporter wird gleich da sein“. Und gerade als er das dachte, klingelte sein Smartphone, es war Steve Jameson, der Kolumnist der New York Times. „Hören Sie, Jonathan, es tut mir furchtbar leid, aber ich muss unseren Termin absagen. Ich habe einen Trauerfall in der Familie“. „Oh, das ist ja furchtbar. Mein herzliches Beileid“. „Danke, Jonathan. Ich melde mich, sobald wieder etwas Ruhe eingekehrt ist, einverstanden?“ „Natürlich“, antwortete Jonathan betroffen, freute sich aber im Stillen, dass er dadurch ganz sicher pünktlich zum Vortrag des Therapeuten kommen würde. „Dr. Sutherford“, murmelte er, „noch nie etwas von ihm gehört“. Wenige Minuten später stand er in einer Schlange von mehr als fünfzig Menschen, die sich bereits vor dem Ball-Room gebildet hatte. Und schnell rückten neue Besucher nach, sodass die Lobby schon bald aus allen Nähten zu platzen drohte. „Ein unglaublicher Andrang?! Und das an einem Mittwoch. Wann Jack wohl hier sein wird?“, murmelte Jonathan leise, jedoch nicht leise genug um nicht gehört zu werden, denn der Mann hinter ihm fühlte sich sofort angesprochen und antwortete in konspirativem Unterton: „Also, ich dachte mir das schon. Wenn Sutherford, der Magier unter den Therapeuten, die Menschen zu sich ruft, kommen alle, selbst an einem heiligen Feiertag“. „Ach, dann kennen Sie ihn wohl. Ich habe noch nie etwas von ihm gehört“, sagte Jonathan schulterzuckend. „Was, Sie kennen ihn nicht?“ antwortete der Mann entsetzt, wobei sein abfälliger Blick schweigend hinzufügte: „Crétin!!!“ Nachdem er Jonathan sekundenlang argwöhnisch von Kopf bis Fuß gemustert hatte, sprach er allein schon deshalb weiter, weil er sich zwingend dazu verpflichtet fühlte, seinen unwissenden Gesprächspartner aufzuklären. „Also, hören Sie, Sutherford ist einfach der Beste auf seinem Gebiet. Er hat ein derart tiefes Wissen und er kennt selbst die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele. Manche behaupten, er wäre nicht von dieser Welt, andere sagen sogar, er wäre unsterblich“, er schmunzelte und zwinkerte verschwörerisch, „aber das ist natürlich absoluter Blödsinn“.
Alle Besucher tuschelten aufgeregt, und Jonathan war davon überzeugt, dass er offenbar der einzige war, der diesen Sutherford nicht kannte. Zwei Gäste vor ihm redeten nun so laut, dass alle anderen Gäste sie auch wirklich hören konnten. „Warst du schon einmal in seiner Praxis? Er ist in jeglicher Hinsicht großartig“. „Natürlich, ich bin regelmäßig dort und jedes Mal fühle ich mich nach unserem Gespräch leicht und frei wie ein Vogel“. „Er ist aber auch wirklich eine imposante Erscheinung“.
Dann ging plötzlich ein Ruck durch die Warteschlange und die Gäste schoben sich durch eine große Flügeltür, hinein in den Saal. Jonathan hatte Glück, es war freie Platzwahl und in der zweiten Reihe waren nach dem ersten Ansturm noch einige Plätze frei, so dass er sich leicht zwei Stühle ergattern konnte, von denen aus er einen hervorragenden Blick auf das Rednerpult hatte. Um den Stuhl zu seiner linken für Jack zu reservieren, stellte er seine braune Ledertasche als Platzhalter darauf ab. Im Saal herrschten ein lautes Gemurmel und Getuschel, und immer wieder vernahm man ein lautes Quietschen, hervorgerufen durch das Verschieben freier Stühle, bis plötzlich das Licht ausging und alles in absoluter Finsternis verschwand. Erst als ein greller Scheinwerfer die Bühne mit gleißendem Licht überflutete, und ein Mann in dunklem Anzug neben das Rednerpult trat, fing das aufgeregte Gemurmel wieder an. Jonathan nutzte die Gelegenheit, um seine Ledertasche vom Stuhl zu nehmen, den er für seinen Freund reserviert hatte, denn er wusste, dass Jack nicht mehr kommen würde. „War mir klar, dass du kneifst, du alter Weiberheld“, lächelte er und stellte die Tasche zwischen seine Füße. Jonathan wusste nicht, ob die Leute wegen des bevorstehenden Vortrags aufgeregt waren, oder weil auch ihnen die Diskrepanz zwischen der Höhe des Rednerpults und der Größe des Mannes aufgefallen war. Das Pult reichte ihm nämlich nur knapp unter das Kinn. Wie ein Zwerg stand er nun da und rieb aufgeregt die Handflächen aneinander. „Wozu ein derart hohes Pult?“ schoss es Jonathan immer wieder durch den Kopf, „wen erwarten die, King Kong oder Godzilla?“
Dann nahm der winzig wirkende Mann das Mikrofon vom Pult, und klopfte ein paarmal darauf, sodass es in den Lautsprechern laut pochte: „Test, Test. Kann mich jeder hören?“ Nachdem alle im Saal zustimmend nickten, sprach er in hochoffiziellem Ton weiter: „Verehrtes Publikum, ich bin besonders stolz, Ihnen heute den Mann vorstellen zu dürfen, dessen Werk weltweit Beachtung findet. Was viele von Ihnen vielleicht noch nicht wissen ist die Tatsache, dass er nicht nur auf dem Gebiet der Psychologie einen Doktortitel besitzt, sondern auch ein promovierter Astrophysiker und Mathematiker ist. Sein heutiger Vortrag wird demnach ein weites Spektrum an Informationen beinhalten und für alle eine Bereicherung sein. Sehr verehrte Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir den wahrhaft großen…“, er machte eine theatralische Pause, bevor er den Namen des Redners in einer Form aussprach, die Jonathan sofort an Micheal Buffer erinnerte: „Doktooooooor, Williaaaaaam Sutherfoooooord“.
Und dann kam er, ein echter Riese, und jetzt wusste auch Jonathan, warum der Concierge gerade die Worte „wahrhaft groß“ gewählt hatte.
Ein Raunen ging durch die Menge, bevor Sutherford das Wort ergriff: „Guten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde“. Jonathan rutschte in diesem Moment nervös auf seinem Stuhl herum. Er hatte das Gefühl, dass der Gigant ihm direkt in die Augen sah, weshalb für einen kurzen Augenblick das Bedürfnis in ihm aufstieg, sich unsichtbar zu machen. Doch dann sprach Sutherford weiter und Jonathan fühlte sich sofort wieder wohler. „Bevor ich mit meiner Rede beginne, bitte ich ausnahmslos alle Anwesenden im Saal, ihr Handy auszuschalten. Dies gilt auch für die Pausen. Vielen Dank für Ihr Verständnis“. Da nun sämtliche Gäste nach ihrem Smartphone kramten, ob in der Hosen-, Jacken-, oder Handtasche, nahm dieser Prozess ein paar Minuten in Anspruch. Als das Rascheln verstummte, nahm der Hüne einen zweiten Anlauf: „Ich bin daran gewöhnt, dass man mich aufgrund meiner Größe anstarrt. Seien Sie also entspannt, Ihre Reaktion ist vollkommen normal“. Damit erntete er den ersten Lacher von seinen Zuhörern, weshalb sich die Stimmung im Saal spürbar lockerte.
„Schon früh riet man mir zu einer Karriere als Basketball-Profi, doch ich entschied mich für andere kugelförmige Objekte, anstelle des Balls, nämlich den Planeten im Universum“. Und wieder lachten die Zuhörer und er sah sich mit ruhigem Blick im Saal um, so als würde er jeden einzelnen Besucher durchleuchten.
„Ich bin heute Abend jedoch nicht hier, um mit Ihnen über die Sterne und das All zu sprechen, sondern ich möchte Ihnen meine neuesten Erkenntnisse in der Paartherapie vorstellen. Wie Sie ja schon auf den Plakaten und im Programmheft lesen konnten, habe ich meiner Arbeit den Arbeitstitel „Das Adam und Eva Syndrom“ verliehen, dessen Hintergründe ich Ihnen hier und heute erläutern werde“.
Die Leute klatschten und einige von Ihnen stampften sogar mit den Füßen auf, was Jonathan für nicht angebracht hielt, da es sich hier um einen ernstzunehmenden Therapeuten handelte, und nicht um einen Rockstar. Auch wenn Sutherford durchaus eine magische und charismatische Ausstrahlung hatte, die, wenn nicht gerade an einen Musiker, doch zumindest an einen geheimnisvollen Künstler erinnerte.
„New York, meine Damen und Herren, ist bekannt für seine…, nennen wir es mal „farbenfrohen Bürger“, er schmunzelte und machte eine kurze Pause. „Die meisten hier im Saal haben in ihrem Leben schon einmal einen Therapeuten aufgesucht. Unser Berufsstand ist sozusagen das Mekka für Menschen mit einer emotionalen Dysfunktion“. Wieder erschallte ein lautstarkes Lachen, nicht von allen, aber doch vom Großteil der Besucher.
„Hier in der Stadt gibt es mehr Beziehungsopfer als im Rest der Welt. Die Menschen, die hier leben sind gehetzt, gestresst und verunsichert. In meine Praxis kommen täglich Männer und Frauen, die von einer festen Beziehung träumen, aber insgeheim glauben, dazu nicht fähig zu sein. Der eine denkt er ist zu dick, zu dumm, zu unattraktiv. Der andere hält sich für zu dünn, zu arm, aber manchmal auch zu gut für die Welt. Und so weiter und so weiter. Was mir aber bei jedem Einzelnen auffällt, der auf der Suche nach einer ernsthaften Beziehung ist, ist folgendes: Er oder Sie sucht nach dem perfekten Partner. Jetzt frage ich Sie, liebes Publikum, gibt es diesen perfekten Partner überhaupt?“
Wieder erfüllte ein Raunen den Saal und Jonathan wollte schon aufspringen und brüllen: „Ich hoffe das sehr. Denn sonst könnte ich mein Sensogramm in die Tonne treten“. Doch alles, wozu er sich nun in der Lage fühlte war, still zu lauschen. Er hing dem Hünen förmlich an den Lippen und konnte es kaum erwarten, dass dieser weitersprach. Glücklicherweise ließ der nicht lange auf sich warten.
„Ich behaupte ‚Ja‘, den Seelenpartner gibt es. Leider fehlt den meisten die Geduld, auf ihn zu warten“.
Während Jonathan die Faust ballte und lautlos „Ich wusste es!“ brüllte, schienen die anderen Zuhörer flüsternd ihren Zweifel zum Ausdruck zu bringen, was Sutherford durchaus zur Kenntnis nahm, jedoch ruhig weitersprach: „Ich gehe mal davon aus, dass die meisten von Ihnen selbst Therapeuten sind, weshalb ich Ihren Zweifel gut verstehen kann. Schließlich haben sie tagtäglich mit streitenden Paaren zu tun“. Dieser Satz schien die Zuhörer wieder zu besänftigen, denn Sutherford sprach ihnen aus der Seele. „Nun, um den Grund meiner Aussage zu untermalen, werde ich jetzt ein paar Disziplinen vermischen. Das heißt, ich werde die Psychologie mit der Astrophysik und der Religion in Einklang bringen. Damit Sie mir folgen können, bitte ich Sie nun darum, Ihren Geist zu öffnen. Versuchen Sie einfach mal sämtliche Ihrer bisherigen Ansichten und Meinungen zur Seite zu legen. Dann werden Sie ganz sicher verstehen, dass ich mit meiner Behauptung nicht völlig daneben liege“. Alle Gäste nickten und Sutherford holte tief Luft, bevor er mit seiner Erzählung begann.
NEW YORK, CHARLY RODRUIGEZ
21. AUGUST 2019
Er war nur wenige Minuten zuvor auf seiner Pritsche im Bereitschaftsraum der Rettungsstation eingenickt, als der Notruf schrillte.
„Mist“, sagte er verschlafen und vollzog schlaftrunken das verinnerlichte Alarm-Procedere. Mit geschlossenen Augen griff er nach seiner Uniform und seinen Schuhen, zog sich in Windeseile an, schnappte gleichzeitig nach seinem Schlüsselbund und stand schon kurz darauf vor dem Rettungswagen. Notarzt Carter Jackson und ein weiterer Sanitäter, Randy Scott, trafen zum gleichen Zeitpunkt ein, und alle drei Männer bestiegen gleichzeitig das Fahrzeug. „Was liegt an?“ fragte Charly, der hinter dem Steuer saß und bereits die Signallampen am Dach des Fahrzeugs angeschaltet hatte. „Es gab wohl einen Unfall in der U-Bahnstation, am Times Square, Ecke 42. Straße“, antwortete der Arzt gelangweilt. Er hatte während seiner langjährigen Dienstzeit schon viele schlimme Dinge gesehen, weshalb er jetzt nicht gerade aufgeregt zu sein schien. „Okay“, antwortete Charly und schaltete nun auch noch die Sirene ein.
Mit quietschenden Reifen verließen sie das Gelände der Rettungsstation. Nur wenige Minuten später kamen sie am Zielort an. Dort wurden sie schon von ein paar Polizisten erwartet, die den Ort des Geschehens weiträumig mit gelben Bändern absperrten, auf den in schwarzen Lettern geschrieben stand: CRIME SCENE DO NOT CROSS. Die drei Rettungskräfte griffen nach ihren Koffern und liefen hinunter zur U-Bahn. Am Gleis wurden sie von einem weiteren Cop in Empfang genommen. Er deutete auf den dunklen Schlund des Tunnels in nördlicher Richtung und sagte wortkarg: „Dort, 50 Meter“. Sie knipsten ihre Lampen an und liefen los. Nach wenigen Schritten wurden sie vom Schwarz des U-Bahntunnels verschlungen, und was sie dort zu sehen bekamen, ließ selbst ihnen, die schon tonnenweise Blut gesehen hatten, kalte Schauer über den Rücken laufen. Offenbar handelte es sich um zwei, vielleicht auch drei übel zugerichtete Körper. Genau konnte man das auf den ersten Blick nicht sagen. „Ich denke, das ist eine Sache für den Gerichtsmediziner. Da können wir mit großer Sicherheit nichts mehr tun“, sagte der Notarzt kopfschüttelnd. Überall lagen Gewebefetzen herum. Ein kopfloser Torso, eindeutig von einer Frau, lehnte fast aufrecht sitzend an der Tunnelwand und bot einen gespenstigen Anblick. Der abgetrennte Kopf lag mitten auf dem Gleis und war nahezu komplett von langen, schwarzen Haaren bedeckt. Doch gerade als sich der Mediziner frustriert abwenden wollte, vernahm er aus dem Augenwinkel ein kaum sichtbares Zucken des männlichen Opfers. Schnell lief er zu ihm und beugte sich hinunter, wobei er dem Mann vorsichtig eine Decke unter den Kopf schob. Der Mann flüsterte etwas und Dr. Jackson presste sein Ohr auf dessen Mund, um ihn besser verstehen zu können. „Ich…ich“, stammelte der Mann mühsam, „ich habe…das nicht gewollt“. Dann fiel sein Kopf zur Seite und er war tot. Charly und seine Kollegen sahen sich wortlos an, was so viel bedeutete wie, „hier können wir nichts mehr tun“. „Jetzt kann die C.S.U ihrer Arbeit nachgehen“, sagte Dr. Jackson zu einem der Polizisten und meinte damit die Kollegen der Spurensicherung, der Crime Scene Unit. Dann gingen sie zurück zu ihrem Wagen und überließen den Tatort den Cops. Der Rest des Tages verlief glücklicherweise ohne weitere Zwischenfälle, auch wenn sich die schrecklichen Bilder aus dem Tunnel immer wieder in Charlys Bewusstsein drängten. Als er am späten Nachmittag nach Hause gehen wollte, wurde er von Dr. Jackson gestoppt: „Hör mal, Charly, wenn du psychologische Unterstützung brauchst, um diesen Fall besser verarbeiten zu können, sag einfach Bescheid“. Charly nickte und antwortete leise: „Danke, nicht nötig. Ich schaffe das schon allein“.
NEW YORK, SARAH STONE 2019
Sarah Stone war 51 Jahre alt, hübsch, intelligent, humorvoll, und seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren, wieder Single. Sie verfügte über ein Jurastudium und arbeitete nach ihrem Abschluss an der New York University für ein paar Jahre in der Kanzlei ihres Vaters. Allerdings kam sie mit ihrem despotischen Erzeuger nicht wirklich klar. Er behandelte sie trotz ihres Alters und ihrer Brillanz immer noch wie ein dummes Schuldkind. Hinzu kam, dass sich die Kanzlei ihres Vaters ausschließlich mit Familienrecht befasste, was ihr auf Dauer gesehen zu langweilig war. Mal hier eine Scheidung, mal da ein Sorgerechtsfall. Als dann ein Rosenkrieg dem nächsten folgte, fiel ihr die Entscheidung leicht, sie eröffnete ihre eigene Kanzlei und konzentrierte sich auf das, was sie schon immer reizte, das Strafrecht. Schon während des Studiums war sie fasziniert von Mördern und deren dunklen Seelen, genauso wie sie von der Aufklärung derer Taten begeistert war. Sie musste sich lediglich noch über eines klar werden, wollte sie diese Menschen nun hinter Gittern bringen, oder ihnen zum Freispruch verhelfen? Sie entschied sich zunächst für Letzteres, was sie in den darauffolgenden Jahren jedoch mehr als einmal bereute.
Gerade dann, wenn man sie während einem Prozess „Mörder Hure“ oder „Mörder Schlampe“ nannte. Wenn sich während des Prozesses aber herausstellte, dass ihr Klient tatsächlich unschuldig war, schlug das Bereuen in einen Freudentanz um. Doch trotz ihrer Erfolge als Strafverteidigerin, wechselte sie im März 2015 die Seiten, da ihr das Angebot einfach zu verlockend erschien. Oberstaatsanwältin, Sarah Stone, klang zugegebenermaßen auch wirklich nicht schlecht. Aber ihr Erfolg hatte auch einen hohen Preis, der sich in Einsamkeit ausdrückte. Sie arbeitete quasi rund um die Uhr, und wenn andere sich im Kino oder beim Tanzen vergnügten, hing sie über meterhohen Gerichtsakten. Die Erkenntnis, jeden Morgen allein aufzuwachen, machte ihr jedes Mal unverhohlen klar, dass sie wohl eine sehr erfolgreiche Frau war, aber vermutlich auch die einsamste unter der New Yorker Sonne.
Wie viele Singles, hatte sie alles was das Leben angenehm machte, aber die Einsamkeit sorgte für einen bitteren Beigeschmack. Natürlich war sie nicht vollkommen allein, sie hatte jede Menge Freundinnen, fast alle davon waren ebenfalls Single, und sie hatte unendlich viele Bekannte, auch männliche, doch dem Richtigen war sie bislang einfach nicht begegnet.
Sicherlich nahm sie hin und wieder mal einen Kerl mit nach Hause, gerade bei ausschweifenden Partys kam das mal vor, doch eigentlich wiederstrebte ihr das. Sie wollte einen Mann, mit dem sie alles teilen konnte, einen, der nur Augen für sie hatte. Und dieser Wunsch schien ihr mehr und mehr durch die Finger zu gleiten. Wie sollte sie es schaffen, Beruf und Beziehung in einem ausgewogenen Verhältnis in ihr Leben zu integrieren?
Aus diesem Grund begab auch sie sich am Nachmittag ins Plaza, um bei William Sutherfords Präsentation dabei zu sein. Da sie es kaum erwarten konnte, sah sie ständig auf ihre Armbanduhr.
Und obwohl sie sich rechtzeitig auf den Weg gemacht hatte, war sie aufgrund des immensen Verkehrsaufkommens letztlich doch spät dran, und fand nur noch in der letzten Reihe einen freien Platz. Wie sich jedoch kurz darauf herausstellte, war der Redner ein Riese, der selbst von ganz hinten noch gut zu sehen war. „Was hätte ich dafür gegeben, Mick Jagger auf diese Länge heranwachsen zu lassen. Bei dem Konzert der Stones konnte ich nur einen hüpfenden Punkt auf der Bühne wahrnehmen“. Doch dann besann sie sich wieder auf die Gegenwart. Der gigantische Therapeut machte einen sehr sympathischen, wenn auch geheimnisvollen Eindruck, und was er bislang sagte, erweckte ihr Interesse. Als William Sutherford einen tiefen Atemzug nahm, spürte Sarah in ihrem Herzen, dass nun der interessante Teil seines Vortrags beginnen würde.
„Bevor ich mit meiner Rede fortfahre möchte ich Sie darauf hinweisen, dass das, was ich Ihnen gleich sagen werde, verstörend auf Sie wirken könnte. Deshalb gebe ich Ihnen jetzt die Möglichkeit, sich zu verabschieden. Wenn Sie jedoch hierbleiben, habe ich Sie wenigstens gewarnt“, breit grinsend stützte er sich auf dem Pult ab. Nachdem keiner seinen Platz verließ, fuhr er fort: „Also, gesetzt den Fall, Adam und Eva hätte es tatsächlich gegeben, wären sie dann aus Fleisch und Blut, Menschen wie Sie und ich gewesen? Ich beantwortete diese Frage mit ja, und nein. Ja, natürlich waren sie Menschen, allein schon deshalb, weil sie menschliche Nachkommen zeugten. Und nein, weil es inzestuöse Folgen gehabt hätte, wenn sie ausschließlich menschlich gewesen wären“. Er machte eine Pause. „Aber, was waren sie dann? Vielleicht Außerirdische oder gar Götter?“ Jetzt wurde der Saal erneut von einem Raunen erfüllt. Sutherford trank einen Schluck Wasser, bevor er weitersprach. „Ich behaupte sie waren alles, von jedem etwas. Sie waren sowohl menschlich als auch göttlich, und ja, sie kamen ursprünglich auch nicht von der Erde, weshalb man sie durchaus auch als Außerirdische bezeichnen könnte“. Jetzt war der Saal in Wallung und erste Zwischenrufe drangen durch das laute Gemurmel: „Dr. Sutherford, wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass wir von Aliens abstammen?“
Sutherford grinste breit und antwortete: „Ja, das will ich. Allerdings füge ich hinzu, dass wir selbst diese Aliens waren“. Jetzt war die Verblüffung perfekt. Es dauerte ein paar Minuten, bis im vollbesetzten Saal wieder Ruhe eingekehrt war. Dann sprach er weiter: „Nicht, dass Sie meinen, ich hätte mir das einfach so aus den Fingern gesaugt, ich kann meine Behauptungen natürlich auch beweisen. Doch bis ich soweit bin, Ihnen diese Beweise auf den Tisch zu legen, bitte ich Sie, mir einfach zuzuhören, einverstanden?“ Die Menschen im Saal nickten wieder und schauten sich verstohlen um, als erwarteten Sie, dass jeden Moment ein Kamerateam hinter einem Vorhang hervorspringen könnte, und das Ganze sich als ein Scherz mit der versteckten Kamera entpuppte. Aber dazu kam es nicht. Sutherford sprach unbeirrt weiter: „Haben Sie sich mal in der Welt umgesehen? Mord, Totschlag, Krieg, Vereinsamung und unzählige Ehescheidungen. Und warum das alles? Weil der Mensch die Anbindung an die Schöpfung verloren hat. Im Grunde genommen sehnen wir uns alle nach Frieden und Liebe, wollen aber nicht akzeptieren, dass wir es sind, die das verhindern. Viele Jahrtausende liegen zwischen uns und Adam und Eva. Der ursprüngliche Genpool ist verwässert, wir sind nur noch ein Schatten von dem, was wir mal waren, nämlich von Gott erschaffene, vollkommene Wesen“. Er trank wieder einen Schluck und im Saal herrschte ungläubiges Schweigen. „In meine Praxis kommen durchweg verzweifelte, einsame Menschen, und Paare, die niemals hätten zueinander finden dürfen. Sie haben sich nur deshalb das „Ja-Wort“ gegeben, weil sie den anderen für ganz passabel hielten und er möglicherweise den gleichen gesellschaftlichen Status innehatte, wie sie selbst. Hätten Sie aus wahrer Liebe geheiratet, bräuchten sie keinen Ehetherapeuten. Und was passiert mit solchen Menschen, die einen derartigen „Liebes-Deal“ eingehen? Genau, irgendwann fliegt alles auf. Und manche machen selbst dann weiter, wenn der Partner sie betrügt. Sie befürchten finanzielle Einbußen, wenn sie im Falle einer Trennung, vom Geldstrom ihres Ehegatten abgeschnitten würden. Andere bleiben zusammen, weil sie keinen Unterhalt bezahlen wollen. Ist es nicht so, meine Damen und Herren?“
Wieder nickten die Zuhörer schweigend, nur einer meldete sich zu Wort, und streckte dabei wie ein Grundschüler die Hand in die Luft. Sutherford wirkte im ersten Moment irritiert, wandte sich dem Mann in der zweiten Reihe dann aber freundlich zu: „Da hat ganz offensichtlich jemand etwas zu sagen. Verraten Sie uns Ihren Namen?“ Der Mann sprach zögerlich: „Ich bin Jonathan, äh, mein Name ist Jonathan Kramer“. Als die Zuhörer seinen Namen hörten, hatten sie einen weiteren Grund zu tuscheln: „Das ist doch der Autor des Romans ‚Der Mönch und die sieben Leichen‘“. Was macht der denn hier?“ Nur Sutherford wusste mit seinem Namen offenbar nichts anzufangen, denn er antwortete vollkommen unbeeindruckt: „Willkommen, Jonathan, wo drückt der Schuh?“ „Doktor Sutherford, Sie sagten, dass sich jeder nach einer glücklichen Beziehung sehnt. Das tue ich auch. Aber wie kann ich meine Eva finden?“ Sutherford legte die Stirn in Falten und antwortete lächelnd: „Sie werden Sie finden, glauben Sie mir. Und sie findet Sie. Warum Sie beide sich bis jetzt nicht getroffen haben liegt einfach nur daran, dass wir Menschen es im Allgemeinen nicht für nötig halten, genau diese eine Frau, beziehungsweise diesen einen, besonderen Mann, finden zu müssen, wenn wir ein erfülltes Leben führen wollen? Die Liebe wurde in unserer Gesellschaft schon seit tausenden von Jahren instrumentalisiert und auf billigen Sex reduziert. Aus der wahren Liebe wurde die „Ware“ Liebe, verstehen Sie? Wir haben die Liebe auf das Niveau einer Dienstleistung gebracht, und da wir in einem Patriachart leben, zählt die Frau zum Besitz des Mannes“. Sutherford sah kurz auf seine Taschenuhr, die er zuvor sehr geschickt und vollkommen unauffällig aus der Uhrentasche seines Jacketts gezogen hatte, und sagte dann: „Hören Sie, Jonathan, wir werden uns Ihrer Frage am Ende dieser Veranstaltung intensiv widmen, versprochen. Sind Sie damit einverstanden, wenn ich jetzt mit meinem Programm weitermache?“ Jonathan nickte zustimmend und nahm wieder Platz.
HERVORDIA (Hansestadt-Herford)
DES PRIESTERS WANDLUNG, 21. AUGUST 1627
Magdalena wartete seit zwanzig Minuten ungeduldig auf Konstantin. Sie wollten sich um 12 Uhr im Haus ihrer Eltern treffen, um noch einmal die Details zur anstehenden Hochzeitszeremonie zu besprechen.
Da Pünktlichkeit eine seiner Tugenden war, ging sie unruhig in ihrer Stube auf und ab. Als er um 12: 30 Uhr noch immer nicht da war, machte sie sich auf die Suche nach ihm. Zuerst lief sie zu seiner Wohnung. Doch da war er nicht. „Dann kann er nur in der Kirche sein“, sagte sie sich. Auf ihrem Weg zur Stiftbergkirche passierte sie die Radewiger Brücke, und nahm wehmütig die johlende Menge am Hexenkolk wahr, die dem Kolker begeistert bei seiner grausamen Arbeit zusah.
„Diese Dreckschweine“, zischte sie und ihre Sorge um ihren vermissten Ehemann in spe wuchs mit jedem ihrer hastigen Schritte. Als sie die Stadt durch das Tor zum Berge (das heutige Berger Tor) verließ, blickte sie hinauf zur Kirche, doch von ihm war keine Spur zu sehen. Fieberhaft ging sie in den Laufschritt über, bis sie schließlich keuchend vor dem Eingangsportal der Kirche auf die Knie sank. Ihr Atem rasselte und ihr Blut pochte gegen ihre Schläfen. Dann stieß sie die schwere Eichentür auf und sah ihn. Er beugte sich gerade über einen Mann, der regungslos am Boden lag. Seiner braunen Kutte nach, war es ein Mönch, ein gewaltig großer sogar.
„Gott sei Dank, Konstatin, da seid Ihr ja“, sagte sie immer noch atemlos. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wer ist dieser Mönch?“ Konstantin drehte sich mit geschlossenen Augen langsam zu ihr um. Kurz bevor Magdalena ihn erreichte, öffnete er sie wieder und sah sie mit durchdringendem Blick an, während seine Iris bernsteinfarben zu leuchten begann.
Sie erschrak: „Was ist mit Euch Konstantin? Was ist mit Euren Aug…?“ Bevor sie ihren Satz zu Ende führen konnte, legte Konstantin seine Hand über ihr Gesicht, bis sie nach wenigen Sekunden bewusstlos in seine Arme sank. Nun öffnete er gewaltsam ihren Mund, zog die Zunge heraus, und biss ein großes Stück davon ab, um es sofort wieder in hohem Bogen auszuspucken. Die höllischen Schmerzen erweckten Magdalena aus ihrer Ohnmacht. Sofort erkannte sie, dass der Mann wohl aussah wie ihr Geliebter, es aber nicht mehr war. Sie wollte ihn nochmal fragen, was mit ihm geschehen war, aber sie konnte nur noch unverständliche Laute hervorbringen. Blut lief ihr die Kehle hinunter und der Schmerz legte sich wie ein schwerer, bleierner Schleier über ihren Geist. Tränen vernebelten ihre Sicht und sie sank erneut bewusstlos zu Boden.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie über der Schulter des Mannes, der ihr diese Pein zuteilwerden ließ. Wenn sie sich nicht täuschte, befanden sie sich kurz vor dem Haus der Stadträte. Dann ging es ein paar Stufen hinauf, bevor er sie von der Schulter rutschen ließ und sie auf den Boden krachte. Mit von Schmerzen umnebeltem Verstand vernahm sie, dass das Wesen in Konstantins Gestalt offenbar genau wusste, was es wollte. Es sprach mit einem Mann, der eine farbenprächtige Robe trug, wie Magdalena sie von den Inquisitoren kannte. Nein, nicht alle waren so gekleidet, die meisten trugen schwarze Talare, nur der Oberste des Tribunals kleidete sich derart prunkvoll. „Was habt Ihr zu berichten, werter Bruder?“ hallte die Stimme des Inquisitors durch die Eingangshalle. „Eure Eminenz, ich befand mich in der Kirche am Stiftberg, um dort für Ordnung zu sorgen, als sie plötzlich auftauchte und wirre Dinge sagte, teuflische Dinge, wenn Ihr versteht, was ich meine“. Der Inquisitor beäugte den Mann im Priestergewand skeptisch. „Seid Ihr nicht der, der gegen den Zölibat verstoßen hat? Soweit ich weiß, ist dies Euer Weib. Erklärt mir das näher“ Noah, der den Seelentransfer in seine neue Hülle noch nicht vollkommen abgeschlossen hatte, suchte im Gedächtnis seines Wirts nach einer passenden Antwort, fand aber nichts, was den Verdacht hätte entkräften können. Deshalb antwortete er: „Ja, Eure Eminenz, ja, aber nachdem was heute passiert ist weiß ich, dass sie es war, die meinen Verstand getrübt hat. Ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, gegen Gottes Gebot zu verstoßen“. „Hm, gut, mein Sohn, erkläre er mir, was heute geschehen ist“. Magdalena, die mittlerweile ahnte, worauf das Gespräch hinauslaufen würde, rappelte sich auf, und versuchte etwas zu sagen, doch ihre verstümmelte Zunge verhinderte das erfolgreich. Über ihre Lippen kam nur ein Grunzen, ihr Kleid war mit ihrem Blut besudelt, und das Haar hing wirr über ihrem schmerzverzerrten Gesicht. Als sie bemerkte, dass der Inquisitor ihr keine Aufmerksamkeit schenkte, sondern sie stattdessen angewidert ansah, mobilisierte sie all ihre Kräfte und ging auf ihn los. Doch der wich zurück und rief: „Wache, Wache! Nehmt diese Frau in Gewahrsam, sofort“. Nachdem man sie in einen Kerker gebracht hatte, wollte der Oberste Inquisitor von dem Priester sämtliche Einzelheiten des Zwischenfalls erfahren. Noah sagte ihm, dass Magdalena zu ihm in die Kirche gekommen sei und kurz darauf in einer fremden Sprache zu ihm sprach. „Ich wusste nicht, was sie von mir wollte. Doch dann schlug und trat sie auf mich ein, und ich hatte alle Mühe, sie mir vom Leib zu halten. Sie entwickelte dabei unmenschliche Kräfte, Eure Eminenz. Als ich ihr sagte, sie solle von mir weichen, streckte sie ihre Zunge ganz weit aus dem Mund. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich trat einen Schritt zurück, damit sie mich nicht erreichen konnte. Wie eine Schlange züngelte sie durch die Luft. Und dann tat sie es, sie biss sich ihre eigene Zunge ab und spuckte sie danach auf den geweihten Boden der Kirche“. Er machte eine dramatische Pause und täuschte eine tiefe Betroffenheit vor. „Sagt, Priester Alba, was war das für eine Sprache, die das Weib benutzte?“ „Das weiß ich nicht, Eure Eminenz. Ich kann nur sagen, dass ihre Worte dämonisch klangen“.
An der Reaktion des Inquisitors erkannte Noah, dass seine Geschichte gut und schlüssig war. Nur eine Stunde später stellte man am Kolk fest, dass Magdalena in der Tat eine von Satan besessene Hexe war, und der Priester somit die Wahrheit gesprochen hatte. Aus Sicht des Klerus hatten ihre Hexenkräfte dafür gesorgt, dass sie die Wasserprobe überlebte, doch gegen die Flammen des Scheiterhaufens konnten selbst diese nichts ausrichten.
Zufrieden ging Noah am Abend in seine neue, spartanische Unterkunft in der Radewig und schmiedete Zukunftspläne.