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Kapitel 3

Weg vom mechanistischen Denken

Der Pädagoge Rolf Arnold plädiert für eine „Ermöglichungsdidaktik“ (vgl. Arnold, 2012). Ein Individuum zu sein bedeutet nämlich auch, über eine individuelle Denkstruktur zu verfügen. Das heißt: Auch, wenn ein Lehrer meint, seine Schüler bestmöglich zu kennen, so kann er sprichwörtlich nicht „in sie reinschauen“. Seine eigene individuelle Denkstruktur wiederum – wenn auch nur unbewusst – auf die Schüler übertragen zu wollen, wäre Wiederholung der „Nürnberger Trichter“-Übung. Arnold appelliert an eine „systemische Pädagogik“, die dieses Wissen um die je eigenen Denkstrukturen ebenso ernst nimmt wie Gruppenprozesse. Basis dieses Modells bildet die Investition in die Selbstlernkompetenz der Schüler/Studierenden, was aber dem Lehrenden eine neue Rolle zuschreibt: „Die systemisch-konstruktivistische Pädagogik drängt uns zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Lehren und Lernen“ (ebd., S. 120). Während eine „mechanistische Didaktik (…) auf Einheit, Inputsteuerung und Standardisierung setzt“ (ebd.), baut die systemische Ermöglichungsdidaktik auf dem Prinzip der Selbstständigkeit durch Aneignen.

Diese Didaktik fußt auf Erkenntnisse, die die neurophysiologische Kognitionsforschung bereits vor Jahren vorgelegt hat, zum Beispiel: „Das Hirn konserviert keinen Abdruck von außen; es generiert sich ‚seine‘ Welt, in der es Außensignale bestimmten internen Verhaltensmechanismen zuordnet, diese damit modifiziert und so eine Einheit produziert, die wir in dessen Effekt, dem Verhalten, studieren können“ (Breidbach, 1996, S. 7; vgl. auch Breidbach/Rusch/Schmidt, 1996). Und so kann es nicht wundern, was ein Oberstufenschüler während der „Homeschooling“-Phase im Coaching berichtete:

„Ich bin so froh, dass das SOL mit uns schon vorher geübt wurde. Sonst hätten mich die Arbeitsblätter voll überfordert. Du musst ja erstmal wissen, wie und wo du dir das noch holst, was du zum Lösen brauchst (…) auch, in welchen Schritten man da drangeht und so (…) Aber dann zu checken, dass es so passt und der Lehrer es dir auch so zurückmeldet, dass es so passt, das hat schon was.“


Abb. 6: Lernende und Lehrende konstruieren Wirklichkeit

Selbstständigkeit will verstanden sein

Das hier exemplarisch erwähnte SOL-Prinzip (selbstorganisiertes und kooperatives Lernen nach Landherr/Herold) setzt auf einen systematischen Kompetenzaufbau, insbesondere in Lerntechniken, die die Selbstlernkompetenz und die Kooperationsfähigkeit stärken.

„Und was sich jetzt verändert hat in dem Jahr, ist, dass ich mir denke, ‚Alter, ja, ich bin gut. Ich bin wirklich gut‘. Und ich war es damals nicht in der Art, wie ich es jetzt bin. Ich habe mich aber natürlich auch wirklich weiterentwickelt“ (Lanig 2019, Anhangband 3, S. 104).

So kann sich auch die Erfahrung einstellen, von der Lernende berichtet haben und die die Forschung als „Matthäus-Effekt“ bezeichnet: Die Erfahrung von Erfolg gebiert Erfolg. Und sie motiviert. Was so einfach klingt, fällt aber nicht als Geschenk vom Himmel. Es ist Arbeit, die zu Beginn des Prozesses bei den Lehrenden liegt. Insofern ist – in den schulischen Kontext hinein gesprochen – die Erziehung zur Selbstständigkeit eine Frage der pädagogischen Haltung bei den Lehrenden. Denn sie verändert die Rolle: weg vom Fachmann, hin zum Regisseur, Begleiter, Gelingens-Coach.

Systemtheoretisch betrachtet (vgl. Luhmann, 1991) sind Lerngruppen Einheiten, die sich selbst organisieren (können). Das setzt aber zweierlei voraus: bei den Lernenden, Selbstorganisation gelernt zu haben und bei den Lehrenden, Selbstorganisation zu fördern (und zu wollen). Was die Hirnforschung und Zellbiologie unter Autopoiesis/e verstehen, gilt auch für soziale Systeme: Sie generieren ihre Lösungen aus sich selbst heraus. Von den Lehrenden aus gilt zu beachten, dass sich dieser selbstreferentielle Charakter nicht in das verkehrt, was Arnold unter der „ärgerlichen Tatsache der systemischen Geschlossenheit“ (Arnold, 2012, S. 118) versteht. Dann nämlich kreisen sich die Lernprozesse nur noch um die Referenzpunkte, die das System bereits als Option verinnerlicht hat. Originalität und Innovation würden so durch diese systemischen Beharrungstendenzen blockiert werden.

Selbstorganisation fraktal umsetzen

Ziel des SOL-Prinzips ist eine möglichst maximale Eigensteuerung der Prozesse durch die Lernenden selbst. Dies wird mit dem Prinzip der „Fraktalen Unterrichtsorganisation“ erreicht. „Fraktale“ bilden als kleine Einheiten das Ganze ab, sind aber nicht zu groß, sich selbst noch hinreichend zu steuern. So ist effiziente Zielorientierung ebenso möglich wie die Optimierung des Gruppen- und die Selbstreflexion des eigenen Lernprozesses. Ein Student hat das so gespiegelt:

„Und (…) dann hat mir die Frau T. einen ziemlich simpel klingenden, aber sehr guten Tipp gegeben. Die meinte: ‚Na ja, fange halt klein an. Du kannst nicht mehr an dem großen, dicken, roten Faden anknüpfen. Ist wie bei Spinnen auch. Du musst da wieder mit einem kleinen Faden anfangen und irgendwann wird der wieder dicker‘. Und das habe ich dann gemacht. Und ich habe dann sehr schnell (…) wieder einen roten Faden gehabt, der aber ein ganz anderer war“ (Lanig 2019, Anhangband 3, S. 96).


Abb. 7: Selbstorganisation fraktal umsetzen

Für den virtuellen Raum ist dieser Grundsatz insofern von Bedeutung, da die Unübersichtlichkeit mit dem beginnenden Gruppenprozess erhöht und die Rückkopplung durch die digitalen Formate verringert wird. Insofern ist die Phase der Bildung von Gruppen, die Transparenz über den Gruppenauftrag, die verfügbare Arbeitszeit und vor allem die Möglichkeit der Anforderung des Lehrenden sehr gründlich zu planen. Das gilt für Schüler und Studierende gleichermaßen. Der Lehrende gibt zwar die Verantwortung für den Prozess an die einzelnen Gruppen ab, bleibt aber als Lernbegleiter zu jeder Zeit erreichbar (vgl. https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gestaltlehrlern/projekte/sol/fb1/04_organisation/; Zugriff: 12.05.2020).

Die Forderungen nach selbstständigem Lernen sowie Individualisierung sind nicht neu. Warum wiederholen wir sie so ausführlich? Weil diese Prinzipien im Kern auch für die virtuellen Bildungsbiografien gelten. Daher kann ein Methodenbuch sich nicht – wie viele, sehr hilfreiche Titel – allein auf die Mikroebene einer Online-Veranstaltung konzentrieren. Denn das würde zu kurz greifen. Stattdessen ist unser Ansinnen, die Kernfragen an eine anspruchsvolle Methodik des virtuellen Unterrichtens in die Makroebene einer Lerneinheit einzubetten. Daher war es notwendig, die Prinzipien der handlungsorientierten Pädagogik zu vergegenwärtigen, um auf deren Basis eine bildungstheoretische Perspektive für die anstehende lehrpraktische Herausforderung aufzuspannen.

Ein Beispiel mag diesen theoretisch klingenden Anspruch illustrieren: Vermutlich haben Sie während der unzähligen „Online-Ersatz-Unterrichte“ des Jahres 2020 festgestellt, dass eine klassische Disziplinierung zur Notwendigkeit des Übens in einem dezentralen Unterricht deplatziert wirkt. Vielleicht haben Sie sich auch gefragt: „Ist dieser Lehrinhalt tatsächlich so relevant, dass er diesen Aufwand der externen Motivation rechtfertigt?“ – Möglicherweise haben Sie insgeheim gemerkt, dass die Frage nach dem „Wozu?“ (vgl. Kap. „5 W – was in eine Hand geht“, S. 29) in der Einstiegsphase Ihres Unterrichts noch nicht ausreichend geklärt und diskutiert war.

An einer Situation wie dieser wird deutlich, dass der Ausgangspunkt eines Lehr- und Aneignungsprozesses die authentische Aushandlung der Bedeutsamkeit ist. Und selbstverständlich werden diese Fragen nicht immer gütlich für die bestehenden Lehrinhalte ausgehen können. Und aus diesem Grund hat das Jahr 2020 eine so grundsätzliche Chance für die epistemische Erneuerung von Bildungsabsichten wie auch die Gefahr besteht, nach den ersten Erfahrungen im „Schock“-Zustand (vgl. Kap. „Phasen der Implementierung“, S. 85) in das Muster von Entweder (analog) oder Digital (virtuell) zu verfallen.

Diese diskursive Aushandlung von Relevanz ist in der Erwachsenenbildung eine gängige Praxis. Denn hier kann Bildung nicht gelingen, ohne eine – meist berufspraktisch gedachte – Relevanz im Gespräch zu bestimmen. Der Begriff der „Bildungsdienstleistung“ (vgl. Rippien, 2012, S. 24–33) umschreibt diesen beidseitigen Aushandlungsprozess in Anlehnung an den Dienstleistungsbegriff aus dem Marketing: Er betont die Rolle der Kooperation. Das verändert die Dynamik didaktischer Medien und Funktionen, die über die technologischen Entwicklungen in Bewegung kommen.

Wichtig für das Vorhaben unseres Methodenbuches ist, dass alle Ebenen – von der höchsten Ebene bildungstheoretischer Überlegungen bis „hinunter“ auf die situative Interaktion des Unterrichts – beteiligt sind. Diese Fragestellung haben wir in unsere eigene Lehrpraxis in virtuellen Studiengängen hineingetragen. Ein zentrales, wenig überraschendes Ergebnis ist, dass die Parallelität von fachlichen und personalen Entwicklungen auch in virtuellen Bildungssozialisationen empirisch nachzuweisen ist. Ohne diese Parallelität gelingt der Entwicklungsprozess nicht – und Lernende scheitern aus diesem Grund. In dieser Studie hat sich gezeigt, dass diese im Grunde klassische humanistische Entwicklung keineswegs auf einen physischen Rahmen in Form von Schulgebäuden und die Synchronizität eines Stundenplans angewiesen ist. Dieser Befund ist deshalb so prägnant, weil er aus einem Bereich stammt, der traditionell auf die Physis sinnlicher Erfahrungen und den intensiven sozialen Austausch im Atelier wert legt. Dass beispielhaft selbstbewusste Gestalterinnen und Gestalter innerhalb eines grundständigen virtuellen Bachelorstudiengangs entstehen, ohne dass eine Hochschule „aus Stein und Glas“ beteiligt ist, ist die historische Neuerung dieses Forschungsergebnisses (vgl. Lanig 2019).

Im anschließenden Exkurs „Ist digitale Schul- und Hochschulbildung mehr als eine fantastische Erzählung?“ sollen die empirischen Ergebnisse durch die narrative Folie eine Lernbiografie exemplarisch nachgezeichnet werden. Die Übertragbarkeit auf den schulischen Bereich steht natürlich unter Fragezeichen, handelt es sich schließlich um zwei verschiedene Organisationen und Systeme. Allerdings glauben wir, dass Aspekte dieser Überlegungen auch für die Schullandschaft von morgen relevant sein können. In dieser Empirie wurde deutlich, dass die Mikroebene eines kompetenten Umgangs im virtuellen Klassenzimmer nur ein Bestandteil in einer Reihe von Faktoren ist. Es wurde deutlich, dass die Konzentration auf eine berufspraktische und individuell ausgehandelte Bedeutsamkeit von Lehrinhalten ebenso wichtig ist wie eine lebendige, über Medien vermittelte Verbindung zwischen der Lerngruppe und Lehrenden.

Kompetenzorientierung – systematisiert und zugewandt

Fach- und überfachliche Kompetenzen sind aufeinander bezogen und bedingen sich. Das heißt für die Schullandschaft, dass möglichst vollständige Handlungsketten geplant werden sollten, die sich an Kompetenzrastern niveaudifferenziert ausrichten. Motivationsforschung und Neurowissenschaft haben der Pädagogik in Erinnerung gerufen, dass erst die Erfahrung eines „Ich kann“ – also die klassische Zielformulierung bei unterrichtlichen Verlaufsplänen – neuen Erfolgserlebnissen den Weg bahnt. Wenn diese „Ich kann“-Erfahrung sich auf einen vollständigen Handlungskreislauf – aus Benennen, Planen, Entscheiden, Durchführen und Bewerten – erstreckt, ist der Kompetenzaufbau gesichert. Dieser Lernprozess schließt aber das Gespräch mit ein. Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer plädiert im schulischen Bereich für eine unbedingte Annahme des Lernenden, noch vor jeder Leistungsmessung. Er bezieht sich auf die aktuelle Motivationsforschung, wenn er sagt: „Motivation entsteht, wenn ein junger Mensch sich gesehen fühlt in einem tiefen Sinne (…), merkt, ich werde als Person wahrgenommen“ (https://www.youtube.com/watch?v=01mOnKQ5RMQ; Zugriff: 16.05.2020).

Lernerfolge durch Empathie

Diese Beziehungsdidaktik in den virtuellen Lernbereich zu übertragen, ist von zentraler aktueller Aufgabe. Wo sich der Einzelne hinter der Technik „verstecken“ kann, wird auf kurz oder lang der Kompetenzaufbau ins Stocken geraten – sowohl fachlich, personal wie sozial.

„Also das heißt (…), das, was ich mache, ist nicht einfach irgendwo virtuell und kommentarlos (…), sondern es wird von den anderen mitgetragen und kommentiert (…) dadurch fühlt sich das dann wieder echt an und weil dieses Feedback, diese Rückmeldung durch die anderen dann eben echt ist. So ein Nähegefühl stellt sich dann ein. Ich finde, dass trotz dieser räumlichen Distanz eine persönliche Nähe entsteht mit den anderen“ (Lanig 2019, Anhangband 3, S. 67).

Das bedeutet zum Zweiten: Kompetenzbildung ist soziale Bildung, ist ein Lernen mit- und voneinander. Die moderne Schulpädagogik unterscheidet in verschiedene – meist drei – Niveaustufen, die sich durch alle Phasen und Inhalte ziehen. Was für Lehrende einen großen Aufwand darstellt, wird von Schülern in der Regel schnell angenommen. Denn es fördert sie in ihrer Eigenständigkeit, sich für Niveaus zu entscheiden, vor allem aber die Selbsteinschätzung im jeweiligen Fachgebiet. An solchen Erfahrungen im analogen Raum lässt sich erkennen: Kompetenzaufbau bedarf der Reflexion. Für den schulischen Bereich heißt diese Erkenntnis, eine noch größere Bedeutung auf Lernberatungsgespräche – oder Lerncoachings, die Bezeichnungen variieren je nach Schulart und Bundesland – zu legen. Unsere Unterrichts- und Coachingerfahrungen im virtuellen Raum lauten an dieser Stelle: Zugewandtheit und Empathie „gehen“ auch im „Homeschooling“. Auch wenn die Sinne durch die Technik eingeschränkt sind, man sich nicht physisch „riechen“ kann, ist es möglich, sich „persönlich“ zu begegnen, sich „anzuschnuppern“ und „riechen zu lernen“ – weitere O-Töne von Lehrenden im Kollegialen Coaching. Wenn Empathie ein „Mitschwingen“ bedeutet (vgl. Hanstein, 2016, S. 22), ist dieses „Einschwingen“ auf die anderen und die Atmosphäre im Raum auch über virtuelle Formate möglich – eben nur anders und in einer veränderten Zeit.

Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI) von Julius Kuhl integriert neuere Ansätze aus der Motivations- und Persönlichkeitsforschung und den Neurowissenschaften. Kuhl arbeitet mit dem Konzept der Handlungs- und Lageorientierung (vgl. Storch/Kuhl, 2013). Es geht davon aus, dass die Fähigkeit zur Selbststeuerung des Menschen von seinem Grad der Handlungs- bzw. Lageorientierung abhängig ist. Eine selbstgesteuerte Regulation der Affekte ist demnach nur in der Handlungsorientierung möglich. Menschen indes, die ihre Affekte nicht selbstgesteuert verändern können, verharren in der – ggf. unerwünschten – affektiven Lage, und in den entsprechenden Mustern. Junge Menschen aus dieser sozialen „learned helplessness“ durch Bestätigung und kleine, selbst erlangte Erfolge nach und nach herauszuführen und die alten Muster in neue Lernerfahrungen zu überführen, ist nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Sie könnte „nach Corona“ gar noch größer und wichtiger sein. Dabei ist es immer wieder beglückend zu erleben, welche persönlichen Schübe junge Menschen machen können. Diese Erfahrung gilt gleichermaßen für den schulischen Bereich wie für die virtuelle Fernlehre:

„Wie kann das sein, einen Zweier in Deutsch? Ich hatte mein Leben lang nur Vierer, meistens Fünfer. An dieser Schule und bei Ihnen läuft es irgendwie anders. Ich hab’ keine Ahnung woran das liegt“ (Berufsschüler, der im Übergangssystem [berufliches Vorbereitungsjahr] zuerst den Hauptschulabschluss erworben hat, dann [über die Berufsfachschule] den mittleren Bildungsabschluss, und schließlich seinen Weg ins berufliche Gymnasium [Abitur] gegangen ist).

„Und das ist irgendwie nicht nur so ein Studium, es ist auch so ein bisschen wie so ein (tiefes Einatmen) … also wie so ein total abgefahrener riesengroßer Selbstfindungstrip auf der kreativen Ebene, die natürlich aber eben auch sich in andere, ja, Persönlichkeitsbereiche mit hinüberzieht“ (Lanig 2019, Anhangband 3, Abs. 50).

Strukturierung nach dem Sandwichprinzip

Es geht uns um eine vergleichende Parallelführung Ihrer bisherigen Lehrerfahrung und den anschließenden Transfer in die virtuelle Lehre. Damit baut sich diese Zukunft auf dem Fundament ihrer bisherigen Lehrerfahrung auf. Es wäre nämlich widersinnig, seinen charakteristischen Duktus zugunsten einer Mediatisierung und Technisierung der Lehre aufzugeben – es soll vielmehr umgekehrt darum gehen, dieses Potenzial auf eine digitale Ebene zu führen.

Daher möchten wir an dieser Stelle ein Konzept wiederholen, das einen planerischen Kern unsere Arbeit ausmacht und daher nicht neu ist. Aber gerade, weil es ein Kernbestand ist, ist es hier wert, wiederholt zu werden: Das Sandwichprinzip.


Abb. 8: Zeitliche Unterrichtskonzepte durch das Sandwichprinzip

Die Überlegung beginnt mit einer lernpsychologischen Grundlage: Wie lange können wir unsere Aufmerksamkeit auf ein Thema richten? Die Lernpsychologie sagt uns, dass dies maximal 15 Minuten sind. Daher schichten bzw. „sandwichen“ wir: Dieses strukturbildende Element bildet den Grundaufbau für eine 45-minütige Unterrichtsstunde, die ihrerseits aus einer für die Lernenden rezeptiven Phase (z. B. einem Theorie-Impuls) von etwa 15 Minuten besteht und einer anschließenden für den Lernenden aktiven Phase des Verarbeitens, Speicherns und Anwendens. Aufgaben und Übungen müssen sein, um die Informationen wirklich bei den Lernenden ankommen zu lassen und aktiv zu Erkenntnissen zu verarbeiten. Dabei spielen die subjektive Aneignung über eigene Ideen sowie das wechselseitige Gespräch in der Lerngruppe eine zentrale Rolle. In diesem gemeinsamen Tun, nämlich dem gemeinsamen Nachdenken und Üben, entsteht der eigentliche Lernertrag. Im gelungenen Fall verbindet sich die positive Lernerfahrung der aktiven Phase mit dem zunächst passiv angebotenen Theorie-Impuls.

Daran schließt sich ein erstes Dilemma an: Gerade in der virtuellen Lehre ist die vermeintliche Passivität der Lehrperson in der Einzelarbeit oder Gruppenarbeit noch schwerer auszuhalten – gerade dann, wenn Sie eine stark kommunikationsorientierte Lehrperson sind. Dennoch ist es wichtig, am grundsätzlichen Methodenmix festzuhalten, der sich aus der Grundstruktur unserer Aufmerksamkeit in den Viertelstunden-Einheiten ergibt.

Dabei sei gerade den kommunikationsstarken Kollegen die vorbereitende und nachbereitende Phase ans Herz gelegt: Das Benennen von Zielen, das Erörtern des inhaltlichen Kontextes der Unterrichtsinhalte sowie der Ablaufplan des Unterrichts ist eine zentral wichtige Tätigkeit: Hier stellen sich die Lernenden auf das Thema ein, als Lehrperson aktivieren Sie deren Vorwissen und knüpfen an vergangene Schulstunden und Vorlesungen an. Dieses Abholen ist im „Sandwichdeckel“ einer virtuellen Veranstaltung sogar noch wichtiger. Denn hier ist es die Aufgabe, die Lerngruppe aus einem privaten, familiären Zusammenhang in eine halböffentliche Lehrveranstaltung zu bringen. Analog dazu ist die nachbereitende Phase des „Sandwichbodens“ gleichermaßen eine der Lehrperson zufallenden Moderationsaufgabe: In dieser Ergebnissicherung fassen Sie Thema und Ertrag zusammen, formulieren zentrale Erkenntnisse und schaffen einen Ausblick in kommende Veranstaltungen. Im virtuellen Feld hat dies zusätzlich den Anspruch, eine nicht abziehbare Zwischenzeit zu planen.

Nichtlineares Lernen mit dem Advance Organizer

Erfolgreiche selbstorganisierte Lernformen leben von einer organisierten Vorbereitung und einer strukturierten Durchführung. Für gehirngerechtes Lernen ist es dabei wichtig, solche Strukturen zu nutzen, die sich lernförderlich visualisieren lassen. Die einzelnen Steps des Lernprozesses werden im Advance Organizer als Art Landkarte dargestellt. Entscheidend ist, dass der Lernprozess als nicht linearer abgebildet wird. Ähnlich wie bei der Ausbildung neuer synaptischer Verknüpfungen im Gehirn des Lernenden wird im Advance Organizer vorhandenes Vorwissen an neue Lerninhalte angebunden, sodass dem Lernenden eine erweiterte Struktur angeboten wird. Ähnlich einem Brainstorming oder Mindmap werden zur Erstellung dieser Struktur begriffliche und graphische Assoziationen, Bilder und Symbole herangezogen. Denn das Gehirn baut sein Wissen anhand vorhandener Schemata auf. Die nach dem Prinzip des Advance Organizer entstehende Lernlandkarte macht die Vernetzung der Stoffgebiete anschaulich, bindet neue Inhalte in bestehende (neuronale) Strukturen ein, und schafft so die Voraussetzung für Transfer und Langzeitwissen.

Eine aus diesem lernpsychologischen Grund beliebte Software ist „Prezi“. Hier kann in einem recht überschaubaren Rahmen ein großes Bild beliebig ins Detail gezoomt werden. Die kognitive Orientierung an einem Übersichtsbild, das sich im Laufe der Besprechung in seinem Detailreichtum immer stärker offenbart, ist eine ganz natürliche Metapher der Bildung von Schemata. Im oben besprochenen „Sandwichprinzip“ machen Sie möglich, dass die Lernenden sich aktiv und konstruktiv in dieses Bild einbringen, indem sie online auf diesen Advance Organizer zugreifen und eigene Assoziationen und Einfälle einbringen. So verbinden sich beide Methoden zu einem komplexen Lernarrangement.

Dieses Prinzip macht exemplarisch deutlich, dass es nicht vorrangig die Arbeit an Inhalten ist, die gutes Lernen ausmacht. Von Lehrenden ist – bildlich gesprochen – zuerst der Boden zu bereiten, auf den die Saat aufgebracht werden kann. Da jeder Lernende seinen eigenen „Boden“ hat und diese sich hinsichtlich vermeintlicher „Fruchtbarkeit“ sehr unterscheiden, ist die individualisierte Zuwendung mit dem Ziel des Aufbaus von Lernstrukturen die vorrangige pädagogische Aufgabe. Fachlicher Transfer und Vertiefung können erst eintreten, wenn die entsprechenden fachwissenschaftlichen Strukturen – bei jedem einzelnen Lernenden – aufgebaut und gepflegt worden sind. Andernfalls bleibt erlerntes Wissen angelernter „Stoff“ – und damit passives, träges Wissen (Weinert), handlungstheoretisch und -praktisch also nicht oder nur wenig nutzbar (vgl. https://lehrerfortbildung-bw.de/u_gestaltlehrlern/projekte/sol/fb1/04_organisation/; Zugriff: 12.05.2020).

Kompetenzaufbau auf der Makro- und Mikroebene

Heinz Klippert hat anschaulich begründet, weshalb sich auch die Organisation des Aufbaus von Kompetenzen einer inneren Struktur unterwerfen sollte (vgl. Klippert, 2002). Die aktuellen Erkenntnisse der Lernforschung unterstützen diesen Ansatz. Klippert unterschied daher auch methodisch in Makro- und Mikromethoden. Makromethoden, wie Projektarbeit, Planspiele o. ä. bauen dabei auf Mikromethoden auf. Das erklärt, weshalb ein Schüler zum Beispiel inhaltlich noch so perfekt ein Referat vorbereiten kann, es dann aber am Vortrag scheitert. Die Arbeitstechnik eines Referats und die mentale Einstimmung darauf wurden unter Umständen nicht geübt, sondern einfach vorausgesetzt. In solchen Fällen wird die Forderung zu einer Makromethode pädagogisch betrachtet nicht zur Förderung, sondern vielmehr zur Schädigung. Die eventuell sozialisierte Learned helplessness wird nolens volens vom Lehrenden bestätigt. Beispiele wie diese machen den, an anderer Stelle angedeuteten, basalen Aspekt einer gelebten Beziehungsdidaktik deutlich. Denn Lehrende können nur mit Methoden fördern, wenn sie um den status quo der Lernenden wissen (W-Frage „Wer“).

Klippert gliedert das Methoden-Training in die vier Bereiche: inhaltlich-fachliches, affektives, methodisch-strategisches und sozial-kommunikatives Lernen. Erfolgreich und nachhaltig zu lernen bedeutet nach Klippert, seine Methodenkompetenz zu erweitern, da sie der Weg zum Ziel – unabhängig vom Fach – ist. Das bedeutet gleichermaßen für Lehrende und Lernende, Methoden zu vermitteln, anzuwenden und ihre Anwendung wie den durch sie stimulierten Lernprozess reflektieren zu können. Erst wenn diese Schritte erfolgt sind, können sich neuronale Verknüpfungen zwischen methodischem und fachlichem Lernen einstellen.

Bei den bisherigen Reflexionen zum erfolgreichen Lehren und Lernen und der Anbahnung von Lern- und Bildungsprozessen kam der Frage nach dem Lernraum keine – bis maximal eine indirekte – Bedeutung zu. Diese Beobachtung kann nicht weiter wundern, denn obliegt klassisch die Ausstattung dem Schulträger, während pädagogische Fragen dem Dienstherrn – bei den (Hoch-)Schulbehörden und letztlich dem entsprechenden Landesministerium bzw. in der Lehrerausbildung den entsprechenden Seminaren – vorbehalten sind. Dieser Hinweis ist nicht als formale Zuständigkeit abzutun, sondern beschreibt auch auf struktureller Ebene nicht weniger als einen epochalen Paradigmenwechsel (der bei Organisationen seine Zeit brauchen wird).


Abb. 9: Anbahnung von Lernprozessen auf zwei Ebenen

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