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ОглавлениеEinleitung: Eine Krise in der digitalen Steinzeit wirft Fragen auf
„Wir erleben das Ende der Universität, wie wir sie kannten“, titelte die „Welt“ im Mai 2020 (https://www.welt.de/debatte/kommentare/article208219581/Hochschulen-Wir-erleben-das-Ende-der-Universitaet-wie-wir-sie-kannten.html; Zugriff: 01.06.2020). Zu dieser Zeit war der (erste) Shutdown bereits beendet. Viele Schulen hatten die Versorgung der Prüfungsklassen bereits hinter sich und planten das Prinzip „flipped classrooms“ für die Zeit nach Pfingsten. Wie das neue Schuljahr aussehen würde, wusste da noch niemand. Nur, dass es anders sein würde. Bereits vor über vier Jahrzehnten schrieb der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn: „Krisen sind eine notwendige Voraussetzung für das Auftauchen neuer Theorien“ (Kuhn, 1976, S. 91) – und wir ergänzen – sowie Praktiken!
Die Digitalisierung der Bildungssysteme hat im Jahr 2020 einen krisenhaft ausgelösten Schritt getan. Gleichzeitig sind die paradigmatischen Linien bereits seit Jahrzehnten erkennbar. Der Corona-Impuls stammt aus einer externen Ebene, die mit der eigentlichen mediendidaktischen Diskussion um das E-Learning nicht direkt in Verbindung steht. Es wurde lediglich deutlich, dass die Digitalisierung bei der Überwindung der Raum- und Zeitschranke behilflich ist. Doch dieser Gedanke ist nicht neu, er ist bereits seit fast drei Jahrzehnten in der Diskussion.
Das Novum in dieser Krise bestand darin, dass der elementare Vorteil über die fehlenden Potenziale der digitalen Bildung nicht mehr argumentierbar war. Gleichzeitig haben auch 2020 „Medien per se keine didaktischen Potenziale“ (Euler, 2004, S. 225). Dies festzuhalten scheint uns auch nach Jahrzehnten der pädagogischen Diskurse wichtig. Insofern ist aktuell nach dem methodisch-didaktischen Kern in der digitalisierten Bildung zu fragen.
Wer „wir“ sind
Dieses Buch schreiben wir aus der Perspektive von Lehrern, die viele Jahre – haupt- und nebenberuflich, in der eigenen Lehre sowie im Aufbau hybrider Formate und in der Begleitung virtuell Lehrender – Erfahrungen in der virtuellen Hochschullehre und im virtuellen Coaching sammeln durften. Ausgehend von dieser Arbeit stellen wir zeitgeistige Phänomene bei Schülern und Studierenden fest. Unsere Motivation ist es, die Vorerfahrung an virtueller Lehre einer in diesem Bereich deutschlandweit führenden Fernhochschule – der staatlich anerkannten DIPLOMA – für den schulischen Bereich in der gegenwärtigen Situation als Basis anzubieten. Damit haben wir Ausgangspunkte für eine tiefer gehende methodisch-didaktische Betrachtung.
In diesem Sinne startet die Diskussion um die Digitalisierung der Bildung an einem Punkt in der Vergangenheit, an der die Zeit- und Raumschranke ein stichhaltiges Argument war. Um das Jahr 2010 herum wurde nämlich deutlich, dass eine im Wesen andersartige Lehr- und Lernkultur möglich werden kann. Zu dieser Zeit transformierten sich Fernhochschulen, die bislang über den postalischen Versand von Lehrmaterialien arbeiteten, zu virtuellen Hochschulen. Dieser Prozess ist für uns wichtig, da die geforderte personale und soziale Kompetenzentwicklung neue didaktische Formate erforderte, und damit wiederum eine virtuell adäquate methodische Kompetenz. Im Zentrum der Entwicklung neuer Formate stand der digital vermittelte Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden.
Im Diskurs sind daher zwei Punkte besonders interessant. Erneut bewahrheitet sich eine ganz naheliegende These: Lernvorgänge sind nicht zwingend an die Gleichzeitigkeit einer schulischen Institution gebunden. Soweit scheint dies trivial. Doch der zweite Punkt ist diskursanalytisch interessanter: Im Frühjahr 2020 ist eine „Anomalie“ aufgetreten, die eine Reaktion in der Diskursbildung herausfordert (vgl. Kuhn, 1976, S. 90–94). Diese Anomalie bestand darin, dass die Präsenz- und Kontrollkultur bildungstheoretisch, vor allem aber empirisch in Frage gestellt wurde. Dieses Phänomen unterlag einem nicht planbaren, relativ schnellen Prozess, der so in wesentlichen Aspekten weder steuerbar war noch bis dato hinreichend reflektiert worden ist.
Diese Anomalie war ferner dadurch gekennzeichnet, dass die Narration des traditionellen Präsenzunterrichts in eine kaum mehr zu restaurierende Debatte gestellt wurde. Die kollektiven, aus der industriellen Gesellschaft stammenden Ideen der Bildungssysteme rieben sich – und reiben sich seither – mit den individuellen Potenzialen digitaler Schul- und Hochschulbildung. – Anmerkung: An dieser Stelle soll und darf nicht unter den Tisch fallen, dass diese individualisierten Potenziale auf dem Rücken der Millionen von Eltern und vorwiegend Müttern ausgetragen wurden, die das Konzept „Homeschooling“ nolens volens zu verwirklichen hatten.
Was die Ambivalenz des Neuartigen in sich trägt
Insofern stehen wir seit Frühjahr 2020 an einem historischen Ereignis, das eine Ambivalenz des Neuartigen in sich trägt. An vergleichbaren Punkten der Menschheitsgeschichte wie auch der individuellen Entwicklung eröffnet sich die Option einer „revolutionären Anpassung“ (Peterson, 2009, S. 62). Das Adjektiv „revolutionär“ soll hier nicht als bildungspolitischer „Kampfbegriff“ missverstanden werden. Diese Bezeichnung fußt auf der Beobachtung, dass die Kompetenzerfahrung der nun zur digitalen Vermittlung gezwungenen Kollegien an einem Punkt der E-Learning-Debatte anschließt, die bereits 1990 mit der intendierten Überwindung von Raum und Zeit durch digitale Bildungsmedien startete. Dieser Hinweis lässt die angedeutete Ambivalenz bereits zeitlich sehr konkret werden: Wir müssen also von einer zeitlichen Verschiebung – um nicht zu sagen Verzögerung – von mindestens 30 Jahren ausgehen! Was eine solche Zeitspanne im digitalen Zeitalter bedeutet, dürften nicht nur medial affine Kollegen erahnen. Eine Videokonferenz-Software in einer stellenweise schon guten Infrastruktur an Schulen und Hochschulen technisch bedienen zu können, ist lediglich die Grundlage eines Diskurses über Möglichkeiten und Grenzen einer Anpassung der Bildungssysteme. Allerdings waren die technischen Fragen bis zum Ende des Schuljahres 2019/20 bzw. des Sommersemesters 2020 die meisten Anliegen aus Kollegien. Insofern bezeichnet das Adjektiv „revolutionär“ den Anschluss einer seit Jahrzehnten in Bewegung befindlichen Diskussion über die Paradigmen von Bildung schlechthin. Dass diese Debatte damit ziemlich genau eine Lehrer-Generation alt ist, ist kein Zufall: Denn die tief liegenden Glaubenssätze über das Wesen über die Entstehung und Weitergabe von Wissen bilden den Kern der aufgebrochenen Debatte. Bereits sieben Wochen nach den Schulschließungen durch die Corona-Ausgangseinschränkungen lag eine erste deutschlandweite empirische Studie – quantitativ anhand von 2000 Fragebögen erhoben – zum „Homeschooling“ vor. Kollegen an der Universität Konstanz-Landau wiesen zum ersten Mal nach, was Kinder, Eltern, Lehrer und Schulleiter ebenso befürchtet hatten: Dass die Eltern-Kind-Beziehung durch die Struktur des „Homeschooling“ in Mitleidenschaft gezogen wurde und – wen mag es wundern – die hinzugekommene Organisations- und Unterstützungsarbeit vor allem ein Job der Mütter war (vgl. https://www.uni-koblenz-landau.de/de/landau/fb5/aktuelles/befragunghomeschooling; Zugriff: 01.05.2020).
Die Änderung des Raumes und die Auswirkungen der (zumeist unreflektierten) Bedingung, dass das bislang Ausgelagerte – das institutionelle Lehren und Lernen – in den privaten Raum gleichsam hineingetragen wird, sind wichtige Komponenten des virtuellen Lernens. Allerdings sind – bzw. wären: im Hinblick auf den erfolgten „Sprung ins kalte Wasser“ durch das angeordnete „Homeschooling“ – Fragen der Selbststrukturierung, der Präsenz und Verfügbarkeit im Vorfeld zu klären, weil sie Dynamiken entfalten, die beim angelaufenen Betrieb schwer aufzuhalten sind. Diese Verlagerungen, die unausweichlich, aber in ihrer Auswirkung bei guter Vorbereitung (!) durchaus steuerbar sind, müssen im Vorfeld bewusst gemacht werden. In der Corona-Krise jedoch wurden flächendeckend Lehrende wie Lernende mitsamt ihren Eltern in ein „Lernexperiment“ hineingeworfen. Lehrer wie Schüler hatten über drei Monate hinweg zu improvisieren. Zentral war dabei – das wurde in allen Gesprächen deutlich – der „Stoff“ und nicht die Lehrer-Schüler-Beziehung. Lehrer, die es strukturell gewohnt sind, vor wichtigen Veränderungen eine Fortbildung zu erhalten, waren auf sich allein gestellt. Sie suchten nach Plattformen und Diensten, mit denen sie besten Wissens und Gewissens ihrer Arbeit weiterhin nachgehen konnten – und auch urheber- und datenschutzrechtliche Regeln wurden dabei oft nicht mehr beachtet. Sich „durchzukämpfen“ war angesagt, in diesem angeordneten „Corona-Kampf-Modus“.
Welche epistemischen Hindernisse wir sehen
Die Bildungstheorie hat auf diese epistemischen Hemmnisse in der Verbreitung von E-Learning – angesichts einer mittlerweile guten bis sehr guten Infrastruktur – schon 2007 hingewiesen (vgl. Gruber, 2007, S. 123–132). Dieser Wirkungszusammenhang ist so unstrittig, dass er bereits in der Lehrerausbildung als „Selbst- und Fremdbild der Lehrperson“ zum festen Bestandteil geworden ist. Insofern macht unser Buch kein “neues Fass“ auf, sondern weist auf diese Debatte aus aktuellen Anlässen hin: Die aktuell verantwortlichen Entscheider und Praktiker haben nämlich – und das ist eine entscheidende Prämisse! – kein eigenes Erfahrungsbild des Lernens und Lehrens in digitalen Medien. Damit ist die eigene Bildungsbiografie samt deren Reflexion das Gravitationszentrum des eigenen Lehrhandelns – auf das wir wie mit physikalischer Gesetzmäßigkeit zurückgeworfen werden. Daher mögen die Kollegien die zulässige Kritik geduldig ertragen, dass durch die Schließung der physischen Institution das gleichmäßige Distribuieren von Aufgabenblättern und deren umständliche Kontrolle als (so etwas wie) „Unterricht“ verstanden worden ist. So manches Kollegium ist in dem sicher berechtigten Höhenflug der Kompetenzerfahrung 2020 aus mediendidaktischer Sicht an der Jahrtausendwende angekommen – andere setzen nun zu diesem Quantensprung, heraus aus der „digitalen Steinzeit“, an.
Was mit ein wenig zeitlichem Abstand zwischen Zynismus und Fatalismus schwingt, ist ein simpler Zusammenhang: Die derzeit in der Digitalisierung gefragten und herausgeforderten Lehrenden können sich auf nichts berufen, was ihnen eine existenzielle Sicherheit ihrer Lehrendenrolle vermitteln könnte. Nicht die eigene Biografie und natürlich auch nicht die mitunter Jahrzehnte zurückliegende Lehrerausbildung. Doch was noch so gute Fortbildungsangebote nicht vermocht hätten, lag als Potenzial in der Corona-Krise, ganz im Sinne von Max Frisch’s Bonmot: „Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Jeder gute Lehrer ist auch ein gutes Stück weit kreativ. Seine Kreativität mündet in gelungener Improvisation, die stimmig auf eine bestimmte Klasse oder einen Kurs adaptiert wird. Die Schulschließungen und eine fehlende – für Behörden notwendige – Vorlaufzeit haben an diesen Basisqualitäten (ohne es zu wollen) wieder angesetzt und ganz neue, zum Teil ungeahnte Potenziale zum Vorschein gebracht. Kollegen, die sich jahrelang vor Whiteboard und Laptop gedrückt hatten, mussten ihre bewährte Komfortzone verlassen und über ihren eigenen (virtuellen) Schatten springen – in aller Regel mit Erfolg. Nach dem schrittweisen „Zurück“ aus dem Shutdown sehnte sich hier und da so mancher auch zurück in sein „altes“, analoges Klassenzimmer. Doch der „Rubikon“ ist überschritten, ein komplettes „Zurück“ in die „guten alten“ Zeiten wäre für die Bildungslandschaft fatal.
Was also ist das Angebot dieses Buches? Mit dem Verweis auf eine seit circa 10 Jahren bestehende Empirie in virtuellen Lehr- und Lernsettings einer Fernhochschule soll ein reflektierter und methodisch-didaktischer Beitrag zur bildungstheoretischen und aktuellen lehrpraktischen Debatte geleistet werden. Basis für die Beantwortung dieser Fragen sind Expertengespräche, welche die Bildungsbiografie von Lehrenden mit den Erfahrungen kontrastieren, die in den letzten 10 Jahren der virtuellen Lehre zu beobachten waren. Damit repräsentieren diese Rückmeldungen die didaktischen Erkenntnisse der ersten Kohorten virtueller Studiengänge überhaupt, was mit einem Exkurs zum Designfernstudium näher dargestellt wird. Eine zweite Basis bieten erste Umfragen unter Lehrenden und Lernenden, unmittelbar nach dem Shutdown und der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts. Diese liefern bereits wichtige erste Erkenntnisse und sollen in den nächsten Monaten (mehr war bis zur Drucklegung nicht möglich) noch qualitativ untersucht werden. Über die Synthese dieser Datenquellen war es möglich, ein vielschichtiges Bild dieses – für alle Schulen und viele Hochschulen in Deutschland – neuen Phänomens als Praxisleitfaden zu entwickeln.
Eine dritte Perspektive auf das Thema ergab sich durch die Reflexion von Methoden, die sich durch das virtuelle Coaching in den letzten Jahren erfolgreich etabliert haben und die für einen als Coaching verstandenen Unterricht einen methodisch-didaktischen Gewinn darstellen.
Nach einem knappen theoretischen Teil zur grundsätzlichen Frage nach gutem Unterricht versteht sich der eigentliche Hauptteil des Buches als methodischer Praxisleitfaden. Entlang von Prinzipien, die aus dem Coaching und der Schulung von virtuell Lehrenden entstanden sind, wird über tatsächlich erlebte Lehr-Lern-Situationen verdeutlicht, wo die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Präsenz- und virtuellem Unterricht liegen. Dies soll aus der alltäglichen Sicht von Lehrenden deutlich werden, sodass die gemeinsame Reflexion auf die personale und die methodische Kompetenz lehrpraktisch nachvollziehbar wird. Um beide zu stärken, und damit den klassischen Schwerpunkt des Unterrichts – die Beziehungsdidaktik – werden im praktischen Schwerpunkt 64 Methoden vorgestellt (wobei sich die Zahl im Laufe der Lektüre, spätestens am Ende des Buches erschließen wird). Zwar ist mit dem Frühjahr 2020 eine Vielzahl an Einzelhinweisen und Sammlungen zu Apps und digitalen Tools für virtuelle Lehre und Fernunterricht entstanden. Wir knüpfen bewusst nicht daran an. Dass ist keine Wertung über dieses große Engagement und die kreativen Suchbewegungen. Doch wir gehen in unserem Unterricht und unserer Lehre nach dem Credo vor: Was sich im analogen Raum bewährt hat, muss als erstes für den virtuellen Unterricht auf Brauchbarkeit überprüft – und dann adaptiert und so zu sagen in die Digitalisierung hinüber „gerettet“ werden. Auch, dass wir in diesem Buch sparsam mit Hinweisen auf entsprechende Apps und digitale Tools sind, bedeutet keine Ablehnung gegenüber diesen Instrumenten. Viele davon nutzen wir selbst. Doch ist erstens nicht absehbar, wie lange die einzelnen Angebote auf dem Markt sind, wie sie sich entwickeln und – auch – in welche Abhängigkeit sie Schüler und Lehrende bringen werden. Und gilt zweitens – in der prinzipiell hohen Komplexität der virtuellen Lehre – ein Grundsatz aus dem Analogen umso mehr: Weniger ist mehr.
Kommt es „auf uns Lehrende an“?
Diese Aussage ist bekanntermaßen aus dem zentralen Ergebnis der Bildungsstudie des australischen Bildungsforschers John Hattie (vgl. Hattie/Zierer, 2018) entlehnt. Seine kurze, aber prägnante Botschaft lautete: „Know thy impact!“ Daher möchten wir an erster Stelle den Lehrpersonen einen zentralen Gedanken widmen: Den Berufsstand des Lehrers treibt ein gewisser Idealismus an. Was Hattie – nicht neu, aber wieder – betont hat, ist die Frage nach der Wirksamkeit des methodisch-didaktischen Handelns. Und an dieser setzen auch wir an. Denn Lehrende haben nicht den Auftrag, Stoff zu vermitteln, sondern einen Bildungsauftrag, im vollumfänglichen Sinne dieses Wortes. Auch unsere Haltungen und Formate sind geprägt von der Vorstellung, über gute Ideen Menschen auf gelingende Wege zu leiten und durch eine ganzheitliche Bildung die Welt „etwas besser zu machen“.
Sind damit die Bildungseinrichtungen und Lehrenden so digital wie nie? Und sind das die besten Voraussetzungen für die Umsetzung des Humboldtschen Bildungsideals? Sind wir Zeugen der historischen Ablösung der Industriegesellschaft mit einer noch im Entstehen begriffen digitalisierten Wissensgesellschaft? So ideal ist es leider nicht. Sonst bräuchte es auch dieses Buch nicht. Denn in der idealistischen Sichtweise der Lehrenden steckt ein wesentliches Problem: Wir reproduzieren über unser eigenes Lehrhandeln unsere individuelle Vorstellung darüber, wie Wissen entsteht und dieses Wissen in Bildungseinrichtungen weitergegeben wird. Dabei haben wir naturgemäß keine andere Möglichkeit, als auf unsere eigene Bildungssozialisation zurückzugreifen. Diese Ausgangssituation an sich trifft keine Schuld – gerade, weil Lehrende aus einer tiefen persönlichen Überzeugung heraus handeln, ist dies gut und richtig. Allerdings ist beispielhaft die eigene Lerngeschichte sehr wirkmächtig für die Motivation zum Lehrberuf wie für die Art und Weise des Lehrens in praxi. Dies wird in Coachings von angehenden Lehrenden immer wieder deutlich. In der Regel gibt es da eine oder einen, der als Vorbild fungiert (hat). Die b&w-Redakteurin Maria Jeggle hat dazu festgestellt: „Erstaunlich ist, wie präsent die eigene Schulzeit bleibt, selbst nach 30, 40 Jahren (…) Lehrkräfte, die ermutigen, die Begeisterung auslösen oder im schlechten Fall verletzen, bleiben ein Leben lang im Gedächtnis“ (Jeggle, 2019, S. 18).
Dieser Wirkungszusammenhang aus Sozialisation, Modelllernen, Kopieren, Abgrenzen und Idealismus … ist also keineswegs neu. Aber er prägt sich in den aktuellen Jahren im Kontext der Digitalisierung stärker aus. Einer der Autoren blickt selbstkritisch zurück:
„Als leidenschaftlicher Junglehrer einer berufsbildenden Schule hatte ich im Typografieunterricht die beliebte Gewohnheit, die Tische aus der industriellen und militärischen Anordnung in kleine Arbeitsgruppen zu stellen. Ich liebte es, mit einem Stapel weißem Papier und Bleistift durch die Gruppen zu ziehen und in direktem Kontakt das jeweilige Projekt der Schülerinnen und Schüler zu besprechen. Das entsprach nicht zuletzt meiner eigenen Erfahrung in den Ateliers der Kunsthochschule. In dieser Situation kam ein Kollege auf mich zu. Er trug mir sein Projekt an, für eine Fernhochschule einen Studiengang im gestalterischen Bereich zu entwickeln. Und ich reagierte reflexhaft mit Skepsis. Aus purer Kollegialität sagte ich meine Mitarbeit beim Studienmaterial zu, obwohl ich vom Scheitern überzeugt war. Ich dachte dabei an Fernkurse, die auf der Rückseite von Fernsehprogrammheften beworben werden und eben nicht an akademische Bildung. Als das Studienprogramm Jahre später anlief und ich als Lehrender meine Vorlesungen gab, geschah etwas Erstaunliches: Ich sah, welche Talente von einem staatlichen und bis zu diesem Zeitpunkt auch privaten Bildungssystem ausgeschlossen waren. Und wie dankbar, konstruktiv und mit welchem Niveau die Studierenden diese Angebote annahmen. So wurde ich vom Saulus zum Paulus und vom argwöhnischen Kritiker zum leidenschaftlichen Verfechter von Fernunterricht. Denn didaktisch stand ein gänzlich neues Feld offen: Es wurde klar, dass die Frage, wie ästhetische Bildung und sozialer Lernraum in einem digital strukturierten Feld entwickelt und optimiert werden kann, zur zentralen Frage für mich als Lehrer und später als Forscher werden würde.“
Zur eigentlichen Problembeschreibung gibt es eine Vielzahl von externen und internen Hemmnissen, die eine Entwicklung und Verbreitung von digitalen Anwendungen in Lehre und Unterricht bremsen. Dabei möchten wir ganz selbstkritisch einige interne Faktoren benennen: Als leidenschaftliche Lehrer begegneten auch wir dem augenscheinlich fehlenden sozialen Lernen und dem offensichtlich abwesenden Sozialraum mit Vorurteilen, Sorge und auch schlichtweg fehlenden Erfahrungen. Aber auch externen Aussagen von Schulleitungen, den Kultusministerien sowie öffentlicher Einrichtungen war in der Corona-Krise zu entnehmen, dass diese nur vage formulierte Modeerscheinung aufgrund ihrer Intransparenz in den Kollegien finanziell wie ideell nur unzureichend unterstützt wurde. So versandeten viele gut gemeinte – sicher ebenso idealistische – Versuche in politischen Sonntagsreden, auf pädagogischen Tagen oder in Schubladen der Hochschuldidaktik.
Mit allein diesen externen und internen Barrieren lässt sich aber die nur schleppende Durchsetzung von blended Learning und E-Learning nicht erklären. Denn die oben beispielhaft aufgeführten landläufigen Gründe würden daraus hinauslaufen, dass der idealtypische, „durchschnittliche deutsche Lehrer“ diesem Phänomen schlichtweg inkompetent gegenübersteht. Doch das ist nicht der Fall. Gleichzeitig wird dieser Umstand mit dafür verantwortlich sein, wenn der Berufsstand des Lehrers in der – noch ausstehenden – Reflexion der Corona-Krisenbewältigung nicht so gut abschneiden wird. Nahezu alles, was die Lehreraus- und -fortbildung ausmacht, wurde in der Krise auf Eis gelegt. Und die Lehrer hatten sich mit dem zu behelfen, was auch grundständig zu ihrer Kompetenz gehört: einem guten Schuss Improvisation. Dieser Umgang soll hier nicht kritisiert werden, doch weiß auch jeder, dass nichts länger anhält als Provisorien. Insofern besteht die große Herausforderung „nach Corona“ darin, aus den vielen – mehr oder weniger – provisorischen Notfall-Lösungen Konzepte zu entwickeln, die tragfähig und nachhaltig sind. Dann wäre die Krise eine Chance für das digital steinzeitliche deutsche Schul- und in den meisten Fällen Hochschulsystem. In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass sich deutschen Schulen fortan vor allem an ihren neuen, in der Krise begonnenen Konzepten messen lassen müssen.
Bei allen Aufbrüchen gilt aber: In der Improvisation konnte nicht auf ein Erfahrungsbild zurückgegriffen werden. Diese Situation war für Lehrende gänzlich neu. Wir sehen also, dass im Rückgriff auf die eigene Bildungssozialisation die eigentliche Problematik liegt, die in der Hochschuldidaktik bereits breit und tief untersucht wurde. So kommt eine Studie mit dem Titel „Über die Rolle des epistemischer Überzeugungen für die Gestaltung von eLearning – eine empirische Studie bei Hochschullehrenden“ (vgl. Gruber, 2007) zu diesem zentralen Ergebnis: Durch die Beschäftigung mit E-Learning kommt es kaum zu Veränderungen der epistemischen Überzeugungen – die Befragten aus den Fächern der Wirtschaftsinformatik und der Pädagogik auf professoraler Ebene wie des Mittelbaus machten deutlich, dass die subjektiven Auffassungen von Veränderungen ihrer eigenen Rolle als Lehrpersonen, der Auffassung über die Natur von Wissen und über die Rolle der Lernenden kaum verändert wurden.
Dieser Befund ist die eigentliche Begründung, warum die Settings von E-Learning genau diese drei Ebenen verändern: Die Rolle der Lehrenden, die Rolle der Lernenden sowie der Vorgang des Kompetenzaufbaus selbst kommt in den Rahmenbedingungen von E-Learning massiv in Bewegung – wird aber gleichzeitig zu wenig bis gar nicht angemessen reflektiert. Da diese Bewegung der epistemischen Auffassungen für Lehrende grundsätzlich problematisch ist, begründet dies eine bislang geringe Verbreitung von E-Learning. Dies mag verwundern, da die technologische Entwicklung sowie die Infrastruktur zunehmend optimiert wurden – und werden. Allerdings sind Veränderungen in den ästhetischen Auffassungen nachgewiesen träge. Damit wurde das Potenzial von E-Learning auf den genannten drei Ebenen bisher mittelfristig weitestgehend nicht ausgeschöpft.
Damit kommen wir zu einer grundlegenden These unserer Lernforschung: dass eben diese Vorstellungen über das Entstehen und die Weitergabe von Wissen (und Kompetenz) in den Bildungseinrichtungen der zentrale Punkt ist, über den nachzudenken ist! „Know thy impact“ – Wisse, was du als Lehrer bewirken kannst! Übertragen auf die (zumindest) ersten Wochen des „Homeschoolings“ – der vielfach verwendete Begriff wird vorliegend in Anführungsstrichen gesetzt, weil dies mit Unterricht wenig zu tun hatte – bedeutet das: Bewirkt wurde eine Flut an Arbeitsblättern, überforderte Schüler und vor allem Eltern – das heißt in aller Regel Mütter. Das, was guten Unterricht erwiesenermaßen ausmacht – v. a. durch Individualisierung, Interaktion, Feedback, Wiederholung und Lernspiralen … – trat hinter die „Versorgung mit Stoff“ zurück. So tief und fest sitzen sie also, die sozialisierten Muster der eigenen Lerngeschichte.
Der Schulpädagoge Hilbert Meyer spricht von der „persönlichen Theorie guten Unterrichts“ (Meyer, 2007, S. 82). Diesen Ansatz fordern wir auch für die virtuelle Lehr- und Lernwelt ein. Er ist Gegenstand dessen, was unter dem Begriff „teacher beliefs“ (vgl. Elmer/Pauli/Reusser, 2011) pädagogisch erforscht wird. Wichtig zu betonen – und hier auf den Bereich des virtuellen Lehrens und Lernens zu übertragen – ist, was Meyer so selbstverständlich konstatiert: „Persönliche Theorien steuern die Wahrnehmung des Unterrichts und auch die im Prozess getroffenen Entscheidungen viel stärker als Theoretiker-Theorien“ (Meyer, 2013).
Im Personal und Business Coaching ist die „Wunderfrage“ ein übliches Tool, um Visionen zu entwerfen – und um von diesen her Ziele und Maßnahmen zu entwickeln. Darin spielen vor unserer Fragestellung die Lehrenden eine Pionierfunktion, die derzeit – nicht nur in Zeiten von Corona, sondern – in den in Nischen arbeitenden virtuellen Studiengängen eine weitere Bildungssozialisation erhalten (haben). In diesen „Nischen“ tummeln sich viele gute und in ihrer beruflichen Tätigkeit sehr bewährte akademische Fach- und Führungskräfte. Insofern ist dieses Format, die Hochschullehre durch hoch qualifizierte nebenberufliche Dozenten zu ergänzen, in aller Regel eine Bereicherung für die Hochschullandschaft. Insbesondere praktische Studienrichtungen profitieren davon. Gleichwohl ist der Unterschied zwischen Dozent und Lehrer zu reflektieren – wobei auf das „Dozieren“ im Gegensatz zum Unterrichten im folgenden Kapitel eigens eingegangen wird. Ein Lehrausbilder, der für den Direkteinstieg von Diplom-Ingenieuren in den gewerblichen Schuldienst verantwortlich war, fasst diese Problematik pointiert so zusammen:
„Der mag zwar ein hervorragender Fachmann sein, aber ein Lehrer wird er nicht. Der Mann hat seit fünfzehn Jahren eine Abteilung geleitet und ist über 40. Wer so viel Erfolg hatte, der muss in dem Alter bereits beratungsresistent sein.“
Hier mögen vielleicht Vorurteile mitschwingen, aber die Erfahrung des – älteren – Kollegen weist eindringlich darauf hin, dass es im Unterricht nicht vorrangig um das „Trichtern“ von „Stoff“ gehen kann. Folglich wird die Bedeutung des Lehrenden nur dann weiter zu eruieren und in die Aus- und Weiterbildung zu integrieren sein, wenn die im virtuellen Kontext vorherrschenden – oder vielmehr unbewusst vorhandenen, aber das ist unwesentlich, denn sie beeinflussen in jedem Fall – „teacher beliefs“ thematisiert werden. Und zwar im Hinblick auf das eigene Selbstbild und Rollenverständnis sowie hinsichtlich der Wirksamkeit auf Lernende.
Erkenntnisreich ist eine Beschäftigung mit einer Generation von Lehrenden, die ihre fachliche Bildung aus virtuellen Kontexten haben. Konsequenterweise haben sie als Kollegen in Fernhochschulen nicht im Ansatz die Krisenerfahrungen, ein Lehrsystem neu denken zu müssen. Aber als im doppelten Sinn Autodidaktiker setzen sie Paradigmen um, die für uns „alte“ Lehrergeneration inspirierend sein können. Eine Vertreterin aus dieser Generation von Lehrenden, die ihre Bildungssozialisation in virtuellen Lernräumen erhalten haben, äußerte sich so:
„Das war mir nicht bewusst, dass ich jetzt die erste Generation bin, die es vom virtuellen Student zum virtuellen Dozent geschafft hat (…) Zum einen natürlich kann ich mich mit den Studenten sehr gut identifizieren, wenn sie Sorgen und Ängste haben. Oder Fragen. Ich weiß, wie wichtig es ist, dass man klare Ansagen macht (…) Manche meiner Dozenten haben sich immer sehr nebulös gehalten. Da hat so der Kontakt gefehlt. Und darum finde ich es eben wichtig, dass man klare Ansagen macht, gerade was Organisation angeht (…) Als Dozent muss man seinen Plan verfolgen und (…) expliziter Vorgaben machen, was eben gerade Zeitplanung angeht, wenn man bestimmte Übungen oder Frage-Sessions macht. Man muss mehr auf die Zeit achten (…) Wenn die eigentlich real Studierenden in einer virtuellen Vorlesung sind, dann sind die Studenten sehr viel proaktiver. So kenne ich es aus meiner Zeit als Studentin. Also wenn ich so eine Szene vor Augen habe, man sitzt da und dann ist man so in seinem Tunnel und man sieht den Dozenten. Dann stellt der Dozent eine Frage. Es sind immer die gleichen Studenten, die mit dem Dozenten interagieren. Es gibt viele, die diese Anonymität nutzen und unter dem Deckmantel der anderen so mitschwimmen. Die interagieren kaum (…) Virtuell sind die Studenten proaktiver und ergreifen von sich aus Initiative, zeigen und laden was hoch und so (…) Barrieren gab es eigentlich nicht. Und wenn dann konnte ich sie eben aus der Welt schaffen, in dem ich klare Ansagen machte, es gut organisierte und die Studenten so abholte.“
Hier wird exemplarisch deutlich, wie sehr der subjektive Blick des Lernenden Eingang findet in die eigene Unterrichtsgestaltung. Einmal mehr bewahrheitet sich hier die Notwendigkeit einer Empathie in der Unterrichtsvorbereitung: Denn durch den „Tunnel“ in die virtuelle „Blase“ der Studierenden zu gelangen ist ein bestechendes Bild für eine handlungsleitende Unterrichtsmetapher:
„Wie gesagt, also ich finde halt, wir leben alle in unserer kleinen Blase. Ja, wir leben alle unser eigenes kleines Leben, von dem die anderen außerhalb von der Uni nichts mitbekommen (…) Ich sehe meine Kommilitonen und die sehen mich ja nur auf dem Bildschirm (…) ansonsten sind diese Menschen in meinem Leben nicht vorhanden (…) ich bin mir ziemlich sicher, dass keiner von meinen Kommilitonen auch nur einen Gedanken daran verschwendet, was ich den ganzen Tag mache. Genauso wie es mich andersrum, ehrlich gesagt herzlich wenig interessiert“ (Lanig, 2019, Anhangband 3, S. 75).
Wahrnehmungen wie diese haben uns für die Metapher der eigenen „Blase“ sensibilisiert – dazu später mehr.
Oder kommt es auf den Unterricht an?
So wird es leicht nachvollziehbar, weshalb Hilbert Meyer dem Hattie-Diktum die Perspektive des Unterrichts gegenüberstellt (Meyer, 2013). Was auf den ersten Blick als Widerspruch wirken kann, ist als Ergänzung zu verstehen. Mit Hattie betont Meyer die pädagogische Wirksamkeit, die der Lehrende hat bzw. haben kann und die es immer wieder zu reflektieren gilt: Wie wirke „ich“, meine Sprache, meine Arbeitsaufträge, meine Präsenz im Raum … wie wirkt letztlich meine Persönlichkeit als Lehrender? Denn wenn ich das Lernen als Lehrer zu organisieren, zu strukturieren und zu steuern habe, muss ich um diese Wirkungen wissen, um all dies auch adressatengerecht umsetzen zu können. Dass aber Unterricht mehr ist als die beste Organisation, Struktur und Steuerung, wird wiederum – und nicht zuletzt – am „Corona-Homeschooling“ deutlich. Denn all das haben die allermeisten Lehrer bestmöglich versucht umzusetzen. Doch es blieben große Unzufriedenheiten, nicht nur bei den Elternhäusern, sondern auch bei den Pädagogen selbst. Ein Kollege, der seine ersten Jahre an der Schule gut hinter sich gebracht hatte und aufgrund seines Alters auch sehr affin für digitale Plattformen war, sagte im Coaching:
„Ich freue mich so darauf, wenn ich meine Schüler mal wieder in echt sehe. Das, was nebenbei läuft, worüber wir spontan lachen, was dem Unterricht auch Menschlichkeit und Lebensqualität gibt, das fehlt mir alles im Digitalen. Nein, es macht mir gerade und zum ersten Mal im Leben keinen Spaß mehr Lehrer zu sein. Ich lehre ja auch gerade nicht, ich fertige Materialien an, als wenn ich Autor eines Schulbuchverlages wäre …“
Dieser Hinweis soll nicht bedeuten, dass all das, was der junge Pädagoge vermisst hat, im virtuellen Raum nicht möglich wäre. Die langjährige Erfahrung unserer virtuellen Schulungen und des kollegialen virtuellen Coachings sieht eindeutig anders aus. Aber es braucht einige Jahre der Entwicklung, bis sich ein vergleichbarer Zustand – auf beiden „Seiten“ – einstellt. Und dieser beginnt immer mit der Reflexion. Insofern wären Rückmeldungen wie diese für die Bildungssysteme von entscheidender Bedeutung. Denn nur, wenn der Lehrende seine Wirksamkeit durch eine implementierte – und auch gewollte – Feedbackkultur immer wieder neu „einholt“, kann er diese blinden Flecken seiner eigenen Wahrnehmung ausgleichen und die Qualität seines Unterrichts optimieren. Kollegen, wie dem hier beispielhaft angeführten, ist dieser Umstand offenbar intuitiv bewusst. Entscheidend für die Weiterentwicklung schul- und hochschulischer Strukturen wird es aber sein, ob und inwiefern diese Erfahrungen auch vom jeweiligen System eingeholt wurden – und zwar zeitnah und nicht zum ersten Mal im Herbst 2020 – und werden. Denn wie Lehrende brauchen auch diese ein breites und differenziertes Feedback. Nie war es so flächendeckend vorhanden wie jetzt – insofern besteht in der Corona-Krise für die Weiterentwicklung von Lehren und Lernen eine riesige Chance.
Neben der anhaltenden Reflexion der Persönlichkeit und Wirksamkeit des Lehrenden sowie der „teacher beliefs“ muss bei dieser doppelten Herangehensweise deshalb die erste Frage sein:
Und: Was ist eigentlich „guter“ Unterricht?
Denn, nur wenn hierüber weitestgehende Einigkeit besteht, ist es möglich, den Blick auf die Frage nach einem guten Fernunterricht und einer guten virtuellen Lehre zu richten. Anders gefragt: Wodurch wird und wann ist Unterricht „gut“?
Um nochmals bei Hattie anzusetzen, können die Glaubwürdigkeit des Lehrenden, seine im Lernprozess gegebenen Rückmeldungen an die Lerngruppe, die Anregung zur Diskussion im Unterricht, eine verständliche und klare Sprache des Lehrenden sowie – wie oben bereits angedeutet – regelmäßiges Feedback von Seiten der Lernenden als die fünf wichtigsten so genannten inferenten Faktoren betrachtet werden (vgl. Hattie, 2012, S. 251–254). Hilbert Meyer hat diese Erkenntnisse in seiner Hattie-Analyse durch die ältere Lehrerbildungs-Metaanalyse von Seidel & Shavelson (vgl. Seidel/Shavelson) bestätigt. Und fordert daraus für einen guten Unterricht: Er ist durch ein angemessenes Lerngerüst – scaffold leitet er aus der englischsprachigen Unterrichtsforschung ab – gekennzeichnet. Dieses „Geländer“ garantiere sowohl den individualisierenden wie den kooperativen Unterricht, freilich in einer gelungenen Mischung: „Wichtiger als der leidige Streit über die Frage, ob offener Unterricht besser als der herkömmliche lehrerzentrierte Unterricht ist, ist die Frage, welche Lerngerüste in allen Grundformen aufgebaut werden“ (Meyer, 2013, S. 9).
Abb. 1: Scaffolding durch ein Lerngerüst
Mit diesem Hinweis wird auch klar, dass es nicht das eine verbindliche Rezept für den guten Unterricht geben kann. Doch es bestehen bewährte Ansätze, die auf die virtuelle Lernwelt zu übertragen lohnenswert sind. Denn sie formulieren Prämissen, die unabhängig von Alter und Schulart sowie ebenso von Unterrichts- und Studienfach gelten. Ein weitestgehend geteiltes pädagogisches Axiom ist das Verständnis von Unterricht als Bildungsgeschehen. Wird dieser Auftrag vom Lehrenden verinnerlicht, so wird bereits dieser Begriff fragwürdig, da sich das „Lehren von etwas“ bereits auf die Prozesshaftigkeit des „Lernens von“ verschiebt. Insofern ist es konsequent, wenn die Erziehung zur Selbstständigkeit als eines der nächsten Ziele abgeleitet wird. Wolfgang Klippert hat diesen Ansatz zu den Visualisierungen „Lernspirale“ und „Haus des Lernens“ ausgebaut (vgl. Klippert, 2001). Beide sind aufgrund ihrer Bildsprache anschaulich und eingängig: Mit Hilfe der Lernspirale „bohrt“ sich der Lernende in seiner Geschwindigkeit in das Thema – im besten Fall in eine für ihn individuell motivierende Herausforderung – hinein. Um dieses komplett „gebohrt“ zu bekommen, bedarf es mehrerer Schritte, auch des „Herausziehens“ des Werkzeuges, sodass sich diese Methode durch ihre Strukturierung und ihre bewusste Mehrstufigkeit – in Analogie zum Werkunterricht: Anreißen, Vorbohren, Nachbohren, Entgraten – auszeichnet. Ein solches Vorgehen ist zudem nur durch eine Mischung aus Schüleraktivierung, individualisiertem und kooperativem Lernen möglich. Es braucht Phasen der Begleitung und Förderung, Zeit für Rückfragen und Bestätigung. Somit fordert Klippert bereits mit dieser – einen – Methode Kompetenzorientierung. In seinem Haus des Lernens bringt er diesen Ansatz in eine Struktur: Das eigenverantwortliche Arbeiten und Lernen – „EVA“ – gelingt nach Klippert dann, wenn Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz gleichwertig im Bildungsprozess berücksichtigt werden. Die Lernarbeiten der Schüler und die Organisationsformen des Lernens werden so gewählt, dass sie alle drei Kompetenzen gleichermaßen erfüllen. Das pädagogische – bildlich im Dachgeschoss angesiedelte – Ziel so verstandenen Lehren und Lernens ist die ausgeprägte persönliche Kompetenz des Schülers mit fundierten, fachlich übertragbaren Schlüsselqualifikationen.
Forscher wie Franz Weinert unterstützen diesen praktischen Ansatz, wenn sie fordern, „träges Wissen“ in „intelligentes Wissen“ zu überführen, ebenso Neurowissenschaftler wie Manfred Spitzer, wenn sie vom Aufbau „synaptischer Wissensstrukturen“ sprechen. Doch was bedeuten diese Erkenntnisse in der unterrichtlichen Praxis? Selbststeuerung und Handlungsorientierung, die Balance von Schüleraktivierung und Lehrerlenkung, ebenso von Fordern und Fördern, eingeleitet durch gute Inputs, unterstützt durch wechselnde Sozialformen, mit Zeit zur Kooperation und zum eigenständigen Üben und Vertiefen, und immer wieder Feedback.
An dieser Aufzählung wird deutlich, dass guter Unterricht eine Kunst ist. Er gleicht einem guten Klavierstück, das zwar jedes Mal nach denselben Noten vorgetragen wird, das sich aber immer neu und variiert darstellt. Insofern erscheinen wesentliche Leitkategorien – gleichsam als „Gerüst“ – auch für Lehrende in ihrer Aus- und Weiterbildung sinnvoll.
Der Unterrichtsforscher Andreas Helmke fasst seine Untersuchungen in zehn Merkmalen guten Unterrichts zusammen:
1. effiziente Führung der Lerngruppe unter Berücksichtigung der Zeitstruktur,
2. ein lernförderliches Unterrichtsklima,
3. Motivierung auf vielfältige Weise,
4. verlässliche Struktur und Klarheit,
5. Wirksamkeit und Kompetenzorientierung,
6. Schülerorientierung und individuelle Unterstützung – in weiterführender Literatur als Lerncoaching bezeichnet –,
7. Förderung zum selbstständigen Lernen,
8. ein dem Lernziel angemessener Einsatz von Sozialformen und Methoden,
9. Konsolidierung des Inhalts und Übungsphasen sowie
10. das Herstellen von Passungen (vgl. Helmke, 2006).
Abb. 2: Stufenkonzept in Anlehnung an Helmke 2006
Mit anderen Worten: Ein guter Unterricht aktiviert und motiviert die Lernenden. Er lebt von einer Ausgewogenheit von Inhalten, Ritualen, Anleitung und Selbstständigkeit. Er sorgt für die nötige Klarheit und Sicherheit im Bildungsgeschehen und ist methodisch gestützt. Dabei wird hinreichend Zeit für das Erlernen der Methoden eingeplant. Reflexion und Rückmeldung sind selbstverständliche Bestandteile guten Unterrichts. Durchaus: ein „dickes Brett“. Die Herausforderung besteht jedoch in dieser grundsätzlichen Komplexität dessen, was – guter – Unterricht ist und wie er methodisch-didaktisch reflektiert – also vor- und nachbereitet – wird. Die Übertragung auf die virtuelle Lernwelt erscheint vor diesem komplexen Anspruch keine allzu große Hürde zu sein, bedarf allerdings, ebenfalls wie die Frage nach gutem Unterricht, der Anbindung an pädagogische Grundlagen.