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Vorwort: Endlich raus aus dem „digitalen Steinzeitalter“!

Als sich Mitte März 2020 abzeichnete, dass der Lehrbetrieb an Schulen und Hochschulen durch das Auftreten des Corona-Virus und die dadurch zu erwartenden Kontaktbeschränkungen spätestens ab Ostern 2020 erheblich beeinträchtigt werden würde, musste man schlimme Auswirkungen auf das deutsche Bildungssystem befürchten: und zwar auf die Hochschulen, laut Brembs und Welpe (vgl. Brembs/Welpe, 2019) im „digitalen Steinzeitalter“ befindlich und im Versuch, durch Anschaffung immer neuer Technologien die Lehre irgendwie „digitaler“ zu machen, und nicht weniger intensiv auf die Schulen mit Lehrkräften, die weder eine digital adäquate Ausbildung genossen hatten noch auf die gebotenen technischen Infrastrukturen zurückgreifen konnten – das konnte nicht gut gehen. Die Quittung hatten wir ja schon vorher erhalten: Platz 27 unter den 27 EU-Nationen im Survey „Digital Readiness for Lifelong Learning“ von 2019 mit dem vernichtenden Urteil: „German Schools and Educators are not ready to prepare students with the necessary digital skills and competencies“ (EU-Survey, 2019). Was sollte man da außer technisch-basierter Notlösungen auch erwarten?

Und genauso kam es! In den Hochschulen stand sofort die lange totgeglaubte Prämisse „Technology drives Didactics“ und nicht die in den Jahren zuvor immer wieder gebetsmühlenartig propagierte Didaktikzentriertheit im Vordergrund, und die Schulen versuchten mit der oft nicht einmal für Notlösungen ausreichenden Technik irgendwie den Lehrbetrieb zu retten. Web-Konferenzen zur Inhaltsvermittlung, PDF-Dokumente in ungeahnten Mengen als digitale Aufgabenblätter und E-Mail-Verkehr wie nie zuvor – alles Beispiel einer Emergency Remote Teaching Lösung, die zwar bisweilen funktioniert hat, mehr aber auch nicht. Als Planungsgrundlage für die Zukunft sollten diese mehr oder weniger improvisierten Lösungen, die schon vor vielen Jahren als nicht zukunftsfähige – damals sprach man noch von E-Learning – Varianten abgelehnt wurden.

Es muss etwas geschehen, und zwar schnell! Mit den folgenden Forderungen lässt sich ein Arbeitsplan, dessen Details freilich nicht in einem einzigen Buch dargelegt werden können, realisieren, der aber eine Grundlage für die so dringend notwendige Entwicklung sein kann.

Daher leistet das Buch einen wertvollen lehrpraktischen Beitrag, um den folgenden sieben Forderungen eine „bottom up“-Grundlage zu verschaffen:

• Forderung 1: Alle Schul- und Hochschulfächer müssen auf den inhaltlichen Prüfstand gestellt werden, um diejenigen Wissensmengen, die heute immer noch frontal in Präsenzunterricht vermittelt werden, als kuratierte offene Bildungsmaterialien auf niederschwellige Weise digital bereitzustellen. Dadurch wird es Lehrkräften auf allen Ebenen möglich, mit Flipped/Inverted Classroom-Szenarien ihre eigene Präsenzlehre zu entlasten und mehr Zeit für das Üben und Vertiefen von Inhalten zu gewinnen. Gleichzeitig gewinnen die Lerner Zeit und Flexibilität, sich den Stoff anzueignen. Hierzu bietet Ihnen dieses Buch niederschwellige und aus der Praxis kommende Handlungskonzepte.

• Forderung 2: Die Lehramtsausbildung an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen muss endlich reagieren und das Thema Digitalisierung in Theorie und Praxis in die fachspezifische und erziehungswissenschaftliche Ausbildung integrieren. Seit der Jahrtausendwende gibt es zahlreiche Konzepte und Handreichungen, z. T. mit konkreten Handlungsempfehlungen (vgl. beispielhaft http://icum-tud.de/ziele/empfehlungen.pdf; 2006 umgesetzt im Fach Englisch an der Philipps-Universität Marburg; Zugriff: 10.07.2020), doch bis heute haben nur wenige Hochschulen entsprechend reagiert. Hier muss dringend etwas geschehen, damit vernichtende Qualitätsurteile wie die im EU-Survey von 2019 der Vergangenheit angehören. Durch ihre eigenen Erfahrungen in der Begleitung und Auswertung der ersten rein virtuellen Studiengänge bieten die Autoren Hanstein und Lanig – stichwortartig und als kollegiale Empfehlung – neuartige Konzepte und Handreichungen hierzu.

• Forderung 3: Da es noch Jahre dauern wird, bis medial/digital „auf der Höhe“ befindliche Absolventen die Hochschulen verlassen, müssen sofort Fortbildungsmöglichkeiten für das jetzige Lehrpersonal an Schulen geschaffen werden. Und um wirklich auch die gesamte Zielgruppe flexibel bedienen zu können, sollten dazu konsequent Online-Fortbildungsportale nach dem Vorbild des ehemaligen VZL entwickelt werden, die eine ständige Weiterbildung ermöglichen (vgl. http://sts-gym-marburg.bildung.hessen.de/kooperation/vzl.html; https://youtu.be/WGf7N6DPqo8; Zugriff: 10.07.2020). Wie das fehlende Erfahrungsbild nicht nur durch die wenigen Lehrenden, die selbst in virtuellen Kontexten ihre Bildungssozialisation durchlaufen haben, aussehen kann, zeigen die anschaulichen Schilderungen der Autoren aus der Ebene virtueller Studiengänge.

• Forderung 4: Die Corona-Krise hat gezeigt: Es besteht ein dringender Handlungsbedarf in Sachen Digitalisierung an deutschen Schulen. Bisher wurde Digitalisierung hauptsächlich in der Anschaffung von Hardware (wenn überhaupt) verstanden. Das entspricht nicht dem, was Bund und Länder einst im „Digitalpakt Schule“ vereinbart hatten. Bis heute gibt es auch in den reicheren Bundesländern Regionen, in denen schlichtweg nicht die entsprechenden Kabel in der Erde liegen. Diesen Umständen muss die Politik schleunigst Rechnung tragen.

• Forderung 5: Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Robotik müssen Grundthemen der schulischen Bildung werden (Stichwort „Maker-Space“). Auch wenn es heute möglicherweise noch futuristisch klingt, werden Maker-Space-Konzepte zu einem wichtigen Eckpfeiler der digitalen Grundbildung. Algorithmisches Denken, Problemlösungsstrategien und eine allgemeine Medienkompetenz lassen sich durch das „Machen“ zielführender umsetzen, als das bisher durch klassische Lehr- und Lernsettings möglich ist. Hierin haben besonders die beruflichen Schüler eine große Erfahrung – daran kann praktisch gut angesetzt werden!

• Forderung 6: Die technischen Infrastrukturen, über deren Funktionsfähigkeit sich unsere Hochschulen nicht beklagen können, müssen endlich auch in den Schulen geschaffen werden. Ob dazu auch die Anschaffung von Tablet-Computern gehört, ist aus meiner Sicht fraglich. In der Berufswelt spielen Tablets kaum eine Rolle und im Alltag nutzen fast alle die eigenen Smartphones. Möglicherweise ist hier eine Mischung aus einem BYOD-Konzept und der Anschaffung zusätzlicher mobiler Endgeräte zur Schaffung von Chancengleichheit ein vernünftiger Ansatz. Zu dieser Debatte können virtuelle Lerngemeinschaften in diesem Buch einen wichtigen Beitrag leisten: Denn dezentrale Lernprozesse profitieren vom BYOD-Konzept.

• Forderung 7: Die „Schule von morgen“ braucht hybride Konzepte! Der Erfolg der Schulen und Hochschulen in den nächsten Jahren wird an ihren pädagogischen Konzepten und nicht – wie heute vielfach angenommen – am technischen Know-how gemessen werden. Denn ein schlechter analoger Unterricht wird auch durch das beste technische Know-how nicht besser – was sich auf Lehrkräfte übertragen lässt. Die Autoren liefern hier einen originellen Ansatz, indem sie das auf virtuell-hybride Brauchbarkeit untersuchen, was sich im Präsenzunterricht methodisch-didaktisch bewährt hat. So wird auch verhaltenen Lehrkräften die Angst vor der Digitalität genommen.

Dazu ist aber vor allem eine umfangreiche Medienkompetenz aller Lehrkräfte nötig, die über die „Medienbedienkompetenz“ unserer Schüler und Studenten hinausgeht und das von Björn Brembs propagierte „digitale Steinzeitalter“ hinter sich lässt.

In diese Lücke passt sich das Buch von Thomas Hanstein und Andreas Lanig stimmig ein. Zwar kann die hier durch viele wertvolle Praxistipps unterstützte virtuelle Präsenzlehre nicht das Ziel zukünftiger Lehr- und Lernformate sein. Doch wenn sie benötigt wird – und das wird sie, solange insbesondere die Forderungen 1, 3 und 4 nicht flächendeckend umgesetzt sind und wir mit Beeinträchtigungen der Präsenzlehre zu kämpfen haben –, stehen durch die Autoren zahlreiche methodisch-didaktische Hilfestellungen für das Gelingen dieser Formate des Übergangs bereit, die in Zukunft immer mehr zu gangbaren hybriden Alternativen werden können. Denn virtuelle Präsenzphasen und die im Buch dargelegten Unterstützungsmethoden werden in jedem Fall fester Bestandteil moderner Lehr- und Lernszenarien sein. In meiner eigenen Lehre sind sie es schon lange und ich bin besonders für die „64 Online-Methoden“ sehr dankbar!

Ich wünsche dem Buch eine hohe Akzeptanz und eine experimentierfreudige Leserschaft.

Marburg, im Juli 2020

Prof. Dr. Jürgen Handke

Uni Marburg & 3M-Solutions

RoboPraX – Robotikum

Digital lehren

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