Читать книгу Ost-wärts - Thomas Helm - Страница 5
Kapitel 1 – Maskenball –
ОглавлениеWestlicher Ural, Baustelle Prokowski, Samstag vor Fasching 1986
Die Uhr zeigte kurz nach zehn an diesem Vormittag.
Die Hände tief in den Taschen seiner »Ein-Strich-kein-Strich« Wattejacke vergraben stapfte Justus Faber durch das verschneite Wohnlager. Den Webpelzkragen der Jacke hatte er bis zu den Ohren hochgeschlagen.
Solch ein Kleidungsstück wie dieses besaßen zumeist nur Leitungskader oder auch Kumpels, die über Beziehungen verfügten.
Ursprünglich wurden damit Offiziere der NVA ausstaffiert. Doch auf unbestimmten Wegen, die keiner nachvollziehen wollte, gelangte eine nicht unerhebliche Anzahl davon auch an die Trasse. Sie trugen sich bequemer und schauten vor allem besser aus als die Jacken der gewöhnlichen, allgemeinen Permbekleidung.
Die Schapka hatte er bis auf die buschigen Augenbrauen hinab in die Stirn gezogen. So blinzelte der große, hagere Enddreißiger für einen kurzen Moment in die Sonne, die erst vor wenigen Minuten aufgegangen war. Sie stand noch dicht über dem bewaldeten Horizont am stahlblauen Himmel, an dem sich keine Wolke befand.
Unter den Sohlen seiner Filzstiefel knirschten Eis, Schnee und dunkler Streukies. Sein Atem hatte den Schnauzbart bereits nach den wenigen Augenblicken im Freien völlig vereist. Zum wiederholten Male zog er die laufende Nase hoch.
Beim raschen Gehen schaute sich Faber prüfend nach allen Seiten um. Der angewehte Schnee reichte an den Wohnbaracken fast bis zu den Dachkanten hinauf. Nur die freigewühlten Schneisen zu den Eingängen unterbrachen in regelmäßigen Abständen die aufgetürmte weiße Front.
Mit festem Schritt bog Faber nach rechts auf den Weg ab, der direkt zum niedrigen, breit dahingestreckten Raumzellenbau des Versorgungsobjektes führte. An das sich wiederum die große Marienberger Halle unmittelbar anschloss.
Davor befand sich das langgestreckte Areal des Freizeitzentrums. Hier feierten an warmen Sommerabenden hunderte Kumpels gern bis tief in die hellen Nächte hinein.
Die vielen selbstgezimmerten Tische und Sitzbänke konnte man derzeitig unter der dicken Schneedecke jedoch nur erahnen.
Begrenzt wurde die Fläche linker Hand von der ausladenden Lagerhalle der Versorgung. In deren Aluminiumfassade glänzte grell die aufgehende Sonne. Zudem hingen dort die Reste eines roten Spruchbanners herab. Dieses Transparent, auf dem man einst einen kämpferischen Spruch lesen konnte, hatte vermutlich der letzte Schneesturm erfolgreich zerfetzt.
Faber schaute kurz hinüber zu dem Schandfleck, schüttelte den Kopf und schritt weiter auf den Eingang des Versorgungsobjektes zu.
Auch an der langen Front dieses Zweckbaus türmte sich der Schnee bis hoch zu den Traufkanten. Aus den Dachentlüftungen des Küchentraktes stieg weißer Dampf in den blanken Himmel empor. Es roch nach gebratenem Fleisch.
Der Windfang vor der Eingangstür war fast zur Hälfte unter den Schneemassen verborgen. Beiderseits davon wuchsen vor den Fenstern ebenso wie entlang der angrenzenden Marienberger Halle armdicke Eiszapfen vom Dach bis in den tiefen Schnee hinab.
Faber wusste natürlich, das heute Abend in der »Marienberger« die Faschingsfeier der Baustelle stattfinden sollte. Einige der Vorbereitungen wollte er noch überprüfen.
Auf dem Holzrost im Windfang trampelte er den Schnee von seinen Filzstiefeln ab. Dann riss er die Tür auf und stapfte am »Brett« vorbei, das um diese Zeit noch geschlossen war. Durch die zweite Tür betrat er den Speisesaal.
Warme Luft vermischt mit Küchendunst schlug ihm ins gerötete Gesicht. Er befreite sich von den Handschuhen, zerrte die Schapka vom Kopf und wischte sich das tauende Eis aus dem Bart.
In der hinteren Ecke des Saales, am Durchgang zur Marienberger Halle, entdeckte er einen Mitarbeiter von der Dienstleistung. Der beendete soeben die Bodenreinigung.
Faber nickte ihm zu, ging dann zur offenen stehenden Tür der Essenausgabe hin.
Schräg vor sich erblickte er die langgestreckte Ausgabereihe.
Laut vor sich hin pfeifend stapelte dort ein vollbärtiger Koch soeben Tabletts mit gefüllten Kompottschälchen übereinander.
Aus der Küche heraus schallte das Klappern von Töpfen und Pfannen. Ebenso laute Musik aus einem Kassettenrekorder.
»Mahlzeit, ist der Theo im Hause?«, rief Faber zu dem Koch hin.
Der blickte von seiner Arbeit auf und grinste ihn an. »Ich denke ja, Kollege Sicherheit!«, kam es zurück.
Faber nickte zum Dank. Er ging durch die offene Tür neben der Spülküche in einen langen Gang hinein, der nach hinten zu den Büros führte.
Unter seinen Stiefelschritten dröhnte hohl der Fußboden der miteinander verschraubten Raumzellen. Den hatte man hier mit dunkelgrünem Linoleum belegt.
Auf seinem Weg kam er an mehreren Vorbereitungsräumen und Kühlzellen vorbei. Mit einem lauten »Mahlzeit allerseits!« grüßte er zwei junge Frauen, die gerade Konservendosen auspackten.
Am Ende des Ganges verhielt er seinen Schritt vor der letzten Tür. »Leiter Versorgungsobjekt« stand auf einem Schildchen daneben geschrieben.
Er klopfte an und ohne ein »Herein« abzuwarten, trat er ein.
Der Chef der Versorgung, Theodor Kappner, hockte hinter einem mit Aktenordnern überladenen Schreibtisch. Der Enddreißiger zeigte ungeniert einen leichten Bauchansatz unter einem blauen Pullover. Er war jedoch groß und breitschultrig. Der Brillenträger mit kurz geschnittenem, brünetten Haar und sauber gestutzten Schnauzbart gab sich stets als bekennender Sachse. Im Augenblick allerdings schnaufte er nur vernehmlich.
Kappner gab beileibe keinen Choleriker ab. Doch soeben als Faber sein Büro betrat schmiss er wütend den Hörer auf das orangefarbene Telefon, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand. »Scheiße! Verdammt noch mal! Sind wir denn hier im afrikanischen Busch?«, rief er erbost aus. »Ich muss meine Betriebsleitung in Kungur anrufen. Mann! Da drehst du zuerst die vierzehn Vorwahlnummern und dann noch die Rufnummer. Eine Verbindung? Nö! Jetzt geht erst mal das Warten los. Dabei berieseln sie dich die ganze Zeit im Hörer mit dieser blöden russischen Radiomusik. Und dann bricht doch wieder alles zusammen. Mensch! Die haben ’ne Raumstation, fliegen mit Raketen. Aber ein Telefonat über schlappe sechshundert Kilometer? Fehlanzeige!« Kappner winkte resigniert ab. Schließlich schaute er fragend zu Faber auf, wobei ein breites Grinsen sein volles Gesicht überzog.
Der Versorger kannte sein Gegenüber gut.
Dessen Bürotür in einer der Baracken auf der anderen Seite des Freizeitzentrums zierte auch ein Papptäfelchen. Darauf prangte die Aufschrift »Abteilungsleiter für Sicherheit und Arbeitsschutz des Generallieferanten«.
Doch er hörte auch auf die knappe Anrede »Genosse Faber oder Kollege Sicherheit«.
Kappner und er hatten im ersten schlimmen Winter von Vierundachtzig erfahren, wie wichtig es ist, sich aufeinander verlassen zu können. So etwas verbindet.
Faber ließ sich nun, ohne zu fragen auf den einzigen noch freien Stuhl fallen. Er lockerte schnaufend den Knoten seines Schals, wobei er für einen Augenblick recht nachdenklich auf dessen dunkelblaues Wollgestrick starrte. »Mahlzeit Theo, bist du jetzt fertig mit deinem Weltschmerz?«, fragte er. Als Kappner verdrossen nickte und sich dabei eine Zigarette aus der Packung klopfen wollte, legte Faber rasch seine Hand darauf. »Lass’ das bitte mal. Ich brauche dich! Gleich! Hast du deinen Fotoapparat hier?«
Kappner runzelte mit gespielter Entrüstung die Stirn und verdrehte für einen Moment die Augen. Dann griente er. »Blöde Frage! Natürlich hab’ ich meine »Exa« immer am Mann!« Er deutete mit dem Daumen auf Kamera und Zubehör, das hinter ihm in einem Regal lag.
Faber wusste noch genau, dass sich Kappner bereits im Herbst Vierundachtzig, die »unbeschränkte Fotoerlaubnis« regelrecht erkämpft hatte. Das war wenige Wochen nach Beginn seiner Einsatzzeit im Ural gewesen.
Faber selbst, damals schon der zuständige Verantwortliche des Generallieferanten hatte sie ihm ausgestellt. Er stimmte dem Antrag auch sofort zu. Denn letzten Endes brachte es Kappners Arbeit mit sich, dass er viel unterwegs war.
Seine Versorger befanden sich immer allerorten im Einsatz. Auf allen Baustellen des Standortes und zudem auch draußen am Linearen Teil. Er fuhr fast täglich dorthin mit seinem »ARO-Diesel«. Regelmäßig auch mal hunderte Kilometer weit über Land auf andere Standorte. Und überall passierte etwas, das man mit der Kamera festhalten musste.
»Was gibt’s denn so Wichtiges zu knipsen? Hoffentlich keine nackten Mädels?«, fragte Kappner, wobei er sich hinter seinem Schreibtisch emporschraubte. »Da bekomme ich nämlich Ärger mit meiner Frau!«
Faber räusperte sich, senkte Blick und Stimme. »Wir haben einen Toten! Er hat sich auf den ersten Blick besehen
– erhängt.«
Wenige Minuten später stapfte Kappner an Fabers Seite durch das Wohnlager. Die Füße in gefütterten Lederstiefeln, den Webpelzkragen der Wattejacke bis zu den Ohren geschlossen. Gleich, als sie hinaus ins Freie traten, hatte er die Ohrenklappen seiner Schapka herunter gezerrt. »Mann! Ist das heute wieder eine Dürre!«, maulte er und drängte aus dem langen Schatten eines der Gebäude heraus.
»Na ja, in der Sonne kann man es aushalten. Es sind ja bloß fünfundzwanzig Nasse«, entgegnete Faber lapidar. Dabei deutete er auf den abgehenden Seitenweg. »Da links! Die vordere WUD in der ersten Reihe. Dort müssen wir hin!«
»Zur Unterkunft von Knallgas?«, keuchte Kappner überrascht. Er wirkte einen Tick außer Puste vom raschen Gehen. Und obwohl er soeben etwas schnodderig übers Wetter sprach, kreisten seine Gedanken um Fabers Ankündigung. Die in ihm sogleich ein mulmiges Gefühl ausgelöst hatte.
»Korrekt! Dort wohnen die Jungs von RIV«, bestätigte Faber seine Anfrage. Er grinste, da sich Kappners Atem bereits als zottiges Eis in dessen Schnauzer festgesetzt hatte.
Also die RIV-Truppe«, dachte der Versorger, als sie auf den Eingang der Wohnunterkunft zu schlitterten. »Reinigen- Isolieren-Versenken« – eben RIV! Und von denen soll sich einer erhängt haben?
Nun, einige von den Burschen kannte er vom Ansehen. Seit dem letzten Herbst hatte er draußen am Rohr bei seinen Kontrollfahrten zu den Stolowajas vom RIV mehrfach recht ordentliche Fotos gemacht. Zudem sah er diese eingeschworene Meute auch fast jeden Abend im Speisesaal. Er traf sie in der Kneipe und ebenso am »Brett«.
Diese Sorte der »Schwarzen« gab sich recht umgänglich. Denn die hauten nicht so auf die Kacke, wie andere von »Knallgas«. Insbesondere wie jene, die ständig als die – wahren Trassenhelden aufführten. So, wie es auch in der »Jungen Welt« gern propagiert wurde.
Den kleinen, dicken Brigadier mit dem zotteligen Vollbart, der ihn an Rübezahl erinnerte, kannte er noch von der »alten Trasse« her. Von einer Baustelle bei Spola in der Ukraine. Bisher war er mit dem Burschen immer zurechtgekommen.
Sie hatten den Barackeneingang, wo sich beiderseits mannshoch der Schnee türmte schnell erreicht.
Auf dem Lattenrost vor der Tür traten sie ihre Stiefel ab, um danach durch den halbdunklen Vorraum der Wohnunterkunft zu poltern.
Vorsichtig schlängelten sie sich zwischen dreckigen Stiefeln und Arbeitsschuhen hindurch die vor den Schuhregalen am Boden herumlagen.
Die Dienstleister reinigten alle Baracken regelmäßig nach einem abgestimmten Plan. Doch das Stiefelputzen war dabei natürlich nicht mit drin!
Der chaotische Anblick von verdrecktem Schuhwerk bot sich daher mehr oder minder ausgeprägt auch in fast allen anderen Wohnunterkünften vom Typ Dölbau.
Dabei war es völlig egal, welches Gewerk dort gerade wohnte. Schlamm und Moder begleiteten alle gleichermaßen übers Jahr. Und wer putzt schon gerne jeden Tag seine versifften Stiefel?
Ihre Sohlen lärmten auf dem blanken Kunststoffbelag der Raumzellen. Faber ging zielstrebig den Flur zum linken hinteren Zimmer voran. Als der Mann für die Sicherheit holte den passenden Schlüssel aus seiner Jackentasche. Mit einem bedeutungsvollen Blick auf den Versorgungschef schloss er die Tür auf.
Zögerlich betrat Kappner nach ihm den Raum.
Der gewohnte Dunst einer überheizten Unterkunft schlug ihnen entgegen. Diese edle Mischung aus ungewaschenen Socken, kaltem Zigarettenqualm, verschütteten Bier, Deo Spray und – Furz.
Faber schob hastig die Vorhänge vor den beiden Fenstern beiseite. »Ich lass’ mal kurz frische Luft rein«, presste er zwischen den Zähnen heraus.
Kappner machte einen weiteren Schritt in das Zimmer hinein. Er blieb jedoch wie gebannt stehen. »Es riecht nicht nach Tod!«, beruhigte er sich leise flüsternd. »Es ist nur der übliche Gestank eines voll belegten Quartiers!« Doch etwas Unfassbares schien in diesem Raum zu sein. Das ihm ein spürbares Unbehagen bereitete. Sein Blick wanderte langsam umher. Er registrierte jedes Detail, das sich seinen Augen anbot.
Ebenso, wie in anderen Wohnunterkünften auch hatte man hier die Wände mit verschiedenen Postern bepflastert. Silly, Queen, Rennautos – ja sogar nackte Weiber aus alten Westzeitschriften boten sich dem Betrachter dar.
Auf einem kleinen Wandregal wie auch auf dem Kasten von einem Klappbett stand das gewohnte Interieur. Krimskrams den man in fast allen Unterkünften antraf. Ein kitschiger Samowar, eine Pornolampe, ein Kassettenrekorder von »Sternradio« nebst bunten Kassettenboxen. Aber auch eine kleine sowjetische Kaffeemaschine mit angeschmortem Gehäuse.
Die drei Betten waren am Morgen natürlich nicht gemacht worden!
Auf dem Tisch mitten im Raum sah er neben zwei leeren Bierflaschen einen überquellenden Aschebecher auf der gemusterten Wachstuchdecke. Dazu eine halb geleerte Flasche mit edlem »Wilthener Weinbrand«. Einige bereits an den Rändern angetrocknete Bierlachen sowie jede Menge Zigarettenasche vollendeten das Stillleben.
Doch nicht das fesselte letztlich seinen Blick.
Bei dem hinteren der drei Schränke, die nebeneinander entlang der Wand standen, sperrte die rechte Tür weit auf.
Einer der üblichen, blauen Wollschals hing, zu einer Schlaufe geschlungen, über der oberen Kante der geöffneten Schranktür.
Solch ein Gestrick erhielt hier im Permer Bauabschnitt jeder gleich nach der Ersteinreise. Er gehörte zur »Permkleidung« für den Wintereinsatz.
Der straff gespannte, dunkelblaue Schal führte schräg abwärts, wo er mit dem unteren Ende um den Hals eines jungen Mannes geknotet war.
Der saß leicht nach vorn gebeugt vor dem offenen Schrank auf dem schmutzigen Fußboden. Seine Arme hingen schlaff herab. Die geöffneten Hände lagen mit den Handrücken auf dem Boden auf. Der Kopf neigte sich über der Schlinge etwas zur Seite.
Der Tote trug einen modischen, weinroten Samtpullover zu den neu aussehenden Jeans.
So, wie das ausschaut, hat er das alles aus dem Exquisitladen schoss es Kappner durch den Kopf.
Die Füße des Toten steckten in halbhohen, teuren Wildlederstiefeletten mit Reißverschlüssen. Was die Vermutung des Versorgers noch bestärkte.
Er schaltete den Blitz ein und schob das summende Gerät auf die Kamera. Hastig schoss er die ersten Fotos. Leise murmelnd kommentierte er dabei alles, was er sah.
Faber reagierte darauf nicht, schaute nur stumm zu.
»Seltsam! Er ist genauso angezogen, als ob er gleich in die Stadt ausgehen wollte«, sagte Kappner betont laut an den Sicherheitschef gewandt.
Als er noch näher an den Toten herantrat, machte ihm unvermittelt sein Magen zu schaffen. Er schluckte heftig. Überdies bemerkte er, dass seine Hände die den Apparat umklammerten, leicht zitterten.
Mit einiger Überwindung bückte er sich zu dem Toten herab. Aufmerksam blickte er in das bleiche jedoch entspannt wirkende Gesicht.
Bei dem aber, was er dabei sah, verspürte er sofort ein unangenehmes Kribbeln im gesamten Körper.
Denn die offenen Augen, die Spuren getrockneten Blutes unter der Nase und die aufeinander gepressten Lippen nahm er fast überdeutlich wahr.
Plötzlich erschrak er.
Sicherlich wegen der Wärme im Zimmer bedingt begannen die seit Stunden geöffneten Augen des Toten, bereits einzutrocknen.
Solches war für Kappner bisher unbekannt. In der Brust spürte er den harten Schlag seines Herzens. Er atmete tief durch, versuchte das Zittern der Hände zu unterdrücken.
Entschlossen machte er noch mehrere Nahaufnahmen vom Kopf des Toten. Insbesondere auch vom Schal um dessen Hals. Dann richtete er sich wieder auf. Fragend schaute er zu Faber hin.
Der lehnte in unveränderter Haltung am Fenster. Wobei er nervös am Rollkragen seines Pullovers zupfte. »Die ganze Brigade ist seit fünf Uhr zur Schicht draußen am Trakt. Warum er nicht mit raus gefahren ist, dass müssen wir noch klären«, sagte der Sicherheitschef plötzlich halblaut mit belegter Stimme. Er war jetzt etwas fahl im Gesicht. Rasch wendete er den Blick von der Leiche ab und starrte stattdessen zu Kappner hin. »Die Mieze von der Dienstleistung hat ihn vorhin gefunden, weil sie hier drin saubermachen wollte. Diese WUD ist heute laut Plan dran. Sie ist gleich zu ihrem Chef gerannt, dort heult und kotzt sie immer noch. Der Joschi hat mich sofort angerufen. Dann brachte er den Schlüssel für dieses Zimmer zu mir. Ich glaube aber, der dachte, dass ich ihm die Leiche zeige!«, erklärte Faber etwas umständlich.
Kappner vermeinte, ein leichtes Zittern in dessen Stimme zu hören.
Der Sicherheitschef hingegen schloss rasch das Fenster, da es inzwischen im Raum eisig kalt geworden war. Mit der Hand wischte er sich fahrig übers Gesicht. Einen Augenblick noch starrte er vor sich hin, um sich dann sichtlich zu straffen. »So. Du machst jetzt bitte ein paar Bilder von der gesamten Räumlichkeit, bevor die Sowjets kommen. Ich meine die Miliz und den Staatsanwalt«, sagte er, nunmehr betont beherrscht. »Ich hab’ vorhin den Zernick angerufen! Gehe du mal davon aus, dass der den KGB verständigt hat. Wird wohl bald voll werden hier drin meine ich!«
»Den Zernick? Der von der Stasi?«, fragte Kappner erstaunt.
»Ja. Das ist für solche Fälle so vorgesehen«, entgegnete Faber. Daraufhin ging er auf den Flur hinaus, um Kappner ein freies Sichtfeld zum Fotografieren zu bieten.
In diesem Moment traf der Baustellenarzt ein.
Doktor Martin Langner steckte den Kopf durch die Tür und warf einen flüchtigen Blick auf den Toten. »Theo! Warte mal mit deinen Fotos, bis ich mit der Totenschau durch bin!«, sagte er. Ungerührt kaute er seinen Kaugummi weiter.
Kappner trat daher auf den Flur hinaus, wo ihm Faber eine Zigarette anbot.
Sie rauchten schweigend während Doc. Langner wie er allgemein genannt wurde, eine oberflächliche Leichenschau durchführte.
Der Versorgungschef warf aus reiner Neugier einen raschen Blick in den Raum. Dabei sah er, dass der Arzt dem Toten soeben die Augen zudrückte, wobei er immer noch ungerührt seinen Gummi kaute.
Den lässt das wohl arschkalt, dachte er und schüttelte den Kopf.
Faber und Kappner warfen ihre Kippen in einen Blecheimer neben der Tür. Den hatte anscheinend die Mieze auf ihrer Flucht zurückgelassen.
Da kam der Doc aus dem Zimmer. »So. Fürs Erste bin ich hier fertig«, sagte er zu Faber. »Sieht ganz nach Selbstmord durch Erhängen aus. Das schreib’ ich auch auf den Totenschein! Kann höchstens drei Stunden her sein, der Junge ist ja noch warm. Aber er hatte vorher richtig einen genommen! Der stinkt wie ’ne Destille!« Der Doktor kicherte kopfschüttelnd vor sich hin und verstaute rasch sein Zeugs in der Arzttasche. Schwungvoll stülpte er die Schapka über die raspelkurzen, roten Haare auf seinem Aristokratenhaupt. Daraufhin legte er die Hand besänftigend auf Fabers Schulter. »Ich schreibe den Totenschein drüben im Medpunkt aus. Kannst ihn nach dem Mittagessen abholen lassen. Bringt also bitte den Jungen zu mir rüber. Ich mache auch die Einsargung. Alles andere organisiert ihr ja wohl? Sarg und Transport meine ich.«
Faber nickte zustimmend und Doc. Langner verschwand so rasch, wie er gekommen war.
Kappner fotografierte noch, was sich seinem Auge anbot. Da trampelte bereits schon die sowjetische Exekutive herein.
Mit von der Kälte geröteten Gesichtern erschienen zwei Milizionäre in ihren kniehohen Filzstiefeln. Dann ein dicker, asthmatischer Zivilist, der sich als der Staatsanwalt zu erkennen gab.
Ein kleiner, dürrer Fotograf packte beflissen seine Ausrüstung aus.
Minuten später kamen noch zwei unauffällige Männer in langen Mänteln. Die waren wohl vom KGB.
Wie nicht anders zu erwarten war, verbreitete sich sofort eine Duftwolke aus Knoblauch und Machorka im Raum.
Faber sprach kurz mit den Ankömmlingen. Daraufhin wandte er sich leise an Kappner. »Die machen selber ihre Bilder. Du sollst aber von deinen Fotos für sie jeweils einen Abzug anfertigen. Die holen sie morgen bei mir ab. Also gut, wenn du fertig bist, rausch’ ab in dein Labor. Aber bitte bring’ mir anschließend auch die Negative mit!«
Kappner warf einen überraschten Blick zu Faber hin. Er packte wortlos seinen Kram zusammen, verließ die WUD.
Wieder draußen vor der Tür angelangt und weg vom Angesicht des Todes atmete er mehrmals tief ein und aus. Sein Atem verwehte, wie eine flatternde, weiße Fahne. Mit großer Erleichterung vermeinte er zu spüren, wie das unerwartet in ihm aufgestiegene Grauen von ihm wich. Für einen Augenblick blinzelte er in die immer noch tief stehende Sonne, um schließlich durch die Kälte zurück ins Versorgungsobjekt zu marschieren.
Im VO war das Mittagessen bereits im Gange. Die Tische im vorderen Speiseraum zeigten sich schon zur Hälfte besetzt. Doch zur Essenausgabe hin stand noch eine Reihe von hungrigen Werktätigen.
Elisabeth Kappner, die Küchenchefin, schwebte in korrekte Kochkleidung gewandet hinter dem Tresen hin und her. Aufmerksam überwachte sie den täglich gleichen Vorgang.
Das trockene Scheppern der Kunststoffteller, das Klappern des Aluminiumbestecks, das Stimmengewirr der Essenteilnehmer und das dumpfe Rauschen der Geschirrspülmaschine erfüllten die Räume. Alles zusammen bildete die übliche akustische Kulisse während der Mahlzeiten.
Kappner ging durch den Speiseraum zur Ausgabereihe hin, die sich vor der warmen Küche erstreckte. An einigen der besetzten Tische, an denen er vorbeikam, wünschte er einen »Guten Appetit«. Oder nickte nur einen Gruß.
An der Ausgabereihe angelangt beugte er sich hinüber zu seiner Frau. Ihren fragenden Blick beantwortete er mit einem Lächeln, wobei er ihr die Hand sanft auf den Unterarm legte. »Schatz, ich muss mich noch für ’n Stündchen ausklinken. Bei euch läuft alles? Auch für heute Abend?«
Die resolute Elisabeth Kappner, sieben Jahre jünger als ihr Mann aber ebenso vollschlank, nickte mit einem strahlenden Lächeln. Sie drückte die Hand ihres Chefs an ihren fülligen Busen. »Keine Panik, Boss! Alles läuft, wie ’n Länderspiel. Ich denke jedoch, dass du unseren Techniker noch mal abfragen solltest!« Lisa legte den Kopf etwas schräg und fixierte ihren Mann. »Aber sag mal, was war denn los? Die Mädels aus der Ökonomie haben gemeint, dass du vor ’ner Stunde mit dem Sicherheitschef und deiner Kamera abgerauscht bist?«
Kappner strich seiner Frau besänftigend über die Wange. »Das erzähle ich dir später, mein Schatz. Wie weit seid ihr denn mit der Vorbereitung vom Faschingsbuffet?«
Elisabeth winkte beschwichtigend ab, schaute jedoch prüfend zur Ausgabereihe hinüber. Dort gab es mit einem Wachmann soeben eine kleine Diskussion wegen einer Nachschlagportion.
Dabei stupste sie mit einem Finger ihre Brille auf dem Nasenrücken nach oben. Mit einer energischen Bewegung rückte sie zudem das weiße Schiffchen auf ihrem kurz geschnittenen, dunkelblonden Haaren zurecht.
Kappner wurde es warm ums Herz. Die ihm lieb gewordene Geste seiner Frau brachte ihn besonders nach dem soeben erlebten Entsetzlichen endgültig ins gewohnte Umfeld zurück. Es waren genau diese unverwechselbaren Eigenheiten, die seine Liebe zu Elisabeth stets aufs Neue entfachten.
»Das Buffet ist fast fertig. Den Rest lasse ich von der Spätschicht machen«, holte Lisa ihren Mann aus seiner Gedankenwelt zurück. »Wir bauen um halb fünf alles auf, bevor die Ersten zum Abendbrot kommen!« Solcherart brachte sie als Küchenleiterin ihren Chef auf den aktuellen Stand.
Kappner hob daraufhin grüßend die Hand und verließ den Speisesaal. Nach einem kurzen Kontrollblick in die Geschirrspüle marschierte er durch den langen Gang in Richtung der Büros. Dabei überraschte er den technischen Abteilungsleiter und den bulligen, vollbärtigen Haushandwerker im Werkstattraum.
Beide ließen sofort die offenen Bierflaschen vom Tisch verschwinden, als sie ihres Chefs ansichtig wurden.
Kappner reagierte abgesehen von einem missbilligenden Kopfschütteln im Moment nicht auf diesen Verstoß gegen die Arbeitsdisziplin. Das konnte er später nachholen.
»Bloß ein Bierchen zum Mittagessen!« Kretzschinski, der Techniker, versuchte sich in einer etwas hilflos wirkenden Erklärung.
»Noch so ’n Ding und es rappelt im Karton!«, entgegnete Kappner mit grimmiger Miene. Dann jedoch fragte er die beiden noch rasch über den Fortgang ihrer Vorbereitungen ab. Den Technikern oblagen die Anbringung der Faschingsdekoration im Speisesaal und der Aufbau einiger anderer Dinge. Schließlich wollte der HAN-Versorgung auch heute bei der Faschingsfeier der Baustelle, mit dem Fest-Büfett glänzen. Und nicht durch irgendwelche Pannen negativ auffallen!
Letztlich informierte er die Schluckspechte darüber, dass er sicherlich noch einige Zeit im Labor zu tun haben würde.
Der Buschfunk hatte bereits gearbeitet. Die beiden wollten daher unbedingt etwas über den Todesfall in Erfahrung bringen. Über den schon heftig gemunkelt wurde.
Der Versorgungschef winkte aber nur ab. Mit seiner Kamera in der Hand lief er festen Schrittes in Richtung Fotolabor. Das befand sich in einem toten Verbindungsteil zwischen den beiden Speiseräumen.
Es war kurz nach dem Aufbau der Raumzellenküche entstanden. Auch durch Kappners Initiative, seiner Hände Arbeit und nach Feierabend. Deshalb konnte er das Labor jederzeit für seine privaten Fotoarbeiten nutzen.
Doch momentan stand er vor verschlossener Tür. In der Dunkelkammer werkelte irgendjemand herum.
Ungeduldig hämmerte Kappner mit der Faust gegen die Hartfaserplatten. Wenig später hörte er von drinnen die empörte Stimme des Kulturniks.
Offiziell bezeichneten sich »Beethoven« und seine Leute als »Mitarbeiter des Hauptauftragnehmers für Kultur«. Doch auf allen Baustellen rief man diese Jungs und Mädels nur kurz – »die Kulturniks«. Und das schon seit der Drushba-Trasse!
Nach langen Minuten steckte der Kulturschaffende den brünetten, wirren Wuschelkopf, dem er seinen Spitznamen verdankte, aus der Tür heraus. Etwas irritiert blinzelte er ins helle Licht.
Kappner erklärte ihm kurz die dringliche Sachlage. Aber Beethoven war sowieso mit seiner Arbeit fertig.
Der Versorgungschef übernahm das Fotolabor. Er entwickelte den Film und trocknete ihn anschließend über dem elektrischen Heizstrahler. Von allen Bildern, die ihm gelungen waren, machte er Abzüge. Dabei bemerkte er einige Merkwürdigkeiten. Woraufhin er zusätzlich noch mehrere Ausschnitte vergrößerte.
Während die Trockenpresse ihre Arbeit tat, sichtete er. Auf einem der großformatigen Fotos entdeckte er im Nacken des Toten einen schmalen, dunklen Streifen. Den die Schlinge des Schals aber weitestgehend verdeckte. Kappner, wahrlich kein Fachmann auf diesem Gebiet, vermutete dort einen Bluterguss. Als wahrscheinlich anzunehmende Folge eines Schlages. Auch der fest zusammengepresste Mund des Toten und das Blut an seiner Nase gaben ihm zu denken.
Sollte der Bursche bei einer Strangulation seine Zunge nicht wenigstens ein Stück weit herausstrecken, wie man es von Erhängten gemeinhin kannte? Plötzlich ergriff Kappner die vage Ahnung, dass es bei diesem Selbstmord einige Unstimmigkeiten zu geben schien. Aber was verstand er von solchen Dingen und war das alles sein Problem?
Ohne sich weitere Gedanken zu machen, übergab er am frühen Nachmittag wunschgemäß die normalen Abzüge im Postkartenformat an Faber.
In einem extra Umschlag steckten die Bilder für die Sowjets. Auch die Filmbüchse mit dem Negativfilm stellte er vor ihm auf den Schreibtisch. Mehrere spezielle Vergrößerungen hatte er zudem in ein größeres Kuvert gepackt.
Diesen Umschlag drückte er dem Sicherheitschef mit dem bedeutungsvollen Hinweis auf »einig erkennbare Merkwürdigkeiten« persönlich in die Hand.
Justus Faber schaute überrascht zu Kappner auf und bedankte sich kurz. Sein Blick blieb jedoch fragend auf den Versorger gerichtet.
Doch der tat so, als ob er es nicht bemerkte, und verließ rasch das Büro.
Austausch von Neuigkeiten
Den gesamten Nachmittag über brannte im Büro vom Leiter für Sicherheit die Luft. Wie man so sagt.
Fast der Verzweiflung nahe, kämpfte Justus Faber mit den Tücken der sowjetischen Fernmeldetechnik. Ebenso mit den betrieblichen Vorschriften des Generallieferanten.
Dazu kam, dass der Baustellenleiter und der Parteisekretär vom FGLB unangemeldet bei ihm aufschlugen.
Sie verlangten einen Bericht über das Vorkommnis und den aktuellen Sachstand der Abarbeitung.
Endlich, nach drei Zigarettenlängen und ebenso vielen Tassen Kaffee, verschwanden sie.
Das alles passierte bereits, bevor Kappner die Fotos bei ihm ablieferte.
Wenig später polterte rotgesichtig und durchfroren der Verantwortliche des MfS für den Bauabschnitt herein. Der Genosse Zernick.
Vom Standort Karamorka kommend, wo Faber ihn am frühen Vormittag telefonisch erreicht hatte, war er mit seinem weißen NIVA augenscheinlich soeben erst im Wohnlager eingetroffen.
Während er die Tür hinter sich schloss, rief er witziger weise seinen Gruß auf Russisch aus. »Priwjet!«
Faber indes blieb ihm vorerst eine Erwiderung schuldig. Er Verdrehte nur genervt die Augen und atmete tief durch.
Zernick, der perfekt und akzentfrei die russische Sprache beherrschte, warf seine rotbraune Fuchs-Schapka oben auf den Kleiderständer. Danach schälte er sich aus der gesteppten Jacke. Er deutete auf seinen dunkelgrünen Pullover, den quer über die Brust ein Norwegermuster zierte. »Von meiner Lydia eigenhändig gestrickt! Hättest du das für möglich gehalten?«
Faber schaute von seinem Schreibtisch aus zu Zernick hoch und schüttelte nachsichtig den Kopf. »Nee, das sicherlich nicht!« Er kannte den Major bereits seit Vierundachtzig. Damals hatten sie zusammen mit knapp hundert Bauarbeitern im Sporthotel unten in der Stadt Prokowski vorübergehend Quartier genommen.
Zu dieser Zeit gab es das Wohnlager im Walde noch nicht. Aber Zernick war längst hier vor Ort gewesen. Als einer der Ersten kam er bereits Dreiundachtzig auf diesen Bauabschnitt. Mit Lydia war er zu dieser Zeit schon verheiratet. Eine Russin aus Perm. Ein junges, hübsches Ding, Mitte der Zwanzig.
Der Major hingegen hatte die Vierzig überschritten und eine Scheidung hinter sich gebracht.
Im Gegensatz zu Faber zeigte der Major nicht einmal einen kleinen Bauchansatz. Der Berliner war zudem überzeugter Nichtraucher. Mit über einsachtzig Körperhöhe wirkte er kräftig und sportlich. Er trug kurzes, brünettes Kopfhaar, das an den Schläfen bereits etwas grau schimmerte.
Zernick putzte gelassen seine schmalrandige Brille, die von der feuchten Wärme im Raum rasch beschlagen wurde.
Schließlich ließ er sich auf den Stuhl vor Fabers Schreibtisch fallen. Er starrte den Sicherheitschef aus hellblauen Augen bohrend an und hob fragend die dichten Brauen. »Na, dann schieß mal los, Justus! Was ist hier passiert?« Auf etwas knurrige Art eröffnete der Major die Befragung.
Gelassen zündete sich Faber eine Zigarette an. Obwohl er Zernicks Abneigung gegen das Rauchen kannte. Die vor ihm liegenden Notizen dienten ihm als Basis für seinen Bericht. Als er am Ende die zusätzlichen Vergrößerungen erwähnte, die ihm Kappner gesondert mit den anderen Fotos übergeben hatte, legte Zernick die Stirn in Falten. Rasch schob ihm Faber die Abzüge über den Schreibtisch hin.
Der für den Bauabschnitt verantwortliche Mitarbeiter der Staatssicherheit zeigte sich überrascht von dem, was er zu sehen bekam. »Sag mal, Genosse Faber«, fragte er, nachdem er alle Bilder eingehend gemustert hatte. »Den jungen Mann hier, der mit dem Schal um den Hals auf dem Fußboden herumsitzt, den kenne ich doch? Kann es sein, dass ich den öfters mit eurem DSF-Vorsitzenden zusammen gesehen habe? Meistens am »Brett« oder in der Gaststätte? Liege ich damit richtig?«
Faber stellte seine Kaffeetasse ab. Er lächelte spöttisch, neigte den Kopf leicht zur Seite und seine Mundwinkel zuckten. »Wie meinst du das, Ralf? Hörst du etwa auch schon bestimmte – Glocken läuten?«, entgegnete er betont scheinheilig und wegen der dünnen Wände auch mit gesenkter Lautstärke.
Daraufhin erschien auf Zernicks Gesicht ebenfalls ein feines aber süffisantes Grinsen. »Nun ja. Mir flüsterten da mehrere Leute zu, dass der liebe Urs Knäbelein über eine warme Ader verfügen soll. Und das, als der erste Vertreter der »Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft« hier am Standort!«
Faber schüttelte nachsichtig den Kopf. »Ja, ja, Ralf! Das mag wohl so sein!«, sagte er. »Doch er ist sicherlich nicht nur mit dem einen Burschen gesehen worden, der jetzt tot ist. Sondern auch mit einigen anderen. Aber der Knäbelein ist ja leider mit dieser – Vorliebe – nicht der Einzige. Er hängt immer mit dem Rehnhack, der ist Brigadier beim Industriebau, recht innig zusammen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Kerl in derselben Spur läuft!« Zu Zernicks Erleichterung drückte er die Zigarette aus, bevor er weitersprach. »Aber wir könnend anscheinend davon ausgehen, dass es hier auf der Baustelle im Augenblick noch kein Nest mit diesen Typen gibt. Obwohl mir noch einige andere nicht so koscher erscheinen!« Faber winkte unvermittelt ab, um dieses Thema abzuschließen. Da es ihm offensichtlich unangenehm zu sein schien.
»Na gut, belassen wir’s dabei!«, räumte der Major ein. »Wo kein Kläger, da kein Richter. Momentan können wir’s ja nicht beweisen, dass der dicke Urs irgendetwas mit dem Tod des Jungen zu schaffen hat. Aber wir sollten das alles im Auge behalten. Nicht, dass die warmen Brüder sich hier zu sehr breitmachen!«, schloss er seine Überlegungen ab.
Sehr zu Fabers Überraschung schien Zernick in Eile zu sein. Denn er sprang plötzlich auf und zog seine gesteppten Klamotten an. Kumpelhaft klopfte er dem erstaunten Leiter für Sicherheit auf die Schulter und verschwand aus dem Büro.
Erst als der Major bereits draußen war, bemerkte es Faber. Zu seiner Verblüffung lagen die Fotos mit den Vergrößerungen nicht mehr auf seinem Schreibtisch!
Kopfschüttelnd wendete er sich seinen noch ausstehenden Verpflichtungen zu.
Für ihn selbst überraschend gelang es ihm wenig später eine telefonische Verbindung nach Mittenwalde zu erhalten. Und das schon nach drei Versuchen. Unter Knacken und Rauschen in der Leitung vermochte er es, die verantwortlichen Kollegen beim Generallieferanten über den Vorfall zu informieren.
Nach der telefonischen Nachricht schickte er zusätzlich ein Fernschreiben in die Zentrale. Auf diesem Wege sagte er auch den Heimtransport der Leiche mit dem nächstfolgenden Urlauberheimflug zu. Der Termin wäre allerdings noch offen.
Aus Mittenwalde kam am frühen Abend die Bestätigung ebenfalls per Fernschreiben.
Man würde die Abholung des Sarges von Schönefeld veranlassen, wenn der nächste Urlauberflieger dort ankommt.
Auf dieses Stichwort hin rief Faber nochmals Joschi, den Chef der Dienstleister an, der auch gleich den Hörer abnahm.
»Immer diese Hektik! Also gut, Genosse Sicherheit! Erst vorhin sagte man mir, dass ein Klempner von TGA soeben die Zinkauskleidung in den Sarg löten würde. Die Kiste kommt also heute Abend noch rüber in den Medpunkt. Damit der Doc die Leiche einsargen kann!« Joschi klang ein bisschen genervt. »Zum Glück ist es ja überall ausreichend kalt. Da hält sich der Junge bestimmt noch eine Weile frisch«, ergänzte er seine Mitteilung noch auf eine etwas zynische Art.
Faber vermeinte zudem, ein unterdrücktes Lachen zu hören. Er ignorierte jedoch diese Entgleisung und legte ohne eine Entgegnung auf.
Der diensthabende Dispatcher vom Transport rief an. Er bestätigte ihm die angeforderte Bereitstellung eines B1000 mit Kofferaufbau. Der schien ihm für die Überführung des Sarges zum Bahnhof von Ustinov geeignet. »Mit dem Transportbüro in Moskau konnte ich auch schon alles absprechen. Ich meine, damit der Sarg vom Kasaner Bahnhof abgeholt und zum Flughafen Tscheremetjewo gebracht wird«, ergänzte der Dispatcher eifrig.
Woraufhin Faber auflegte. Später fiel ihm jedoch etwas auf, dass er übersehen hatte. Die Urlauber von Prokowski waren bereits am Morgen dieses Tages mit dem Bus nach Ustinov planmäßig abgefahren. Somit bestand für seine weiteren Aktionen plötzlich kein Zeitdruck mehr.
Denn erst in vier Tagen würden die nächsten Urlauber von zwei Nachbarstandorten abreisen. Dann erst konnten sie den Sarg in den Zug nach Moskau bei dessen Halt in Ustinov zuladen.
Letzten Endes musste Faber nur noch den Untersuchungsbericht schreiben. Was da drin stehen sollte, hatte er mit Zernick, dem Baustellenleiter und dem Parteisekretär ohnehin genauestens abgestimmt. Denn schließlich ging das Dokument mit nach Mittenwalde. Dieses Papierchen würden sich dort sicherlich noch einige, besonders wichtige Herrschaften zur Brust nehmen.
Daher formulierte Faber alles entsprechend den dafür vorgesehenen, betrieblichen Anweisungen:
»Vorgang: Selbsttötung eines Baustellenangehörigen mittels Erhängen.
Gemeinsam durchgeführten Untersuchungen durch: den Leiter Sicherheit und Arbeitsschutz, Betrieb Untergrundspeicher–Mittenwalde Standort Prokowski, dem Baustellenarzt, der Miliz und dem sowjetischen Staatsanwalt, lassen folgende Schlussfolgerungen zu:
»Der Geschädigte ist Marco Bauerfeind, geb. am 12.09.1965, beschäftigt als Maschinist beim FGLB-Engelsdorf, HAN-LT, Bereich RIV. Die letzte Einreise fand am 11.01.86 statt.
Benannter Mitarbeiter beging am Sonnabend, dem 08.02.1986 zwischen 08.00 und 09.00 Uhr, aus offensichtlich privaten Beweggründen (ev. Heimweh) und unter Alkohol stehend in seiner Wohnunterkunft eine Selbsttötung durch Erhängen.
Dazu benutzte er einen zu seiner beruflichen Winterkleidung gehörenden Schal. Er befand sich zu dieser Zeit allein in der WUD. Ein Fremdverschulden kann somit weitestgehend ausgeschlossen werden. Bauerfeind hatte sich am frühen Morgen bei seinem Brigadier krankgemeldet. Seine Brigade fuhr gegen 5.00 Uhr ohne ihn zur Schicht an den linearen Teil.
Stempel, Datum und Unterschrift.«
Als endlich alles abgearbeitet schien, holte Faber tief Luft und ein Fläschchen Weinbrand aus seinem Schreibtisch. Er nahm ein paar kräftige Schlucke gleich aus der Flasche und klopfte sich im Geiste anerkennend auf die Schulter. Diese äußerst unangenehme Aufgabe war geschafft! Aber warum auch nicht, dachte er. Leider verfügen wir ja bereits über gewisse Erfahrung, um einen unserer verunfallten Trassenerbauer auf diese Art und Weise nach Hause zu verbringen.
Nach einem prüfenden Blick ins nicht mehr besetzte Sekretariat gähnte er laut und ungeniert. Er reckte und streckte sich. Dann schaute er auf die Uhr.
Daraufhin beschloss er, für heute Feierabend zu machen.
Draußen war es schon längst wieder stockdunkel geworden.
Faber schloss das Büro ab, um noch seinen Kontrollgang durch das Wohnlager zu starten. Das tat er jeden Abend. Auch, wenn er im Speisesaal immer als einer der Letzten beim Abendessen galt. Doch heute konnte dies sicherlich kein Problem darstellen.
Denn zum einen hatte die Küche sowieso zusätzlich geöffnet. Weil die zurückkehrenden Urlauber erst nach der Abendbrotzeit ankommen würden. Zum anderen ließ man das Büfett noch länger stehen, da abends die Faschingsfeier der Baustelle stattfand.
Je mehr Alkohol die Jungs in sich hinein schütteten, umso üppiger zeigte sich später ihr Appetit! So lehrte zumindest seine persönliche Erfahrung.
Er trat hinaus vor die Bürobaracke und verschloss die Tür.
Eisige Kälte umfing ihn. Gewohnheitsmäßig warf er einen Blick zum schwarzen, von Sternen übersäten Himmel. Auch heute Nacht würde es nicht schneien.
Doch da hörte er von der Marienberger Halle her das rhythmische Wummern der Diskothek. Die Faschingsfete schien bereits begonnen zu haben.
Daher fasste er den Entschluss, gleich zum Abendessen zu gehen. Seinen Kontrollgang würde er erst im Anschluss daran durchführen.
Ein Neuankömmling im Fasching
Theo und Lisa Kappner saßen nach dem Abendessen gemeinsam mit anderen Mitarbeitern der Versorgungsleitung im vorderen der beiden Speiseräume beisammen. Sie benutzten einen Tisch in der hinteren Ecke, weil sich ihnen von da aus der ungehinderte Blick auf den Übergang zur Marienberger Halle bot. Von dort her dröhnten schon laute Discoklänge.
Entgegen dem allgemeinen Verbot, das während der Essenszeiten galt, erlaubten sie sich in der Nische zu rauchen. Zudem konnten sie sich dort unterhalten, ohne schreien zu müssen.
Auf dem Tisch standen mehrere Flaschen »Braustolz Pils« und zwei mit »CioCioSan«.
Diesen fiesen Wermut verabscheuten die Kappners zutiefst.
Völlig im Gegensatz zu den beiden Mädels aus der Ökonomie und dem pickligen Wareneinkäufer. Die fanden das süße Gesöff rundum toll, weil es vortreffliche Laune versprach. Ein Grund mehr, wofür sie gern ihre Rubelchen verplemperten.
Aber lange würden die jungen Leute sicherlich nicht hier am Tisch hocken bleiben. Dessen war sich Theo Kappner bewusst.
Inzwischen war es nach zwanzig Uhr geworden und der laute, hämmernde Rhythmus aus der Halle lockte das jüngere Volk eindringlich zum Tanz.
Bis jetzt hielten es die drei Mitarbeiter vermutlich nur aus Neugier bei den Kappners aus. Anscheinend hofften sie, von ihrem Chef ein paar Details über den Selbstmord zu erfahren. Der schreckliche Vorgang geisterte zwar durch aller Munde, aber keiner wusste etwas Genaues.
Bevor sich Kappner zu seinen Leuten an den Tisch gesetzt hatte, war er noch eine Runde durch die Marienberger Halle gegangen. Diese schien sich inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt zu haben.
Interessiert ließ er den Blick über die Besucher der Faschingsfeier wandern. Am Ende des Rundgangs wollte er zudem seine Mitarbeiter im Ausschank kontrollieren. Denn solches tat er stets auch bei ähnlichen Anlässen.
Den Saal hatten die beiden Kulturniks im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten bereits am Vorabend geschmückt. Alles wirkte faschingsgemäß und ziemlich farbenfroh.
Kappner wusste, dass die bunten Scheinwerfer, mit denen der Saal ausgeleuchtet wurde, aus dem Theater der Stadt Prokowski stammten. Das für die Ausleihe notwendige »Sternburg Pilsener«, zwei Eberswalder Salami und eine mächtige Seite geräucherten Speck spendierte er aus den Warenbeständen der Versorgung.
Ein nicht unerheblicher Teil der Faschingsgäste zeigte sich, zum allgemeinen Amüsement, auf die eine oder andere Weise phantasievoll kostümiert.
Der Einmarsch des Elferrats ging wohl soeben, heftig beklatscht, dem Ende entgegen. Zahlreiche Narren hielten das heutige Ereignis mit ihren Fotoapparaten fest.
Der Kulturnik zerrte die Regler hoch und fuhr sofort und mit voller Pulle einen aktuellen Stimmungshit vom Diskopult ab. Die wuchtigen Boxen auf dem hölzernen Podium dröhnten, die Bässe ließen sogar den Betonboden erbeben.
Augenblicklich schleppten die Kumpels fast alle in der Halle anwesenden weiblichen Faschingsgäste auf die Tanzfläche.
Dort fanden sich wie bei jeder Lagerdisko auch viele der Jungs spontan zum Männertanz ein. Verklärten Blickes schwebten oder stampften sie solo im Rhythmus der Musik mit Zigarette und Bierflasche in den Händen über den grau gestrichenen Betonfußboden.
Die Tanzfläche hatte sich zwar rasch gefüllt, die Anzahl der weiblichen Tanzpartner reichte jedoch bei Weitem nicht aus.
Kappner machte plötzlich eine erstaunliche Feststellung.
Anscheinend hatte sich heute eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Kumpels gewagt, ihre in der Stadt erworbenen russischen Freundinnen ins Wohnlager mitzubringen.
Denn solch eine Vielzahl an Mädels aus dem »Territorium« auf der Tanzfläche gab es hier noch nie!
Gut so dachte Kappner schmunzelnd. Langsam wird’s ja! Wenn es hilft, den dramatischen Männerüberschuss bei den Lagerdiskotheken wenigstens etwas auszugleichen? Dann ist das doch in Ordnung.
Er hob den Blick, während er sich eine Zigarette anbrannte.
Obwohl die meisten der Anwesenden rauchten, schwebte unter der Hallendecke aus Wellasbest nur eine dünne Wolke von Tabakqualm. Dank der improvisierten Saalentlüftung, an der auch er maßgeblich Anteil hatte, war das möglich.
Der Versorger schlängelte sich zwischen den Narren hindurch, bis nach vorn zum »Morschen Brett«.
Der Ausschank befand sich gleich neben dem Diskopodium. Wo man rückseitig durch drei kleine Luken in der Wand die Linsen der beiden Kinomaschinen sehen konnte.
Der Getränkeverkauf erfolgte aus einem etwas breiteren Fenster heraus, das sich in der Wand daneben befand.
Kappner musterte die lange Reihe der Kumpels, die geduldig am Ausschank anstanden. Die beiden Mädels hinter der Theke waren vollauf beschäftigt, um den Bedarf an Bier, Wein und auch Hochprozentigem zu befriedigen.
Von der Seite her beugte sich der Versorgungschef ins Verkaufsfenster hinein. »Soll ich euch jemanden zum Gläserspülen herschicken?«, fragte er Lilly. Eine dralle Rostockerin im blauen Berufskittel.
»Nee, nee. Lass das Mal, Chef!«, entgegnete sie und drehte ihm für einen Moment das hübsche aber hektisch gerötete Gesicht zu. »Wir kommen hier schon alleine klar!«
Kappner zuckte mit den Schultern und schaute nochmals auf die Schlange der Wartenden. Kurz vorm Verkaufsfenster entdeckte er plötzlich Rolf Kretzschinski, seinen Techniker. Der stand mit den anderen Durstigen geduldig in der Reihe.
Wegen der dröhnenden Musik diskutierte der Leipziger lautstark mit einem auch bereits angetrunkenen Kumpel. Ein sicheres Zeichen dafür, dass Kretzschinski selbst »vorgeglüht« hatte bot seine rote Gesichtsfarbe. Ebenso, wie die Angewohnheit sich ständig mit den gespreizten Fingern durch das ohnehin zerzauste Haar zu fahren.
Kappner ging nochmals die Reihen der voll besetzten Tische ab. In der hintersten Ecke des Saales entdeckte er schließlich die Truppe von RIV. Die Jungs schienen gleich nach der Schicht hierhergekommen zu sein. Seitdem hockten sie immer noch in ihren verdreckten Lederklamotten eng beisammen. Und statt Faschingsstimmung sah man bei ihnen nur trübsinnige Gesichter.
Dort lachte keiner! Still in sich gekehrt vernichteten sie den Inhalt der Flaschen, die sich auf ihrem Tisch drängten.
Was für ein Scheiß-Drama, dachte Kappner bei ihrem Anblick. Das ist doch bestimmt ein unglaublich harter Schlag. Wenn einer aus der eigenen Truppe quasi von heute auf morgen einfach so wegstirbt.
Gnade uns Marx oder Gott, dass solches bei uns nie passiert!
Am Ende seines Kontrollgangs kehrte er in den vorderen Speiseraum zurück und setzte sich zu seinen Leuten.
Auch Ralf Kretzschinski tauchte bald dort auf. Mit einem breiten Grinsen stellte er vorsichtig ein kleines Tablett mit gefüllten Schnapsgläsern auf den Tisch. Er hatte es tatsächlich geschafft, das ovale Alublech vom Ausschank in der Halle bis hierher verlustfrei zu balancieren. Tief aufatmend ließ er sich auf einen freien Stuhl fallen. Er brannte sich eine Zigarette an und fixierte Kappner mit seinen schwarzen Knopfaugen. Die wirkten durch die dicken, grün getönten Gläser seiner Brille unnatürlich vergrößert.
Kretzschinski, ein untersetzter stets etwas schmuddelig wirkender und immer unrasierter Mittdreißiger hatte einen leichten Silberblick. Dazu eine narbige Gesichtshaut und tief-schwarzes, strubbeliges Haupthaar.
Sein oft unmäßiger Alkoholkonsum manifestierte sich in den Gesichtszügen. Und auch im morgendlich schwachen Zittern seiner Hände.
Kappners Meinung zu seinem »Fachgebietsleiter für Technik« fiel zumeist recht zwiespältig aus. Dessen progressive Sprüche und ständige Sauferei waren das eine gute Arbeit jedoch das andere Profil des Leipzigers. Doch auch, nachdem man Kretzschinski im vergangenen Herbst zum Sekretär der »Abteilungs-Parteiorganisation« der Versorger gewählt hatte, blieb er beim Alkoholkonsum konstant.
Kappner blieb skeptisch. »Denkst du, dass es ein guter Vorschlag war, den Kretzschinski zum Gruppensekretär zu wählen?« Der Parteisekretär der Baustelle, Wollny, reagierte auf seine Frage vorerst nur mit einem Schulterzucken. »Wolltest du die Funktion selber übernehmen? Oder hat sich noch ein anderer dafür beworben?«, entgegnete er daraufhin recht lapidar. Womit für ihn dieses Thema abgeschlossen schien.
Kappner versuchte jedoch, fair zu bleiben. Nach dem »Ordnungsgong«, dem er Kretzschinski am Mittag wegen des Bieres verpasst hatte, kam der Techniker bis Schichtende offensichtlich ohne Alkohol aus.
Gegenwärtig hatte er aber von neuem zugelangt. Wie es seine stockende Sprechweise unüberhörbar verriet. »Nimmst du auch ein’ Nordhäuser, – Chef?«, fragte Kretzschinski im gewohnt nuscheligen Tonfall, der seine Herkunft aus der Messestadt nicht verhehlte.
Denn dort wuchs er auf. Er schaffte den Berufsabschluss als Koch und wechselte danach aus wahrlich nicht nachvollziehbaren Gründen in die FDJ-Kreisleitung.
Das alles wusste Kappner aus der Personalakte des Technikers.
Als er auf Kretzschinskis Frage wegen des Schnäpschens zustimmend nickte, gab ihm Lisa einen Klaps auf den Rücken.
»Theo! Du bist heute der »Leiter vom Dienst«. Schon vergessen? Darfst’ nichts trinken!«
Kappner zuckte nur mit den Schultern, zog dann seine Frau an sich heran. »Nur einen zum Aufwärmen, Lisamaus!«, säuselte er ihr ins Ohr. Daraufhin nahm auch er eines der Gläser und stieß er mit allen am Tisch an.
Nur seine Frau trank, wie immer und vorbildlich, Mineralwasser.
Die Mädels aus der Ökonomie und der hoch aufgeschossene Einkäufer der aus Schwerin stammte schauten sich an. Dann standen sie entschlossen auf und verabschiedeten sich in Richtung Faschingsball. Sie wollten wohl nicht mehr darauf warten, dass ihnen ihr Chef eventuell etwas über den Selbstmord erzählen würde.
Dichter Zigarettenrauch schwebte jetzt auch unter der niedrigen Kunststoffdecke der geräumigen Raumzellen, aus denen der Speisesaal zusammengefügt war.
Die Abendbrotzeit dauerte zwar noch an. Aber einige der Tischgäste blieben nach dem Essen gleich sitzen. Sie genehmigten sich, nachdem sie ein Bier vom »Brett« geholt hatten, eine Zigarette danach.
Doch hier, im Speiseraum, gab es keine Abluftanlage.
Daher deutete Kappner auf eines der Fenster. Woraufhin es der Wareneinkäufer oben aufklappte, bevor er den beiden Mädchen eilig folgte.
Auch Kretzschinski hob grüßend die Hand. Er schnappte sich das Tablett mit den leeren Schnapsgläsern und auch den vollen Aschbecher. »Ich geh’ dann mal kurz – «, murmelte er, wobei er zur Tür hin deutete. Mit unsicheren Schritten verschwand er daraufhin in Richtung Faschingsfeier.
Kappner schaute ihm hinterher, bis der Leipziger sich durch die Tür getrollt hatte.
»Ist irgendwas vorgefallen, mit dem – Sachsen?«, fragte Lisa.
Ihr Mann winkte kopfschüttelnd ab, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. Der Sachse klingt gut, dachte er. Denn Lisa stammte im Gegensatz zu ihm aus Thüringen. Aus der Dichterstadt. Worauf sie gelegentlich nachdrücklich hinwies.
Er selbst wurde an einem eiskalten Januartag des Jahres Achtundvierzig in einer sächsischen Kreisstadt geboren.
Daher erfüllte es ihn immer mit Genugtuung, dass sich hier an der Trasse so viele Sachsen im Einsatz befanden. Auch von seinen Köchen, Fleischern und Bäckern stammten einige aus dem Gebiet um Dresden bis hoch zum Vogtland.
Er selbst machte aus seiner Herkunft nie ein Hehl. Auch wenn er seit sieben Jahren nicht mehr in »Elbflorenz«, sondern in Berlin lebte. Davon bereits zwei gemeinsam mit Lisa seiner zweiten Frau.
Diese hob soeben theatralisch die Hände und schaute dabei ihren Mann mit einem vorwurfsvollen Blick an. »Theo träume nicht! Sag, merkst du es auch? Keiner spielt mehr mit uns Oldies. Ei, verdammt! Ich komme mir so schrecklich alt vor!« Sie zog einen Flunsch, um sofort in lautes Lachen auszubrechen. Dann nahm sie ihren Mann in die Arme und küsste ihn herzhaft.
Kappner griente und machte sich frei. Er brannte für beide jeweils eine Zigarette an, reichte eine davon seiner Frau. Dann öffnete er für sich eine frische Flasche vom beliebten »Braustolz-Pils«.
Lisa hingegen nahm einen Schluck vom sowjetischen Mineralwasser. Das jedoch schmeckte, obwohl sie es aus ihrem Glas und nicht aus der Flasche trank, wie immer: muffig und – nach Rost. Angewidert verzog sie das Gesicht.
Kappner hob mit einer resignierenden Geste die Schultern. »Tut mir leid, dass du diese Brühe trinken musst«, sagte er und legte ihr die Hand besänftigend auf den Arm. »Aber du weißt ja, wie ich dazu stehe.«
Sie winkte nur ab. Auch sie vertrat den Standpunkt ihres Mannes in Bezug auf dieses leidige Thema. Denn mit welchen Worten formulierte Theo stets seine Kritik?
»Furz und Feuerstein wird hektotonnenweise aus der DDR hierher gekarrt!«, wiederholte er sich gern. »Von der Lümmeltüte und den Nudeln aus Riesa. Vom Trassenrohr bis zur Einbauküche für den Wohnungsbau rollt alles über fast fünftausend Kilometer in den Ural. Nur, um es hier zu verkaufen, zu verkochen, irgendwo zu verbuddeln oder einzubauen. Aber Mineralwasser dürfen wir von daheim nicht hierher bringen! Und das nur, weil irgendein Großkopfete bereits vor Anbeginn aller Trassen eine epochale Erkenntnis hatte. Nämlich, dass der Transport von Mineralwasser aus DDR–Produktion auf die jeweiligen Standorte angeblich zu teuer ist! Darum kaufen wir es eben hier in der SU. Egal, wie die Brühe schmeckt.«
Mit schaumgebremstem Grimm langte Kappner nach seinem Bier. Und während er über seine ureigene Philosophie zum Thema Mineralwasser noch ein bisschen nachdachte, wanderte sein Blick durch den inzwischen fast leer gewordenen Speisesaal. Dabei bemerkte er Justus Faber, der gegenüber an einem der Tische saß und augenscheinlich noch zu Abend speiste.
Kappner machte seine Frau auf den Sicherheitschef aufmerksam und wollte mit ihr, weil ihn dessen Anwesenheit daran erinnerte, über den toten Burschen von RIV sprechen.
In diesem Augenblick jedoch entstand vorn am Eingang zum Speisesaal ein lautes Gedränge. Mehrere zumeist junge Leute in Privatbekleidung und zum Teil mit Reisegepäck beladen drängten durch die Tür in Richtung Speisenausgabe.
»Da schau an, die Urlauber reiten endlich ein«, bemerkte Lisa und drückte ihre Zigarette im Aschbecher aus.
Kappner blickte zwar mit einem gewissen Interesse auf die Ankommenden. Er blieb heute jedoch leidenschaftslos. Denn von seinen Leuten reiste niemand ein. Als Chef der Versorgung musste er keinen der Rückkehrer in Empfang nehmen. Er konnte bei seinem Bier sitzen bleiben.
Aufmerksam geworden vom Lärm entdeckte er in der Meute die FDJ-Sekretärin der Baustelle, Elke Dörrbrand.
Gemeinsam mit einem ihm unbekannten, jugendlich wirkenden Mann drängte sie in Richtung Speisenausgabe.
Unvermittelt sprang Lisa auf. Sie eilte zur Ausgabereihe vor der Küche. Um dort zu überprüfen ob für die Rückkehrer noch genügend vom Faschingsbüfett bereitstand.
Kappner musste unwillkürlich lächeln, als er seine Frau beobachtete. Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche und zündete sich eine weitere Zigarette an.
Das ist eben meine Frau, dachte er. Wobei er so etwas wie heimlichen Stolz empfand. Immer pflichtbewusst aufs Ziel orientiert, konsequent und fleißig. Auch damals an der Drushba Trasse, wo sie sich kennen lernten, zeigte Lisa bereits diese herausragenden Eigenheiten.
Und eben dort passierte es.
Sie, die jugendliche Köchin war unverheiratet.
Doch er, ihr Küchenchef war Genosse. Dazu verheiratet und daheim gesegnet mit zwei halbhohen Kindern!
Ein staatlicher Leiter, der fremd ging?
Da schienen die Probleme quasi vorprogrammiert!
Anfangs wartete ihr übergeordneter Chef noch ab, ob es sich bei ihnen nur um ein Strohfeuer handelte. Während man aus der Parteigruppe gleich mit dem Finger deutete und auf Konsequenzen drängte.
Doch wenig später knallte es. Als er und Lisa auch gegenüber den Kollegen aus ihrem Verhältnis kein Hehl mehr machten.
Kappner wurde disziplinarisch belangt und Lisa schickte man praktisch in die Verbannung! Ohne, dass er es auf irgendeine Weise beeinflussen konnte, verfrachteten sie seine Geliebte in den nächsten Linienbus. Der auf den östlichsten Standort der Drushba-Trasse fuhr. Und der war etwa dreihundert Kilometer entfernt!
Kopfschüttelnd schob Kappner die unschönen Erinnerungen beiseite. Er atmete tief durch und fand sich zurück in die lärmende Realität.
Dabei konnte er seine Frau hinter der Reihe der Rückkehrer hindurch gut beobachten. Er sah auch, wie Lisa dem Schichtkoch der Nachtschicht eine kurze aber scharfe Anweisung gab. Der hatte bisher mit verschränkten Armen lässig hinter der Ausgabereihe gestanden. Daraufhin riss dieser Schlacks einen der großen Kühlschränke auf. Er entnahm daraus sofort mehrere dick belegte Platten mit Aufschnitt, um sie auf die polierte Speisenausgabe zu stellen.
Kopfschütteln kam Lisa aus der Küche zurück zum Tisch gelaufen. Laut seufzend ließ sie sich neben ihren Mann auf den Stuhl fallen und lehnte den Kopf an seine Schulter. Wobei sie ihm von unten her einen verzweifelt wirkenden Blick zuwarf. »Ich frage mich, wozu einige unserer Leute ihr Hirn haben. Schau ihn dir nur an!«, rief sie aus und deutete zur Ausgabe hin. »Ein hoch bezahlter Schichtleiter. Jung, dynamisch, aber nichts auf der Waffel! Abgesehen von Weibern und vom Alkohol!«
Kappner legte seiner Frau den Arm um die Schultern und strich ihr beruhigend über die Wange. »Bleib’ ruhig Schatz! Es sind doch noch junge Leute. Und – erinnerst du dich, wie wir uns in diesem Alter aufgeführt haben? Aber – ich geb’ dir trotzdem Recht!«
Lisa zuckte etwas ratlos mit den Schultern. »Alles nur Windbeutel, diese – Entwicklungskader!« Doch unvermittelt hellten sich ihre Züge auf. Neugierig schaute sie den Ankömmlingen entgegen, die direkt auf ihren Tisch zusteuerten.
Voran schob sich Elke Dörrbrand, die blondbezopfte FDJ-Sekretärin der Baustelle. Die mit beiden Händen einen stramm gefüllten Teller über ihrem sichtlich gewölbten Bauch balancierte.
Zwei Schritte hinter ihr ging der Mann, mit dem sie vorhin von draußen hereinkam. Auch er trug eine voll bestückte Dreiteilerplatte und das Besteck. Aber alles entspannt in der linken Hand.
»Hallo, können wir uns zu euch setzen?«, fragte Elke in ihrem unverkennbaren, sächsischen Dialekt.
»Hockt euch hin, Ankömmlinge!«, antwortete Kappner launig in der gleichen Tonlage. Dabei schaute er interessiert auf den ihm bisher unbekannten Mann.
Der ihm aus der Nähe betrachtet doch nicht mehr so taufrisch erschien, wie er vom Weiten ausschaute.
Die Dörrbrand stellte den Teller auf dem Tisch ab und ließ sich stöhnend auf einen Stuhl fallen. Dabei hielt sie sich ihren dicken Bauch mit beiden Händen. Daraufhin griente sie, deutete mit ihrer kleinen Hand auf ihren Begleiter. »Darf ich vorstellen? Das ist der Jugendfreund Helmuth Steincke, der mich in Kürze von den Lasten meines schweren Amtes erlösen wird«. Sie wies auf Theo und Lisa. »Helmuth! Das sind die Kappners. Der Leiter von der Versorgung und die Küchenleiterin.«
Kappner streckte Steincke über den Tisch hinweg seine Rechte entgegen. Er blickte offen in dessen tiefschwarzen Augen und warf daraufhin grinsend einen raschen Blick zur Dörrbrand hin. »Bevor ich mich über deine schweren Lasten auslasse, hoffe ich, dass dein Nachfolger nicht auch noch schwanger werden kann!«, sagte er.
Elke Dörrbrand holte tief Luft und ihre geflochtenen Zöpfchen wippten heftig auf und ab. »So, Helmuth! Da durftest du gleich einmal hören, wie unser Versorgungschef so tickt! Aber dafür ist seine Frau viel, viel netter!«, moserte sie. Nachdem alle am Tisch gelacht hatten, stürzte sich die Dörrbrand auf ihren vollen Teller.
Kappner schaute sich indessen den zugereisten FDJnik genauer an. Der hatte bisher geschwiegen, aß nunmehr unbeirrt und mit sichtlichem Appetit.
Der Mann schien nach seinem ersten Eindruck mittelgroß und das schwarze, halblange Haar trug er ordentlich links gescheitelt. Unter der leicht gebogenen Nase bot er einen dichten, gepflegten Schnauzbart dar. Die sanft schräg stehenden, kohlschwarzen Augen und die erhöhten Wangenknochen spendierten seinen Gesichtszügen eine fast exotische Note. Körperlich wirkte er durchtrainiert.
An dem Burschen scheint so eine Art – kasachischer Steppenreiter – verloren gegangen zu sein, dachte Kappner erheitert. Er räusperte sich verhalten. »Na dann. Guten Appetit!«
Der Neue schaute kurz auf und hob die Brauen. Er kaute jedoch unbeirrt weiter.
Kappner griff nach seinem Bier. »Nur zu deiner Information, Helmuth. Die Lisa und ich sind von Anfang an hier auf dem Standort. Damals wurde das Wohnlager noch gebaut und alle hausten unten im einzigen Hotel der Stadt.« Er trank von seinem Bier.
In der Halle nebenan brandete erneut lauter Beifall auf, ein dröhnender Tusch schallte herüber.
Elke Dörrbrand wollte anscheinend etwas sagen. Sie wartete jedoch ab, bis der Lärm verebbt war. Schließlich schob sie ihren Teller ein Stück beiseite und schluckte heftig. Wobei sie Kappner mit hellblauen Augen durch ihre zeitlose Hornbrille fixierte. »Helmuth!«, sagte sie und warf Steincke einen raschen Blick zu. »Der Theo will damit sagen, dass er hier von Anfang an den Obermacker bei der Versorgung gibt! Der immer alles im Alleingang macht und keinen Vortänzer braucht. Zumindest bei den wichtigen Sachen. Und dass er das Versorgungsobjekt, völlig unsozialistisch, zumeist wie ’n Familienbetrieb führt. So, dass nur damit du es gleich weißt!«
Der neue FDJ–Sekretär legte das Besteck penibel nebeneinander auf den Teller. »Finde ich in Ordnung. Solange alles klappt!«
Kappner nickte dem Neuen zu und reichte ihm eine geöffnete Flasche Bier über den Tisch. »Guter Standpunkt! Doch wie wäre es, wenn du was von dir erzählen würdest?«
Steincke dankte für das Bier mit einem Kopfnicken. Er stellte den geleerten Teller beiseite, brannte sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck aus der Flasche.
In kurzen Sätzen, ständig von lauten Passagen der Diskothek aus dem Saal unterbrochen, berichtete er, wie es ihn in den Ural verschlagen hatte. Und das mit einer tonalen Färbung, die seine Herkunft dicht bei Magdeburg positionierte.
Dabei entpuppte er sich entgegen Kappners Annahme keinesfalls als Neuling an der Trasse. Fast zwei Jahre lang hatte er bereits auf einem Standort in der Ukraine erfolgreich gewirkt. So zumindest sagte er es. Jetzt jedoch wäre er vorerst nur hier, um die schwangere Elke abzulösen. »Dabei ist es ungewiss, wie lange ich hier in Prokowski bleiben werde«, fügte er mit einem raschen Blick auf die Dörrbrand hinzu. »Da man im Zentralrat eventuell noch Höheres mit mir vorhat!«
Lisa hob bei diesen Worten die Brauen und schaute kurz zu ihrem Mann hin. Denn der Neue hatte doch tatsächlich dieses »Höheres« extra betont. Aber ohne es zu erklären.
Doch die Kappners kannten schon derartige Situationen.
Gewisse Leute tauchten auf einem Standort auf und blieben eine Weile. Aber nur, um früher oder später auf eine andere Baustelle umgesetzt zu werden. So, wie man es eben für notwendig erachtete. Entweder, um sie loszuwerden oder damit sie woanders irgendwelche Probleme behoben.
»Dann ist es ja ein großes Glück für die Jugendfreunde hier am Standort! Ich meine, dass sie einen neuen FDJ–Sekretär bekommen der kein unerfahrener Anfänger ist!«, sagte der Versorgungschef ein bisschen sarkastisch und prostete seinem Gegenüber mit der Flasche zu.
Die Dörrbrand griff nach der Hand ihres Nachfolgers. »Hoffentlich ist es dir bekannt, mein lieber Helmuth, wie groß unserer Grundorganisation ist? Da la auch noch die Jungs und Mädels vom Wohnungsbau und die vom LT angegliedert sind?« Ihre Stimme klang etwas besorgt.
Steincke nickte zustimmend. »Ja! Fast tausend Mitglieder würden sich hier am Standort befinden. So zumindest sagte man es mir im Zentralrat in Berlin.« Nachdem er nochmals aus der Flasche getrunken hatte, winkte er lapidar ab. »Aber in der Ukraine hatte ich eine ähnliche Größenordnung unter mir. Darum sehe ich das auch ganz entspannt!«
Kappner vermochte ein spöttisches Grinsen nicht zu unterdrücken. »Hat man dich in deinem »Zentralrat« auch über die beschissenen winterlichen Wegeverhältnisse informiert, die hier der Alltag sind?«, forschte er den Neuankömmling aus. »Ich meine auch über die langen Monate mit nur wenigen Stunden Tageslicht und die enormen Entfernungen zu den anderen Standorten?«
Der Neue presste die Lippen aufeinander. Seine Augen wurden plötzlich zu schmalen Schlitzen. Er holte tief Luft, trank betont langsam einen weiteren Schluck von seinem Bier. Beherrscht stellte er die Flasche auf den Tisch zurück und warf einen raschen Blick in die Runde. »Nein, – darüber wollte man mich so im Detail, meine ich, offensichtlich nicht informieren.«
Elke Dörrbrand tätschelte unvermittelt seine Hand. So, als bezwecke sie, ihn zu besänftigen. »Kein Thema, Helmuth! Keine Panik«, lachte sie. »Also! Wenn du zu den Brigaden rausfahren willst, kannst du dir einen Fahrer über die Baustellenleitung besorgen! So mache ich das jedenfalls. Ich hab’ nämlich gar keine – Pappe!«
Auch die Kappners mussten jetzt lachen.
Doch Steincke hob abwehrend die Hand und schaute etwas irritiert in die Runde. »So’n Quatsch! Ich war in der Ukraine zwei Winter lang Selbstfahrer und es ist nichts passiert!«, knurrte er. Dabei schubste er seinen Teller beiseite und griff zur Bierflasche.
Daraufhin räusperte sich Kappner und deutete mit dem Finger auf sein Gegenüber. »Helmuth! Ich glaube, die Elke hat recht. Es ist besser, wenn dich fahren lässt. Früher an der Drushba-Trasse bin ich in der Ukraine auch in zwei Wintern mit dem Auto unterwegs gewesen. Aber ich sage dir, dass hier ist was völlig anderes!«
Statt einer Entgegnung bot Steincke erst einmal eine Runde Zigaretten an, wobei er eindringlich auf Kappner starrte. »In Ordnung! Erzähl’ mir, was mich erwartet«, sagte er schließlich.
Kappner, der reihum Feuer gegeben hatte, machte einen tiefen Zug, bevor er sprach. »Mir erging es hier ebenso wie vielen anderen auch. Im ersten Winter wurden wir im November vom Glatteis überrascht anschließend fiel Schnee. Viel Schnee! Aber im Ural gibt’s keinen Winterdienst wie bei uns daheim! Damals es war Anfang Dezember, bin ich zum ersten Mal von hier aus zur Leitbaustelle nach Berjosowski gefahren. Nur damit du eine Vorstellung davon bekommst, Helmuth! Vom Wohnlager aus sind’s bis zum LT-Standort in Sosnowski knappe fünfunddreißig Kilometer richtige Straße. Danach gibt’s nur noch die Piste. Ab und zu ein kleines Dörfchen. Zuerst Hügelland anschließend geht’s langsam höher durch die Berge. Schließlich hinunter nach Kungur und von da aus nach Berjosowski. Da ist wieder ’ne Straße.« Kappner nahm einen Schluck und lächelte über Steinckes verwundertes Gesicht. »Das ergibt über fünfhundert Kilometer Fahrstrecke! Und die besteht im Winter nur aus vereister, verschneiter Piste oder festgefahrenen Schnee. Nach ’nem Schneefall schieben die Kolchosen mit der Planierraupe die Strecke frei. Von Dorf zu Dorf. Jeder, der da lang muss, fährt die Spur ein bisschen fest. Bald ist nur noch blankes Eis angesagt. Wenn du doch mal mit deiner Karre abfliegst, weil du ausweichen oder bremsen musst, bleibt nur die – »Schneebremse«. Du versuchst dabei am besten nur noch mit der Schnauze links oder rechts, im Schneewall entlang der Piste zu landen. Der kommt zum Glück in den Bergen auf bis zwei Meter Höhe. Aber das funktioniert natürlich nur, wenn dir in dem Moment keiner quer entgegenkommt! Im Frühjahr und Herbst ist das übrigens alles nur Modder und Morast. Bis über die Türschweller vom Auto!«
Das, was er von Kappner soeben gehört hatte versuchte Steincke nunmehr mit einem nachsichtigen Lächeln zu kommentieren. »Kann man keine andere Strecke nehmen, die nicht so lang ist?«, fragte er und drückte die Kippe aus.
Kappner schüttelte den Kopf. »Nee! Wir müssen nach dem beschissenen »Transportschema« fahren das uns die Sowjets aufgedrückt haben!«
Steincke und auch die Dörrbrand blickten überrascht auf Lisa.
Denn die Küchenchefin platzte plötzlich mit einem lauten Lachen dazwischen. »Du kannst ja vor der Fahrt auch einfach zu uns ins VO kommen, Helmuth! Wenn du selber fährst und dabei auf die lange Strecke willst, meine ich. Wir rüsten dich gerne mit’ n paar Hülsenfrüchten aus!«, stieß sie prustend heraus.
Steincke und Elke Dörrbrand schienen etwas irritiert.
Kappner jedoch schmunzelte nur. Er drückte seine Zigarettenkippe aus und hob abwehrend die Hände. »Nee, nee! Lisa will euch nicht verscheißern! Sie meint die Nummer vom Winter Vierundachtzig. Da hatte ich noch den »GAS 69«. Und den nahm ich nur für kurze Strecken hier im Territorium. Denn die Karre benahm sich bei jeder kleinen Bodenwelle wie ’n Karnickel. Sie hüpfte bei Eis und Schnee immer gleich aus der Spur!« Er grinste rasch zu seiner Frau hin. »Ich musste aber zur Dienstberatung nach Berjosowski fahren. Darum blieb uns nichts weiter übrig als uns was einfallen zu lassen! Wir packten also drei Säcke über die Hinterachse. Mit 50 Kilo Linsen, 50 Kilo halbe Erbsen und 50 Kilo weiße Bohnen! Und die Karre lag auf der Piste, wie ein Brett!«
Kappners Anekdote rief ein allgemeines Gelächter hervor.
In diesem Augenblick flog jedoch die Tür zur Halle hin weit auf. In einer Reihe mit einer Art von Polonaise erschien ein Rudel von gut zwanzig angetrunkenen Narren. Ein Stimmungslied auf den Lippen marschierten sie zur Essenausgabe. Wo sie umgehend über die Reste des Büfetts herfielen.
Das Tischgespräch in der Saalecke plätscherte noch ein Weilchen dahin.
Bis Steincke demonstrativ gähnte. »Ich müsste wohl noch meine Klamotten auspacken und das Bett beziehen. Die erste Nacht möchte ich nicht in »blau« schlafen!«, sagte er.
Das wirkte als Signal. Woraufhin man in Richtung der Unterkünfte aufbrach.
Kontrollpflichten
Justus Faber hatte seine Abendmahlzeit beendet.
Er erlaubte sich ein sanftes Aufstoßen, erhob sich vom Tisch und stellte den Stuhl zurück. Sein aufmerksamer Blick schweifte über die zuvor angekommenen Urlauber. Mit einem freundlichen Nicken grüßte er einige von ihnen, während er in Richtung der Geschirrrückgabe marschierte.
Das benutzte Geschirr und Besteck trug er auf dem Kunststofftablett vor sich her.
In der Spülküche wuselte eine zierliche, blonde Küchenkraft herum. Flink steckte sie Teller, Schüsseln und Trinkbecher auf ein langsam laufendes Band. Das wiederum wurde von der riesigen, laut rauschenden Geschirrspülmaschine pausenlos verschluckt.
Die Kleine bot einen herzigen Anblick. Sie schlappte in hohen, zu groß geratenen Gummistiefeln und schien in die fast bodenlange Kunststoffschürze wie eingewickelt. Auf dem Kopf über der verschwitzten Stirn klebte ein weißes Kopftuch. Geflochtene Zöpfchen standen wie Rattenschwänzchen hinter den geröteten Ohren ab.
Mit einem freundlichen Nicken dankte sie dem Sicherheitschef für die Rückgabe des Geschirrs. Nebenher spülte sie schmutziges Besteck mit einer Handbrause vor.
Wie nett von ihr dachte Faber. Unterdessen er kurz auf ihren Hintern schaute, über dem die karierte Kochhose spannte. Diese Mädels sind hier bestimmt nicht nur Freundlichkeiten gewohnt. Dabei verrichten sie wahrlich keine leichte Arbeit!
Er wandte sich dem Ausgang zu, band sich den Schal um, schloss die Wattejacke und stülpte die Schapka auf den Kopf.
Als er an der offenen Tür vom »Brett« vorbeistapfte, rief ihm Ingrid, die Verkaufstellenleiterin, einen Gruß zu. »Einen schönen Abend noch, Justus!«
Faber nickte dankend zurück, zog sich rasch die Handschuhe über und drückte mit dem Ellbogen die Tür auf. Eisige Kälte schlug ihm entgegen.
Doch er tauschte sie gern gegen den Lärm ein. Denn soeben schien man bei der Faschingsfeier einen Höhepunkt erreicht zu haben. Neben lauter Musik hörte er zunehmend Grölen, Lachen und Trampeln. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er auch die Verursacher des Lärms gesehen. Gerade als sie spärlich kostümiert hin zur Halle liefen.
Die Jungs von Knallgas erkannte er sofort. Auch in ihrer Kostümierung. Sie vollzogen jetzt ihren Auftritt mit dem »Ballett Afrikana«. Wie im Vorjahr auch galt diese Tanzparodie als der absolute Kracher.
Wild stampfende, halbnackte, dicke und vollbärtige Männer, die braun bemalt waren. Mit einem Baströckchen um die speckigen Hüften, einem Kokosnuss–BH vor der Plauze und in den Händen einen blanken Knochen. Solcherart kostümiert hüpften sie zur passenden Musik im Kreise. Das kam natürlich bei den Kumpels immer an.
Für Faber begann jetzt die selbst auferlegte abendliche Kontrollrunde.
Entlang der Wege verlieh das Licht von den Strahlern auf den hohen Masten dem Schnee einen bläulichen Glanz.
Zuerst stiefelte er durch das verschneite Freizeitzentrum hindurch. Daraufhin schlitterte er auf der abschüssigen Kurve um das Lagerobjekt der Versorgung herum. Anschließend stapfte er nach vorn zur Einfahrt des Wohnlagers. Dort befanden sich der Schlagbaum und die Wächterbude.
Über den knochenharten, knirschenden Schnee näherte er sich der hell erleuchtete Lagereinfahrt. Von links her aus der tief verschneiten Kläranlage hörte er ein sattes Summen. Dort liefen die Pumpen im Dauerbetrieb.
Aus dem Schornstein vom eingehausten Heizcontainer, der das gesamte Lager mit Warmwasser und Heizung versorgte, stieg eine Dampfwolke empor. Sie verwehte als feiner Eisnebel im schwachen Wind.
Den Lärm aus der Marienberger Halle konnte er hier vorn fast nicht hören. Denn die hohe, lange Lagerhalle wirkte wie eine Schallschutzwand.
Er riss die Tür auf und betrat den Wächterraum.
Die beiden diensthabenden Wachmänner schauten ihm überrascht entgegen. Einer deckte Stift und Briefpapier rasch mit einer Zeitung ab.
Nachdem Faber die Tür hinter sich geschlossen hatte, begrüßte er die beiden und kontrollierte das Wachbuch. »Wie das?«, entfuhr es ihm, »Wie viele von den Russenmädels befinden sich heute im Lager?«
Von einem der Wachmänner kam prompt eine Antwort. »Kannste aba sicha sein! Det war ’n glatter Stress heute Abend. Ick meene die janzen Personalien ’uffschreiben und so!«, sprudelte der pickelige Jüngling aus Berlin heraus.
Der andere Wachmann mischte sich ein. »Es sind genau achtundfünfzig Mädels, Genosse Faber! Die ham ’se mit zwei PAS-Bussen aus der Stadt herauf gekarrt. Die gehörten aber nicht zu unserem Transport, die Busse! Drei von den Mädels konnten wir nicht reinlassen. Keiner ohne Papiere kommt rein, hast du gesagt!«
Faber nickt zustimmend und überlegte einen kurzen Augenblick. »Ist die Miliz heute Abend schon mal hier aufgetaucht?«
»Nee!«, entgegnete der Picklige, »Die kommt meistens erst, wenn die Disco zu Ende ist. Wollen immer das Wachbuch sehen und schreiben die Personalien von den Mädels ab.«
Faber winkte ab. »Das ist so in Ordnung! Geht uns auch nichts an. Ansonsten alles klar?« Da es keine weiteren Vorkommnisse gab, schrieb er einen Vermerk ins Wachbuch. Daraufhin wünschte er den Jungs eine ruhige Schicht und huschte wieder in die Kälte hinaus.
Von der Zufahrtsstraße aus stiefelte er hinüber zum Kontrollweg. Der führte längst zwischen dem Außenzaun und dem Rohrstrang der Heiztrasse entlang. Auf die ersten Meter des schmalen Weges warfen die Halogenstrahler von der Einfahrt her noch ein spärliches Licht.
Einige der Fenster in der rückseitigen Front des Küchentraktes waren erleuchtet. Auch aus denen vom Ausschank und dem Filmvorführraum in der Marienberger Halle fiel ein schmaler Lichtschein.
Doch schon wenige Schritte weiter herrschte tiefe Dunkelheit. Zudem drang vom Faschingslärm kaum noch etwas an Fabers Ohr. Ein kleines Stück dahinter zogen sich bereits die langen Reihen der tief verschneiten Wohnbaracken dahin.
Faber stapfte auf dem schmalen, festgetretenen Pfad voran der geradewegs entlang der Heiztrasse führte. Aufmerksam schaute er sich dabei um.
Die Bewohner der Wohnunterkünfte befreiten die Fenster ihrer Zimmer im Allgemeinen nur im oberen Drittel vom hohen Schnee. Zum Lüften kippte man in jedem Wohnraum nur eines der Zimmerfenster einen Spalt breit an.
Beim Blick auf die Fenster musste Faber unwillkürlich schmunzeln, weil ihm etwas durch den Kopf ging.
Seit dem ersten Winter, den sie hier im Ural verbracht hatten, kannte man auch den »Naturkühlschrank«. Der kam ganz ohne Strom aus.
Bei Bedarf öffnete man für einen Moment einen der Fensterflügel. Dann steckte man die Getränkeflaschen zum Kühlen einfach in den Schnee. Denn der stand wie eine kompakte, senkrechte Wand vor der Fensteröffnung.
Schnell das Fenster geschlossen, – die Flaschen wurden gekühlt.
Nur blöd, wenn man es verschwitzte sie beizeiten wieder hereinzuholen. Voll des edlen aber mittlerweile gefrorenen Gerstensaftes, von »Lübzer«, »Sternburg« oder »Braustolz«, platzten sie stets zuverlässig mit einem leisen Knacken. Nur der Hochprozentige überstand diese Tortur.
Faber schritt stramm voran. Vor jeder zweiten Barackenreihe überquerte nunmehr eine hölzerne Treppenbrücke die Rohre der Heiztrasse. Nach dem dritten Übergang blieb der Sicherheitschef unvermittelt stehen.
Zuvor hatte er einige undefinierbare Geräusche gehört. Er wusste sie jedoch nicht zuzuordnen. Leise stieg er auf die Treppenbrücke hinauf, um sich von dort aus umzuschauen.
Überraschend bot sich ihm ein nicht eben seltener aber immer wieder pikanter Einblick ins pralle Trassenleben.
Das letzte Fenster dieser Wohnbaracke hatte man zur Heiztrasse hin völlig vom Schnee befreit. Oben war es aufgeklappt und innen der bunte Vorhang beiseitegeschoben. Somit bot sich Faber ein anregender Blick in eines der Zimmer. Das durch eine kleine Nachtischleuchte sanft erhellt wurde.
Auf dem quietschenden Bett war soeben einer der Kumpels mit einer Dame zugange. Deren sowjetische Herkunft eindeutig akustisch und optisch belegt werden konnte.
Der nackte Hintern des Burschen hob und senkte sich heftig. Das stöhnende Mädchen streckte die strammen Beine die in roten, knielangen Lackstiefeln steckten weit in die Höhe.
Von ihren lauten Rufen auf Russisch und ihrem lustvollen Stöhnen anfeuert, gab der Junge sichtlich alles. Zumindest das, was die vergangene harte Arbeitswoche ihm an Leistungsfähigkeit noch gelassen hatte.
Ohne den Zieleinlauf der beiden abzuwarten, stieg Faber leise von der Brücke herab, um seinen Kontrollgang fortzusetzen. Bald erreichte er die hinterste Barackenreihe, nach der sich nur noch eine weite, tief verschneite Wiese erstreckte. Die wiederum mit dem Außenzaun vom dunklen, dichten Wald getrennt wurde. Hier hatte er im vorigen Sommer einige Male einen Luchs beobachtet und ihn auch fotografiert.
Faber stieg die letzte Treppe hinauf. Er plante jetzt, entlang der Vorderseite der Baracke zum zentralen Mittelweg des Wohnlagers zu gehen.
Oben, auf dem Treppenpodest, blieb er unvermittelt stehen. Einige recht laute ihm aber unverständliche Worte waren an sein Ohr gedrungen.
Der Sicherheitschef wusste natürlich, dass der Genosse Knäbelein diese Baracke bewohnte und sich hier auch dessen Büro befand.
Für einen Moment schoss ihm das Gespräch durch den Kopf, das er erst vor wenigen Stunden mit Zernick über den DSF-Vorsitzenden geführt hatte.
Fabers Neugier war geweckt. Vorsichtig jedes verräterische Geräusch vermeidend stieg er auf der gegenüberliegenden Seite der Treppe eine Stufe abwärts.
Jetzt konnte er auch sehen, woher die lauten Stimmen kamen.
Ein weit zurückgezogener Vorhang erlaubte es ihm, in das Schlafzimmer des Genossen Knäbelein zu schauen. Das Fenster stand oben nur einen schmalen Spalt offen. Im Zimmer brannten zwei Nachttischleuchten.
Faber erblickte den Chef der DSF. Und zu seiner Verblüffung auch den Brigadier Silvio Rehnhack. Den er vorhin gegenüber Zernick ebenfalls erwähnte.
Beide Männer saßen sich vis-a-vis und führten offensichtlich einen hitzigen Disput. Wovon Faber leider nur einige dumpfe Wortfetzen zu erlauschen vermochte.
Aus eigener Erfahrung wusste er, dass er selbst von dem beleuchteten Zimmer aus nicht gesehen werden konnte. Ein kurzer Blick entlang der dunklen Barackenfenster zeigte ihm zudem, dass er hier hinten und um diese Zeit völlig allein in der Gegend herumstand. In den anderen WUDs dieser Reihe befanden sich ausschließlich Büros, in denen sich derzeit niemand mehr aufhielt.
Jetzt aber als er die Ohrenklappe seiner Schapka anhob, konnte er einzelne Wortfetzen verstehen. Sie ergaben jedoch keinen Sinn. Was sollten ihm »wir … Fehler gemacht« und »… ist eben so passiert« sowie »… ein für alle Mal«, für nachvollziehbare Zusammenhänge offenbaren?
Faber starrte die Hände tief in die Jackentaschen gerammt und mit hochgezogenen Schultern hinab ins Fenster. Nachdem drinnen nichts mehr passierte die Diskussion zu Ende schien wollte er seinen Weg fortsetzen.
Also weg von hier dachte er. Denn, als Spanner erwischt zu werden das durfte er mit Sicherheit nicht!
Was er allerdings bei seinem letzten Blick ins Zimmer sah, dass trieb ihm fast die Schamröte ins Gesicht.
Zumindest bestätigten sich damit vollauf die vagen Vermutungen. Jene, die er und Zernick am Nachmittag etwas belustigt geäußert hatten.
Knäbelein, übermäßig dick und massig, nur mit einem gestreiften Bademantel bekleidet stand plötzlich dicht vor Rehnhack. Er streckte seine wurstigen Hände nach dem breitschultrigen Mann aus und zog ihn heftig an sich heran. Beide Männer küssten sich daraufhin lange und mit sichtlicher Gier.
Faber stockte der Atem, als sich Rehnhack rasch des Pullovers entledigte und Knäbelein den Bademantel von den Schultern riss.
Nackt und rosig wie ein großes Schweinchen warf sich der schwammige Funktionär rücklings auf das Bett. Wo er sich mit den Ellenbogen auf dem Laken aufstützte. Mit weit aufgerissenen Augen und einem teuflischen Grinsen starrte er auf Rehnhack.
Der zerrte sich hastig die restlichen Klamotten herab.
Fabers Herz schien fast aus dem Takt zu geraten, obwohl er nicht sehen konnte, was der Brigadier dem Funktionär soeben präsentierte. Atemlos beobachtete er, wie sich Rehnhack, nackt, breitschultrig und knackig zwischen die gespreizten dicken Schenkel von Knäbelein auf den Boden kniete. Mit seinen Pranken griff er unter dessen weißen, mächtigen Bauch. Hastig stopfte er sich sogleich das, was ihm da anscheinend entgegen wuchs, in den Mund.
Faber stand wie gebannt. Derartiges hatte er noch nie gesehen! Doch, als Knäbelein sich unvermittelt umdrehte, aufs Bett kniete und Rehnhack den dicken Hintern entgegenreckte passierte es.
Der Sicherheitschef wurde plötzlich von einem Hustenanfall gewürgt.
So schnell es ihm möglich war stieg er von der vereisten Treppe herab und lief los. Erst zwei Eingänge weiter blieb er stehen und hustete ab.
Dass er unvermittelt eine derartige Szene präsentiert bekam, haute ihn fast um. Merkwürdigerweise ging ihm jedoch das soeben gesehene stärker ans Gemüt als der morgendliche Leichenfund!
Nachdenklich aber dennoch mit einem wachen Blick strebte Faber seiner Wohnunterkunft entgegen. Für heute hatte er wahrlich genug erlebt! Schluss, aus, Feierabend!
Baufeld Prokowski unweit des Wohnlagers (Samstagnacht)
Am Rande des Baufeldes dicht am hinteren Zaun stand ein rostiger Aufenthaltscontainer. Darin saßen sich zu später Stunde Kolja Bruhns und der Transportmeister vom Spezialtransport, Arno Schimmel, gegenüber.
Seit langen Minuten schwiegen sie. Die Stille in der eiskalten Kiste unterbrach nur das monotone Klopfen, das Bruhns mit seinem Feuerzeug auf der Tischplatte erzeugte. Zudem rauschte der Heizkörper neben der Tür.
Mehrere Umkleidespinde aus Presspanplatten reihten sich beiderseits an den Wänden. Obenauf lagen Arbeitsschutzhelme, vergessene Handschuhe, alte Zeitungen und rostiges Werkzeug.
Die Luft in diesem 40-Zoll-Container roch muffig. An der Decke und in den Ecken hingen Tropfen von Kondenswasser. Zwei Leuchtstofflampen gaben kaltes, bläulich–weißes Licht.
Draußen wo sich der Schnee am Container fast mannshoch türmte, begann nach nur wenigen Metern der Waldrand. Ein breiter mit Splitt gestreuter Trampelpfad führte vom Fahrweg her zur Tür des Containers.
Nur gelegentlich drangen gedämpfte Arbeitsgeräusche bis in diese abgelegene Ecke des Baufeldes. Grelle Lichtbögen warfen ab und zu ihr grelles Licht durch die klirrend kalte Nacht.
Wegen der Faschingsfeier im Wohnlager arbeiteten heute in der Nachtschicht nur wenige Kumpels.
Vor dem Container stand ein ARO-Diesel.
Mit dem waren Bruhns und Schimmel nach dem Abendessen gemeinsam aufs Baufeld gefahren, um sich hier auszusprechen.
Die beiden Männer starrten sich an.
Bruhns schob mit dem Finger einige Krümel von der schmutzigen Wachstuchdecke des Tisches.
Schimmel hingegen sog nervös an seiner Zigarette. Er strich sich das strähnige, ungepflegte Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel aus dem Gesicht. Unruhig kratzte er über die grauen Bartstoppeln. Plötzlich räusperte er sich. Und zum wiederholten Male musste sich Bruhns das weinerliche Gejammer seines Gegenübers anhören. »Mensch Kolja! Ich kann seit Wochen nicht mehr ruhig schlafen!«, begann Schimmel seine Litanei und starrte Bruhns dabei aus rot umrandeten Augen an. »Ich kann die Sache kaum noch wegsaufen! Und bei den Russenweibern liege ich auch nur noch ’rum wie ’n schlapper Waschlappen. Scheiße! Ich verkrafte das nicht, was wir da gemacht haben. Verdammter Mist. Immer auf dieser ewig langen Rückfahrt vom Verdichter her kommt’s mir hoch. Da geht mir die Sache durch den Kopf und ich werde vom Grübeln fast verrückt!« Mit dem Handrücken wischte er sich den Rotz von der tropfenden Nase, bevor er sie heftig hochzog. »Warum nur? Wieso musstest du mir das alles erzählen? Wenn ich es mir nur vorstelle, was mit uns passiert, sollte die Anlage irgendwann mal hochgehen. Da könnte ich kotzen! Die vielen Toten, die es geben wird. Im Verdichter und überall wo im Nachhinein die Rohrleitungen explodieren. Und was wird aus uns? Ich meine, wenn das Ding tatsächlich losgeht? Vor allem aber, wenn wir uns dabei noch hier im Lande befinden? Das kommt doch raus, wer das gemacht hat! Die Sowjets schleppen uns in den Steinbruch oder stellen uns gleich an die Wand!« Schimmel wischte sich mit dem Ärmel seiner Wattejacke die Tränen ab. Schniefend vergrub er das Gesicht in den zitternden Händen. »Ich hab’ so etwas an der ersten Trasse gesehen. Damals bei Gaisin war das!«
Bruhns hob fragend die Brauen. »Was meinst du?«
Schimmel flüsterte. Der Blick aus seinen nassen Augen huschte angstvoll umher. »Wir mussten dort die Rohrleitung verlegen und in der Nähe gab es so einen Steinbruch. Wo sie die Strafgefangenen hin gekarrt haben. Mit Ketten an den Füßen und in offenen Eisenbahnwaggons. Die zwangen sie, mit schweren Hämmern die Steine klopfen. Und ich konnte sehen, wie die getreten und geschlagen wurden! Nee danke! So was würde ich nie verkraften!«
In Bruhns’ Hirn rasten indessen zornige Gedanken. In seinen Schläfen pochte heftig das Blut. Er ballte und öffnete die Fäuste. Dann verschränkte er die muskulösen Arme vor der Brust. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, bis die roten Ohren im Webpelzkragen seiner Jacke verschwanden.
Verdammte Scheiße auch dachte er voller aufschäumender Wut. Er starrte auf den Genossen vor sich, der ihre Sache verraten wollte.
Nein! Verflucht nochmal nein! Niemals hätte es zu dieser Situation kommen dürfen, gestand er sich ein. Dabei musste ich mich einfach nur an die eisernen Regeln der Konspiration halten! Und das Geheimnis wäre für immer gewahrt geblieben!
Welcher Teufel ritt mich nur, als ich im Suff diesem Schlappsack anvertraute, was der Container in Wirklichkeit darstellt?
War ich denn völlig durchgeknallt? Oder wollte ich mich einfach nur generös zeigen. Weil mich dieses Arschloch in die Betten von ein paar dieser scharfen Russenweiber unten in der Stadt brachte?
Aber nein! Das allein konnte es nicht gewesen sein.
Vor allem meine verdammte Geschwätzigkeit, die mich im Suff gelegentlich überfällt, hat mir das eingebrockt! Er presste die Lippen zusammen und starrte aus schmalen Augen auf Schimmel.
Der heulte soeben laut auf. Tränen liefen über seine stoppeligen Wangen, der Rotz aus der Nase schlug Blasen.
Bruhns schüttelte sich voller Abscheu. Er spürte, wie ihn der Anblick des vor ihm hockenden, knochigen Mannes heftig abstieß. Auch wollte er sich jetzt dessen Gejammer nicht mehr länger anhören. Darum versuchte er, ihn noch ein letztes Mal zu beruhigen. »Mensch Arno, Genosse! Was soll das Geflenne? Schließlich musstest du als gestandener IM doch wissen, welche wichtige Aufgabe du in meiner Gruppe übernimmst. Du wusstest doch genau, worauf du dich einlässt. Oder?« Er beugte sich vor, legte die Hand auf Schimmels Schulter. »Na ja! Die wahre Bestimmung des Containers hätte ich dir nicht verraten dürfen. Auf keinen Fall! Aber wir werden sicherlich irgendwann als Helden gefeiert! Verstehste?«
Schimmel jaulte wütend auf, raufte sich geifernd die grauen Haare. »Scheiß’ doch auf Helden! Ich mach da nicht mehr mit, Kolja! Die gesamte Gruppe wir alle müssen uns stellen! Das kann man doch alles wieder ausbauen. Den Container meine ich. Oder? Das kriegen die Russen doch nicht mit! Und wir brauchen nicht erst rüber zum Verdichter fahr ’n. Es reicht doch, wenn wir morgen hier im Wohnlager alle drei zum Genossen Wollny gehen. Ja! Die Partei kann uns dabei helfen. Ja, verdammt, ja! Und dem Zernick müssen wir das auch sagen!«
Nein! Zum Teufel nein hallte es in Bruhns Kopf. Du, Arno Schimmel, bist doch nur ein beschissener IM! Keiner von uns gestandenen Kämpfern! Jetzt, wo wir hier alles zum Abschluss bringen wollen, drehte der Kerl plötzlich durch! Mein Gott! Für die IMs gibt es wahrlich nicht umsonst die Legende vom »Messcontainer«!
Für einen Augenblick hielt er die Luft an. Aber was passiert, wenn ich es nicht verhindern kann, dass Schimmel morgen das Maul aufmacht? So, wie er es anscheinend tun will?
Diesen Geheimnisverrat würden mir die Genossen in Berlin niemals nachsehen! Nie und nimmer! Denn das ist das Verabscheuenswerteste, was es im Dienst überhaupt gibt! Wenn das Vorhaben enttarnt wird, weil der Schlappsack quatscht, bin ich im Arsch! In dem Moment bin ich so gut wie tot!
Unvermittelt spürte Bruhns, wie ihn kalter Schweiß ausbrach. Erregt rieb er sich die Nasenwurzel mit seinen steifen Fingern. Ich muss handeln, schoss es ihm durch den Kopf. Dem Unheil vorbeugen! Das Vorhaben und mich retten! Und zwar sofort!
Entschlossen sprang er auf und huschte hinter Schimmels Stuhl. »Mann! Beruhige dich endlich, Arno! Es reicht!«, sagte er mit leidenschaftsloser Stimme. Er klopfte dem vor ihm Sitzenden besänftigend auf die Schulter, wobei sein Blick rasch durch den Container irrte. »Wir reden morgen drüber. Werden auf jeden Fall einen Ausweg finden, Arno! Sicher gibt es eine Lösung. Kannst du glauben!«
Schimmel nickte daraufhin mit dem Kopf. Er zog die Nase hoch und suchte unversehens in seiner Wattehose nach einem Taschentuch.
Es passierte wie fast von ganz allein. Bruhns brauchte nur die rechte Hand auszustrecken, um nach dem Hammer zu greifen. Dessen fleckiger Stiel ragte über die obere Kante eines Garderobenspindes. Die Hand schloss sich fest um das klebrige Holz.
Sein Hieb kam blitzschnell. Der Stahl knallte auf Schimmels Hinterkopf und beim zweiten Schlag hörte er das Knacken der Hirnschale.
Lautlos kippte Arno Schimmel nach vorn gegen die Tischplatte. Nur ein feines Pfeifen gab er von sich. Sonst nichts!
Bruhns hingegen stand wie erstarrt. Der Hammer fiel ihm aus der Hand. Sein Herzschlag dröhnte ähnlich einer gerissenen Glocke. Nach wenigen Augenblicken fiel die Starre jedoch von ihm ab und er atmete tief durch.
Im Container herrschte für einen Moment kalte Stille.
Bruhns’ trainierte Sinne schienen gespannt wie Klaviersaiten. Seine Bewegungen wirkten fast katzenhaft. Er huschte zum Eingang und schaltete das Licht aus. Vorsichtig öffnete er die Tür.
Eiseskälte schlug ihm entgegen. Leise trat er über die Schwelle hinaus, lauschte und schaute sich um. Niemand war zu sehen oder zu hören. Schweigen ringsum. Er zog die Tür von innen an das Schloss heran und knipste die Beleuchtung wieder an.
Zögerlich trat er hinter den stummen Transportmeister, der zusammengesunkenen auf dem Stuhl hockte. Auf dem lädierten Hinterkopf glänzte nunmehr dunkles Blut zwischen den wirren, grauen Haaren.
Bruhns atmete tief durch. Er zerrte die Kapuze von Schimmels Wattejacke über dessen Kopf und zog die Verschnürung unterm Kinn fest. Daraufhin packte er den Toten bei den Schultern, drückte ihn gegen die Stuhllehne zurück.
Dabei vermied er es, ihm ins Gesicht zu sehen. Doch mit einem hastigen Blick vergewisserte er sich, ob sich Blut auf dem Tisch oder auf dem mit Sand bestreuten Fußboden befand. Dort konnte er jedoch keines entdecken.
Unverzüglich wandte er sich den Dingen zu, die auf der klebrigen Wachstuchdecke herumlagen. Die Zigarettenschachtel und das Gasfeuerzeug des Transportmeisters nahm er an sich. Auch sein eigenes Rauchzeug steckte er ein. Mit zitternden Fingern durchsuchte er Schimmels Taschen. Visitierte ihn nach Papieren und sonstigen Gegenständen. Tastete dessen Hals nach einer Kette seine Hände nach einem Ring ab. Was er dabei fand, stopfte er in die Innentaschen seiner Wattejacke.
Nach einem letzten Kontrollblick lud er sich den unerwartet leichten wegen der dicken Kleidung aber unförmigen Körper wie einen Sack auf die Schulter. Er schleppte ihn zum Ausgang hin. Mit der freien Hand schaltete er das Licht aus und öffnete die Tür.
Er hielt kurz inne und lauschte, stapfte dann mit seiner Last zum Wagen. Dort schob er den schlaffen Körper in den Fußraum vor den Hintersitzen. Von der Sitzbank zerrte er eine dunkelbraune Wolldecke über den Toten, um ihn vor eventuellen Blicken zu verbergen. Leise drückte er die Wagentür zu und atmete auf.
Er wollte soeben in den ARO einsteigen, als es ihn glühend heiß durchzuckte. Der Hammer! Verdammt! Wie konnte er nur den Hammer liegen lassen!
Rasch holte er das blutbespritzte Werkzeug aus dem Container und warf es zu dem toten Körper ins Auto.
Fast drei Stunden hatte der ARO in der Kälte gestanden.
Er musste ihn daher lange vorglühen. Nach dem dritten Startversuch sprang der Motor endlich an.
Er schaltete nur die Begrenzungsleuchten an und fuhr langsam los. Nach dem hinteren Tor bog er auf die Baustraße ein, die durch den Wald führte. Die tagsüber viel befahrene Plattenstraße hatte man heute erst gestreut. Bruhns gebot sich, dennoch vorsichtig zu sein.
Angestrengt starrte er voraus durch die beschlagene Frontscheibe. In dem großen Waldstück begegnete ihm kein Fahrzeug.
Bald erreichte er die erste Abzweigung am anderen Waldrand. Von dort aus warf er einen Blick hinüber zum Wohnlager. Dessen Lichter konnte er über die ausgedehnte Schneefläche hinweg sofort ausmachen.
Unverzüglich bog er an der Wegegabelung nach rechts ab und fuhr wieder in den Wald hinein. Immer weiter in Richtung Stadt.
Der Eisbelag innen an der Frontscheibe war inzwischen abgetaut. Am samtschwarzen Nachthimmel stand der abnehmende Mond im letzten Viertel. Sein fahles Licht lag über dem dicht verschneiten Wald. Es bot dennoch genügend Helligkeit für eine nächtliche Fahrt.
Polternd und hüpfend überquerte der Wagen wenig später die Kuppe der sanft ansteigenden Plattenstraße.
Bruhns nahm kurz den Fuß vom Gaspedal und atmete auf. Von hier oben aus konnte er weit hinter dem Waldrand bereits die Lichter von Prokowski erblicken. Dort nach der Stadt auf dem Staudamm lag sein Ziel.