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Kapitel 2 – aufziehende Schatten

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Ein strategisch bedingtes Vorgehen

In dem Augenblick, als er auf Schimmel einschlug, hatte Bruhns in seinem Kopf eine plötzliche, rauschende Leere empfunden. Wie ein völliges Vakuum fühlte sich das an.

Doch bereits wenig später nahm er alles um sich herum fast überdeutlich wahr.

In seinem fiebrig arbeitenden Hirn entstand rasch ein Plan für eine weitere Vorgehensweise. Dabei schien es sich tatsächlich auszuzahlen, was man ihnen mal in der Ausbildung beigebracht hatte. Unerwartet auftretende Situationen sollten blitzschnell analysiert werden, um unverzüglich brauchbare Lösungswege zu finden.

Daher wusste er auch sofort, wohin er Schimmels toten Körper bringen würde. Denn er kannte einen Ort, wo man die Leiche kaum entdecken konnte. Und als ihm das einfiel, vermochte er ein gehässig klingendes Kichern nicht zu unterdrücken.

Es passierte im vergangenen Sommer. Man hatte ihn gebeten, bei einem der üblichen, organisierten Freundschaftstreffen als Dolmetscher auszuhelfen.

Bruhns willigte natürlich sofort ein. Denn Treffen solcher Art versprachen Stimmung, deftiges, russisches Essen, reichlich Wodka und Vergnügen.

Zusammen mit einigen anderen Kollegen fuhr er mit dem Bus ins »Kulturhaus der Werftarbeiter« von Prokowski.

Bei der Feier, die von vielen Trinksprüchen geprägt wurde, lernte er Sinaida Alexandrowna kennen.

Dieses Weibsstück schien nicht nur eine reife, weizenblonde und vollbusige Enddreißigerin zu sein. Sie tanzte zudem leidenschaftlich und machte ihm betörende Augen.

Genau so wie es Bruhns gern hatte und es auch brauchte.

Bald erreichte die allgemeine Stimmung das gewünschte Hoch. Von nun an konnten die meisten der Anwesenden auf einen Dolmetscher verzichten.

Da zog Bruhns spontan los. Sina fest an der Hand haltend marschierte er hinauf auf den unweit der Werft gelegenen Staudamm.

Es war fast Mitternacht und noch recht hell. Die Sonne hatte sich nur für kurze Zeit unter dem Horizont versteckt. Ein warmer Nachtwind wehte sanft über die Dammkrone.

Kaum oben auf der Straße angekommen legte Bruhns einen Arm um das Weib, woraufhin sie sich vertrauensvoll und sehr eng an ihn herandrängte.

Beim gemächlichen Schlendern vorbei an den Schleusenkammern in Richtung Wasserkraftwerk plapperte Sina ungefragt über ihr doch recht bescheidenes Leben. »Ich arbeite in der Dispatcherzentrale vom Kraftwerk«, sagte sie. »Im Komsomol war ich natürlich auch. Mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester lebe ich schon immer hier im Ural. Na ja, mein Vater hat sich vor einigen Jahren totgesoffen und deshalb – mag ich die russischen Männer nicht. Weil die Meisten an der Flasche hängen!«

Na toll dachte Bruhns gelangweilt. Auch mein Alter hat gesoffen, bis er tot umgefallen ist. Dessen ungeachtet ließ er Sina jedoch weiterplappern. Aber, als sie auf der Straße direkt über dem Kraftwerk standen, zeigte er sich plötzlich interessiert.

Er schaute einen Lkw hinterher, der auf der Dammstraße in Richtung Westen fuhr und eine Staubfahne aufwirbelte. Als der Motorenlärm verklungen war deutete er auf etwas, dass sich ein Stück entfernt von der Straße befand. »Wozu braucht man denn die runden Betonschächte? Ich meine die mit den Stahlplatten und den Verschraubungen obendrauf mein süßes Täubchen.«

Die fünf Betonzylinder auf der Dammkrone ragten jeder etwas über einen Meter in die Höhe. Und auch ihr Durchmesser schien in etwa so breit zu sein.

Sinas Augen erstrahlten, als sie Bruhns lachend und mit erhobenem Zeigefinger wie bei einer der organisierten Führungen in ihrem Kraftwerk die Erklärung gab. »Du meinst sicher die Abdeckungen über den Revisionsschächten, die nach unten zu den dicken Horizontalrohren führen? Ja. Durch die Rohre wird bei einer Überflutungsgefahr der Staumauer das Wasser vom Notablass geleitet. Die meisten der Röhren bleiben jedoch zumeist trocken da immer nur einige von ihnen geflutet werden. Und weil es dort so tief hinuntergeht, müssen die Schächte oben stets verschlossen sein! Aber gelegentlich stehen sie offen, weil man öfters die Vorhängeschlösser klaut. Doch bis jetzt ist da anscheinend noch keiner reingefallen!« Sina lachte laut auf, als ob sie einen Witz gemacht hätte. Denn auch sie hatte bereits einige Wässerchen intus.

Daraufhin betrachtete Bruhns das Fachgespräch für beendet. Er küsste das späte Mädchen unvermittelt und heftig, damit sie endlich zu plappern aufhörte. An ihrem vom Knoblauch geschwängerten Atem störte er sich nicht.

Sina erwiderte seine Küsse und rasch lagen sie ein Stück von der Straße entfernt am Abhang des Staudamms im hohen Gras.

Er stieß bei seinen stürmisch vorgetragenen Handgreiflichkeiten auf keinen Widerstand. Sina schien, wie er es erstaunt befand, ohnehin schon heiß zu sein.

Sie half ihm eigennützig beim Öffnen ihrer Bluse. Wodurch er problemlos an ihre prallen, weichen Brüste herankam. Nur als er damit begann ihren Schlüpfer unter dem Kleid herabzuziehen, zierte sie sich einen winzigen Augenblick. Doch das geschah vermutlich nur der Form halber. Denn sie streifte das rosige, wollene Teil gleich darauf selbst herunter, wobei sie ihn mit blitzenden Augen anschaute. Daraufhin bot sie ihm den heißen, feuchten Eingang zur Seligkeit zwischen ihren weit gespreizten, festen Schenkeln.

Er kniete sich dazwischen und zerrte hastig seine Hosen herab.

Wie selbstverständlich erfasste sie sein hartes Gemächt. Sie dirigierte es zu ihrer Pforte und bei jedem seiner Stöße antwortete sie mit einem Gegenstoß.

Es dauerte sehr lange, bis sie schließlich genug zu haben schien.

Einen lauten Fluch ausstoßend schrak Bruhns aus seinen schwülstigen Erinnerungen auf.

Wegen seiner Unachtsamkeit war er wohl mit einem der Vorderräder in ein Loch geknallt. Mit mehr Aufmerksamkeit starrte er jetzt voraus auf die Piste. Wenig später hatte er den Waldrand erreicht.

Die Plattenstraße endete an einem kleinen Buswendeplatz, von wo aus er entlang der dahin geduckten Holzhäuschen bis vor zur Hauptstraße fuhr. Dort bog er in Richtung Stadt ein, deren nächtliche Lichter in der Ferne klar zu erkennen waren. Nach etwa zwei Kilometer Fahrt führte die vereiste Straße in einem weiten Bogen um den Flugplatz von Prokowski herum.

Hier landeten und starteten in der schneefreien Jahreszeit fast jeden Tag zwei oder drei Propellermaschinen. Zumeist Doppeldecker. Alte AN-24.

Der gesamte Flugplatz bestand aus einer weitläufigen Wiese und dem rot-weiß angestrichenen »Tower«. Ungeachtet der bescheidenen Ausstattung beschäftigte man dort angestelltes Personal. Einen Meteorologen, einen Funker, eine Putzfrau und natürlich einen Direktor.

Bruhns erinnerte sich noch genau daran, wie er zum ersten Mal dort vorstellig wurde.

Es war im vorigen Sommer. Er dolmetschte für einen Kollegen vom KIH, der im Flughafengebäude irgendein Teil abholen musste. Das wurde mit Luftfracht von Perm hergeschickt.

Zu dieser sommerlichen Jahreszeit war der Weg zum »Tower« nur ein einziger, staubiger Sturzacker.

Bruhns konnte sich aber recht gut vorstellen, wie es hier bei Regenwetter aussah. Daher wollte er sich eine Frage an den Direktor des Flughafens auch nicht verkneifen. »Genosse Direktor! Wäre bei so wenig Flugbetrieb, der hier zu verzeichnen ist, nicht doch etwas Zeit vorhanden? Etwa, um den Weg von der Hauptstraße zum »Tower« gelegentlich ein bisschen auszubessern?«, fragte er scheinheilig den älteren Herrn.

Der, wie er verblüfft feststellte, eine ziemliche Ähnlichkeit mit dem legendären Reitergeneral Budjonny hatte. Der Direktor zerrte an den struppigen Bartenden. Nach kurzem Nachdenken antwortete er. Seine Empörung dabei schien sogar echt zu sein. »Genosse! Wir, als studierte Spezialisten für das Flugwesen, sind dafür keinesfalls zuständig!«, fertigte er den blasphemischen Deutschen ab und ließ ihn stehen.

Na ja, dachte Bruhns daraufhin. So sind sie eben, die Freunde. Darum geht’s bei denen in den kleinen Dingen auch nie so richtig voran! Nur eben was Großes, wie Staudämme oder Raumschiffe kriegen sie stets irgendwie hin! Eben alles, was größer ist als das »drei Komma zweifache« wie bei uns daheim!

Nach einem kurzen Blick über die riesige, weiße Fläche des Flugfeldes passierte Bruhns die ersten vereinzelt stehenden Häuser der Stadt. Dann bog er in Richtung Staudamm ab. Zu dieser Zeit herrschte kein Verkehr auf den von Peitschenlampen beleuchteten, vereisten und von Schneewällen gesäumten Straßen.

Nachdem er die Zufahrt zum Staudamm passiert hatte warf er einen flüchtigen Blick auf die rechter Hand gelegenen Werftanlagen. Auch im Dunklen konnte er oben vom Damm aus die vielen Schiffe erkennen, die fest vom Eis eingeschlossen vor Anker lagen.

Er starrte voraus den Damm entlang. Der erstreckte sich über eine Länge von fast vier Kilometer. Am gegenüberliegenden Ufer endete er in der Udmurtischen ASSR.

Diese Straße über den Damm war ihm gut bekannt. Sie benutzten sie auch mit den Urlauberbussen. Jede Woche, wenn sie vom Wohnlager zum Bahnhof in Ustinov fuhren. Denn dort stiegen die Urlauber in den Zug nach Moskau. Nach über zwanzig Stunden Eisenbahnfahrt stand nur noch eine einstündige Busfahrt zum Flughafen an. Und im Anschluss an dem langwierigen Prozedere der Abfertigung galt es nur noch, den zweistündigen Flug nach Berlin Schönefeld zu überstehen.

Bruhns bemerkte, dass er in Gedanken abschweifte. Er konzentrierte sich. Doch zu dieser Nachtzeit herrschte auf dem Damm kaum Verkehr. Kein Auto, kein Mensch waren zu erblicken.

Er schaute nach rechts. Dort breitete sich jetzt in der Dunkelheit die endlos wirkende, weißglitzernde Fläche des Stausees aus.

Linker Hand dagegen fiel der Hang steil ab.

Tief unten erstreckten sich die Ausläufe von Schleusenkammern und Kraftwerk. Zwei ausgedehnte Eisflächen, die sich weit entfernt zu einer vereinten.

Im Augenblick jedoch fuhr er an den beiden über dreihundert Meter langen Schleusenkammern vorbei. Ihre gähnende, schwarze Leere wirkte fast beängstigend.

In ihnen schleuste man, in der eisfreien Zeit, gewaltige Langholzflöße, riesenhafte Flussschiffe, Tragflächenboote und Schlepper. Im vorigen Jahr hatte er sich solche Schleusungen gerne angeschaut, wenn er zur »Zentralen Baustelleneinrichtung« fuhr.

Die »ZBE« wurde im Sommer Vierundachtzig als erste Baustelleneinrichtung des Standortes fertiggestellt. Nahe dem Ufer vom Auslauf des Kraftwerkes gelegen bot sie genügend Platz für ein gutes Dutzend Reparaturhallen und Lagerflächen.

Jetzt endlich war es so weit. Bruhns hatte den ersten der Betonkonussse erreicht, die aufgereiht zu fünft entlang der linken Straßenseite standen. Er wendete den Wagen, hielt auf Höhe des Schachtes an, stieg aus und ging um das Auto herum. Dann kletterte er über den fast meterhohen Schneewall, der den Straßenrand säumte.

Durch den verharschten Schnee, der ihm fast bis an den Stiefelrand reichte, stapfte zum ersten Schacht hinüber.

Dort hielt er kurz inne und grinste. Einige Dutzend Meter weiter befand sich eben jene Stelle, wo er im vorigen Sommer Sina beglückte.

Bereits im Auto hatte er sich ein Paar Arbeitshandschuhe übergezogen.

Beim ersten Blick auf den Schachtdeckel schüttelte er verwundert den Kopf. Irgendjemand hatte sich hier bedient. Das Schloss fehlte! Der runde Deckel war zwar schwer aber zum Glück nicht festgefroren. Doch es quietschte vernehmlich, als er ihn aufklappte.

Erschrocken hielt er inne und schaute sich beunruhigt um.

Doch überall dunkle Stille und Menschenleere. Nur das leise Summen des Umspannwerkes weit unten am Fuße des Staudammes entging seinen Ohren nicht.

Tiefschwarz und eisige Feuchte verströmend gähnte ihm das Loch des Schachtes entgegen.

Geleitet vom Standlicht stapfte er zum Auto zurück, zerrte den unförmigen, schlaffen Körper heraus und warf ihn sich über die Schulter. Keuchend schleppte er ihn zum Schacht, wo er ihn sofort in die Schwärze fallen ließ.

Mit einem dumpfen Knall schlug der tote Transportmeister nach einigen Sekunden tief unten auf.

Rasch holte Bruhns auch den Hammer und warf ihn hinterher. Dessen klappernder Aufschlag hallte mehrfach und laut wieder.

Daraufhin klappte er den schweren Deckel zu.

Er lief einige spiralförmige Runden um den Schacht herum und trat auch noch eine weitere Spur zur Straße hin. So könnte man vermuten, dass hier Kinder gespielt hätten.

Ohne sich weiter aufzuhalten sprang er ins Auto. In dem Augenblick, als er losfuhr, tauchte im Rückspiegel ein Scheinwerferlicht auf.

Hektisch gab er Gas, woraufhin der Wagen ausbrach. Laut fluchend wegen seiner Unbeherrschtheit konnte er ihn jedoch abfangen. Vorsichtig trat er wieder aufs Gaspedal.

Es könnte ja eine Karre von den Einheimischen sein«, murmelte er erregt vor sich hin. Aber vielleicht auch einer von uns der von unten von der ZBE kommt!

Das Risiko, dass er von dem Fahrzeug überholt und dabei eventuell erkannt wurde, konnte er auf keinen Fall eingehen. Trotzt der Kälte im Wagen schwitzte er plötzlich am gesamten Körper.

Doch wenig später, als er über die Stadtgrenze fuhr, sah er wie der Wagen hinter ihm plötzlich zum Werftgelände abbog.

Erleichtert wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn.

Unbehelligt und unerkannt kehrte er auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war. Im Wald starrte er auf die vereiste Piste, die vom wippenden Abblendlicht erhellt wurde und grübelte. Ein unbestimmtes Gefühl schwärte in ihm. Habe ich was vergessen?

Plötzlich trat er heftig auf die Bremse. Quer zur Fahrtrichtung mit den Scheinwerfern fast im Schneewall kam der Wagen zum Stehen. Er stieß die Tür auf.

Verdammt! Ist Arno Schimmel auch tatsächlich tot? Diese Frage war ihm soeben durch den Kopf geschossen.

Davon habe ich mich gar nicht vergewissert! Was mache ich jetzt? Verdammt, was soll ich tun? Noch einmal zurück fahren, um das zu überprüfen?

Heftig schüttelte er den Kopf. Nein! Das ist völlig ausgeschlossen! Tief sog er mehrmals die kalte Luft in seine Lungen und zwang sich somit langsam zur Ruhe.

Keinen Grund zur Panik dachte er! So, wie das knallte, nachdem ich ihn in den Schacht geschmissen habe, ist er spätestens beim Aufschlag gestorben.

Nein, nein und basta! Schimmel ist tot!

Nach diesem Akt der Selbstberuhigung setzte Bruhns mit dem Wagen zurück und fuhr langsam in Richtung Wohnlager.

Doch plötzlich beunruhigte ihn noch etwas ganz anderes.

Irgendwie musste das Verschwinden von Arno Schimmel erklärt werden! Weil es vielleicht jemanden gab, der sie zusammen gesehen hatte! Zudem konnte er morgen nicht vor die beiden verbliebenen Genossen seiner Gruppe hintreten und sich unvorbereitet von ihren Fragen überraschen lassen!

Diese Typen verfügten zwar über keinen Dienstgrad, sie waren nur IMs. Aber sie wussten recht viel und könnten, wenn sie Verdacht schöpften, zum Problem für ihn werden.

Plötzlich stöhnte er auf und hieb aufs Lenkrad.

So einen Quatsch aber auch dachte er. Warum mache ich eigentlich so einen Aufriss? Ich sollte den beiden Pappnasen morgen mitteilen, dass Schimmel bei unserem abendlichen Treffen einen regelrechten Zusammenbruch erlitten hat.

Ja! Und sogar von Selbstmord gefaselt habe er. Warum das? Wieso macht er so etwas, werden sie mich fragen.

»Warum? Nun ja. Gerade das hat der Genosse Schimmel mir leider nicht gesagt!«, würde er antworten. »Er sprach aber von einer Frau aus dem Territorium und von einer Schwangerschaft. Und von ihrer Familie, die einen Rochus auf ihn habe. Ja, er schien Angst zu haben. Erst spät nachts hat er sich beruhigt. Als ich ihm zugesichert hatte, dass ich am nächsten Tag mit ihm zum Parteisekretär gehe und wir dort über seine Probleme reden werden. Ja, das wollte ich!

Der Klaus Schimmel hatte aber letzte Nacht auf dem Baufeld planmäßig Transportbereitschaft. Darum musste er vor Ort bleiben. Daher bin ich, liebe Genossen, spät nachts allein ins Wohnlager zurückgefahren. Aber irgendwann scheint sich Schimmel so wie es derzeit aussieht, doch noch in der Nacht vom Baufeld abgesetzt zu haben. Stellt sich die Frage, wohin er denn hier will? Tausende Kilometer von daheim entfernt! Das wird man klären, und das müssen wir unbedingt unter Kontrolle halten, Genossen! Von Seiten der Baustelle hat man sicherlich die Miliz über das Verschwinden von unserem Arno benachrichtigt. Die werden der Sache nachgehen und die finden den Klaus Schimmel! Basta. Keine Panik. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen!«

Erneut stoppte er den Wagen und brannte sich eine Zigarette an. Langsam wurde er ruhiger, wiegte aber missmutig den Kopf. In Gedanken ging er das von ihm skizzierte Gespräch nochmals durch und befand seine Version durchaus als brauchbar. Aber vielleicht wäre es überzeugender sich kürzer zu fassen?

Der Motor tuckerte leise. Die mit Benzin betriebene Zusatzheizung blies mit einem hörbaren Fauchen lauwarme Luft ins Wageninnere.

Wieso ging bei dieser Operation eigentlich von Anfang an so vieles schief, fragte er sich.

Ganz im Gegensatz zu Gornosawinsk, wo er bis zum vergangenen Jahr alles glatt über die Bühne brachte. Wenn auch mit einer anderen Gruppe.

Er zog heftig an der Zigarette, hieb wieder wütend aufs Lenkrad.

War es nicht schon schlimm genug, dass er die Mitglieder der neuen Gruppe nicht in der Nähe vom Verdichter unterbringen konnte? In Orda, wie er es geplant hatte? Ein schier unmögliches Unterfangen zu dieser Zeit, wo dort alles drunter und drüber ging! Zumal die Genossen Delegierte bei drei verschiedenen Betrieben waren. Ihre Tarnung musste aber unbedingt aufrechterhalten werden!

Darum verlegte er die Unterbringung der Gruppe nach Prokowski. Die drei Genossen arbeiteten offiziell hier bei ihren Delegierungsbetrieben auf dem Baufeld. Wo sie auch viele der Vorarbeiten für das Unternehmen leisten konnten, ohne dass es auffiel. Zu den Montagearbeiten fuhr er mit ihnen hinüber zum Verdichter. Meist am Sonntag.

Insgesamt war es eigentlich nur eine Frage der Organisation.

Entgegen allen Hindernissen gelang ihm das zuweilen schwierige Unterfangen am Ende doch recht gut.

Und nun das, mit diesem Transportheini!

Verärgert schüttelte er den Kopf, schmiss die Kippe nach draußen in den Schnee und fuhr weiter.

Wenig später näherte er sich der Zufahrt zum Wohnlager, die von grellen Halogenstrahlern erleuchtet wurde. Der Schlagbaum neben der Lagerwache wies nach oben. Wie er beim Vorbeifahren sehen konnte, pennten beide Wächter auf ihren Stühlen. Na toll dachte er, besser geht’s ja nicht.

In der dahinter gelegenen Großküche des Versorgungsobjektes waren noch einige Fenster beleuchtet. Dampf stieg über dem Küchendach auf, es roch nach Schmorbraten. Die Nachtschicht kochte wohl fürs sonntägliche Mittagessen.

Er fuhr den ARO in der Remise auf das Heizregister. Rasch zerrte er die steife Plane vor die Einfahrt und schlich in seine WUD. Dort schälte er sich in seinem Einbettzimmer aus den Klamotten. Zudem verzichtete er darauf, sich zu waschen. Wenig später fiel er ins Bett und schlief sofort ein!

Baustelle Prokowski, Leitungsbaracke

(Rosenmontag 1986)

Wenige Minuten vor zehn Uhr betrat Theo Kappner den völlig überheizten Beratungsraum, der sich in der Baracke der Baustellenleitung befand.

Er schien einer der Letzten zu sein, fast alle Stühle waren bereits besetzt. In einer Ecke fand er noch einen Platz neben Jan Ziegenfuss dem Chef vom Wohnungsbau.

Kappner hing seine Wattejacke über die Stuhllehne und setzte sich.

»Was gibt’s den heute zum Mittag?«, fragte Ziegenfuß. Er grinste breit übers rotfleckige Gesicht und drückte seine Kippe aus.

»Lies’ doch mal den Speisenplan du Fresssack! Der hängt schließlich überall aus!«, gab Kappner zurück und schaute sich im Raum um.

Wie gewohnt waren die Leiter aller Gewerke auch an diesem Montag zum wöchentlichen Baustellenrapport angerückt. Zusammengedrängt hockten sie um den langen Beratungstisch herum. Ihre dicken Jacken hingen mangels Kleiderhaken über den Stuhllehnen. Nur noch wenige Minuten fehlten bis zum Beginn der Beratung. Im Raum schwebte aber bereits dichter Zigarettenqualm.

Als Letzter kam der stellvertretende Baustellenleiter herein gepoltert gefolgt vom Parteisekretär. Kopfschüttelnd quetschten sie sich zwischen Stuhlreihe und Wand nach vorn zur Spitze des Beratungstisches.

Gerhard Wollny der Parteisekretär schälte sich aus seiner Wattejacke und setzt sich.

Herrmann Zierwitz der stellvertretende Baustellenleiter blieb stehen. Abrupt beendete er das laute Gemurmel im Raum. Dazu hob er den mitgebrachten Aktenstapel auf Brusthöhe und ließ ihn auf die Tischplatte herab knallen.

Sofort brachen die Gespräche der Umsitzenden ab, letzte Zigaretten wurden hastig ausgedrückt.

Mit einem schmalen Lächeln schaute Zierwitz in die Runde. Die Enden seines dunkelblonden Schnurrbartes zuckten nach oben. Aus seinen hellblauen Augen fiel ein prüfender Blick auf die Anwesenden.

Der amtierende Baustellenleiter zeigte sich stets als ein großer, sportlicher und schlanker Typ. Obwohl erst Ende der Dreißig lichtete sich sein Haupthaar bereits beträchtlich. Dennoch schien dies für ihn das kleinste Übel zu sein. Zumal er auch hier in dieser Runde damit nicht der Einzige blieb.

Wie immer trug er, über dem dunkelblauen Rollkragenpullover, eine fellgefütterte, ärmellose Weste. Die Jeans hatte er wie allgemein üblich in die Stiefelschäfte gestopft.

Er setzte sich. Nach einem raschen Seitenblick auf den Parteisekretär begann er die Beratung. »Morjen, Kollegen! Der Baustellenleiter weilt wieder mal auf Dienstreise in der Heimat, also dürft ihr mit mir vorlieb nehmen.«

Ringsum wurde unterdrückt gelacht.

Auch Kappner musste grinsen. Wie fast jeder der hier Sitzenden wusste auch er eines genau. Auf die Anwesenheit des Baustellenleiters konnte man zumeist getrost verzichten. Sachverstand und die notwendigen Führungsqualitäten besaß in der Führungsetage dieser Baustelle nur einer. – Herrmann Zierwitz!

Der hob soeben die Hand. Er deutete in die Runde und sprach nach einem raschen Blick auf seine Unterlagen weiter. »Wir werden heute die üblichen Berichterstattungen nach hinten verschieben! Weil wir uns mit ein paar vorrangigen Dingen befassen müssen. Aber bevor ich die Partei zu Worte kommen lasse, erhaltet ihr zuerst einige Informationen zu zwei – recht unschönen Vorkommnissen.« Zierwitz stockte, um sich zu räuspern. »Ich gehe jedoch davon aus, dass ihr vom Buschfunk bereits ins Bild gesetzt wurdet. Damit meine ich nicht wer auf der Faschingsfeier am Sonnabend mit wem getanzt und wen an den Hintern gefasst hat. Sondern ich meine das, was hier Sonnabendmorgen und in der Nacht zum Sonntag passiert ist!« Zierwitz putzte sich rasch die dominant aus dem Gesicht ragende Nase. Dabei wendete er sich Justus Faber zu, der neben ihm auf seinem Stuhl hing und etwas gelangweilt vor sich hinstarrte. »Weil er die Untersuchungen selbst durchführen musste, informiert euch am besten der Leiter der Abteilung Arbeitsschutz und Sicherheit. Bitte, Justus!«

Faber schreckte hoch, setzte sich aufrecht und rückte umständlich die vor ihm liegenden Papiere zurecht. Hierbei räusperte er sich kurz und heftig. »Also, Genossen und Kollegen! Das, was ich euch jetzt mitteile, das solltet ihr – na ja, nur für den – Dienstgebrauch – verwenden!«, begann er etwas geschraubt. »Am vergangenen Sonnabendvormittag reinigte eine Kollegin von der Dienstleistung die WUD vom LT. Dabei fand sie in einem Zimmer die Leiche eines jungen Kollegen. Wie unsere Untersuchungen ergaben, hatte der Maschinist von RIV wenige Stunden zuvor Selbstmord begangen. Am Morgen meldete er sich bei seinem Brigadier krank. Er ging aber wohl nicht in den Medpunkt. Stattdessen hat er sich die Birne vollgekippt und daraufhin erhängt.« Faber deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Runde. »Ich sage es so deutlich, weil ihr als staatliche Leiter noch mehr auf eure Mitarbeiter Einfluss nehmen müsst. Ich meine das in Bezug auf den Alkoholmissbrauch!«

Verschiedentlich wurde in der Runde getuschelt und auch gegrient.

Zierwitz schüttelte missbilligend den Kopf und unterbrach mit einer Handbewegung Fabers Rede. Obwohl er ihm im Grunde genommen recht gab. Die ständigen Besäufnisse nahmen ohne Frage in einigen Fällen bedenkliche Ausmaße an.

Unbeeindruckt von der Unterbrechung fuhr Faber in seinen Ausführungen fort. »Am gestrigen Sonntag gab es noch ein weiteres Vorkommnis. Während der Nachtschicht zum Sonntag verschwand ein Kollege vom Transport. Den ganzen Tag über wurde von uns das Baufeld abgesucht, auch das Wohnlager. Wir informierten parallel dazu die Miliz, weil uns bekannt war, dass dieser Kollege häufige Kontakte zu einer oder zwei Frauen aus dem Territorium – pflegte. Die Miliz überprüfte das. Der Kollege konnte aber dort nicht angetroffen werden. Die Frauen gaben jedoch an, dass sie ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hätten.« Faber hustete kurz und hob mahnend den Finger. »Ich muss nochmals darauf hinweisen, Kollegen! Wenn eure Leute in ihrer Freizeit ins Territorium fahren so haben sie sich gefälligst abzumelden! Das ist zwar alles in der Wohnlagerordnung geregelt, es wird aber in der letzten Zeit ziemlich lasch gehandhabt! Da ist was eingerissen, Kollegen und Genossen!«

Nachdem sich Zierwitz bei Faber für dessen Ausführungen bedankte, erteilte er Herbert Wollny, dem Parteisekretär, das Wort.

Wollny, ein stattlicher, grauhaariger aber recht gut erhaltener Endvierziger erhob sich von seinem Stuhl. Langsam nahm die Brille von der Nase. Er klappte sie zusammen, behielt sie aber in der Hand. Dabei ließ er den Blick über die schweigende Runde schweifen, um dann seine tiefe, volle Stimme erschallen zu lassen. »Genossen und Kollegen! Ich muss mich heute nicht nur in meiner Funktion des Parteisekretärs unserer Grundorganisation, sondern auch, als Vertreter des Zentralkomitees der Partei an euch wenden!«, begann er hielt aber einen Augenblick inne, wobei er mit der Brille auf die Anwesenden deutete. »Genossen und Kollegen! Die Lage ist ernst. Das Regierungsabkommen ist in Gefahr! Die sowjetischen Genossen in Moskau haben Zweifel an unserer Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit geäußert. Die zugegebenermaßen sehr straffen Planziele sind gefährdet, wenn wir nichts dagegen tun!«

Im Kreise der Anwesenden erhob sich leises Gemurmel und Getuschel auch erstaunte Blicke konnte man sehen.

Wollny hob darauf hin, wie beschwörend die Hände. »Ja, ja! Genossen und Kollegen! Es ist so. Einigen von euch sollte sicherlich bekannt sein, dass unser planmäßiges Vorankommen am Linearen Teil im Bereich Barda und Orda gefährdet ist! Doch die Ausflüchte, die einige der verantwortlichen Genossen zur Begründung dafür geltend machten erwiesen sich allesamt als gegenstandslos!« Wollny hielt kurz in seiner Rede inne, bevor er nachlegte. »Nein, Genossen und Kollegen! Wir packen keinesfalls die Hände in den Schoß! In enger Abstimmung zwischen dem ZK und dem Generallieferanten sind bereits gravierende Maßnahmen beschlossen worden, die man mit den betreffenden Hauptauftragnehmern abgestimmt hat. Bewährte Mitarbeiter auch zusätzliche Technik befinden sich aus den anderen Bauabschnitten auf dem Wege hierher. Alles, um vor Ort die erforderliche Schlagkraft wieder herzustellen. Das bedeutet in den nächsten Wochen sicherlich spürbare Einschränkungen und zusätzliche Belastungen für uns alle. Da brauchen wir nicht drum herum zu reden, Genossen!«

Viele der Anwesenden schauten sich betroffen an. Man flüsterte miteinander. Der Rest jedoch blickte mit gleichgültiger Miene angelegentlich in die vor ihnen liegenden Notizbücher. Man schrieb etwas auf oder malte Männchen.

Wollny nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche, die vor ihm stand. Er setzte seine Brille wieder auf und fuhr fort. »Konkret bedeutet es, dass wir die Belegungen in den Wohnlagern zum Teil drastisch aufstocken müssen. Laut der Vorberechnung von der Abteilung Betreuung werden wir hier am Standort auf tausendfünfhundert und in Sosnowka beim LT auf über tausend Mann Belegung hochfahren. Das bedeutet für die Kollegen vom Linearen Teil und anderen Querschnittsgewerken eine erweiterte Zimmerbelegung von bis zu sechs Mann. Zusätzliche Wohnwagen als Alternative fallen aus. Die bekommen wir so schnell nicht auf die Standorte.« Der Parteisekretär hielt einen Moment inne, wurde dann jedoch lauter. »Jawohl! Das wird sicherlich Probleme zwischen den Kollegen geben! Wir aber können sie beherrschen, Genossen und Kollegen! Der Schichtrhythmus wird verlängert. Urlaube und freie Tage werden gestrichen. Zusätzliches Material ist zuzuführen. Also mehr als die volle Leistung auf allen Gebieten, Genossen!«

Ein lautes Gemurmel erhob sich unter den Anwesenden.

Der Oberbauleiter vom WBK beugte sich dicht an Kappners Ohr. So, dass er dessen Pitralon roch, das sich Ziegenfuss heute Morgen wohl ins Gesicht geworfen hatte. »Wenn man einen Motor mit mehr als voller Leistung fährt, da fliegt er zumeist auseinander!«, raunte »Zicke« und kniff ein Auge zu.

Kappner konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Mensch, Ziegenfuss, wo bleibt da deine Linientreue? Du, der Chef vom WBK, du zauderst?«

Wider Erwarten beruhigten sich die meisten Kollegen rasch. Viele von ihnen erhielten in den vergangenen Tagen schon Nachrichten von ihren Heimatbetrieben. Erste Vorbereitungen wurden daraufhin bereits getroffen.

Kappner war es am Sonnabend doch noch gelungen, seine Betriebsleitung in Kungur telefonisch zu erreichen. Sein Chef hatte mit ihm die Maßnahmen zur notwendigen Erhöhung des Personalbestandes besprochen. Warenbestände im Zentrallager und deren Aufstockungen bei den planmäßigen Lieferungen aus der Heimat waren ebenfalls ein Thema. Auch ein zusätzlicher Kühlverbundzug mit Küchenware aus dem Großlager von Bogorodschany in der Ukraine wurde in Erwägung gezogen.

Jetzt schien es angeblich ernst zu werden und alle mussten die nächste Zeit schlicht und ergreifend die Arschbacken zusammenkneifen.

»Ich hab’ da mal ’ne Frage!«, tönte Ziegenfuß plötzlich schrill in die leise geführten Diskussionen hinein und wedelte mit der Hand.

Zierwitz hob den Kopf. »Lass’ hören, Jan!«

Der Oberbauleiter räusperte sich. »Betrifft das auch uns vom Wohnungsbau? Ich meine diese Mehrfachbelegung? Wir sind nämlich mit über dreihundert Mann in der Zwischenbelegung bereits ausgelastet!«

Kappner horchte auf. Die Frage von Ziegenfuß schien berechtigt. Sie beunruhigte aber auch ihn, da sie die Belange der Versorgung betraf.

Die Mitarbeiter vom Wohnungsbau und auch viele vom Transport wohnten nämlich nicht hier im Wohnlager im Walde, sondern in der sogenannten Zwischenbelegung.

In einem der bereits fertiggestellten, großen Wohnblocks in der Stadt, in denen später die sowjetischen Betreiber mit ihren Familien leben würden. Dort hatte man fast alle Wohnungen als Unterkünfte hergerichtet. Und diese waren voll belegt.

Dort unten beim Wohnungsbau ging daher im letzten Spätherbst die größte Außenstelle der Versorgung in Betrieb. Als Ersatz für das anfängliche Provisorium, dass sich in einer viel zu kleinen Varianthalle befunden hatte.

Wenn man jetzt, in der Zwischenbelegung, auch noch Leute vom LT einquartierte, konnte es eng werden. Er, als Chef der Versorgung würde eine kurzfristige Steigerung der Küchenkapazität beim Wohnungsbau absichern müssen.

Die Antwort von Zierwitz, auf die Frage von Ziegenfuß, beruhigte ihn jedoch umgehend. »Das betrifft euch natürlich – nicht, Jan!«, entgegnete Zierwitz und ließ ein breites Grinsen sehen. »Die Aufstockung wird beim LT in Sosnowka und hier bei uns im Wohnlager erfolgen. Zudem wären die Anfahrzeiten raus an die Linie von unten aus der Stadt viel zu lang. Es gibt in dieser Beziehung schon genug Druck wegen der Leute von RIV, die angeblich immer noch unbedingt hier bei uns im Wohnlager campieren müssen.«

Bevor mit dem Tagesordnungspunkt »Planerfüllung« begonnen wurde verließ Kappner den Baustellenrapport. Diese Zahlenakrobatik musste er sich nicht antun. Und überhaupt hatte er jetzt Wichtigeres zu tun! Zudem war es im Beratungsraum unerträglich stickig geworden.

Vor der Tür der Verwaltungsbaracke blieb er einen Augenblick stehen. Er atmete mehrmals tief durch und kniff die Augen zusammen. Die tief stehende Sonne blendete ihn mit ihren gleißenden Strahlen.

Nachdenken über dieses und jenes

Kappner betrat das Versorgungsobjekt vom Haupteingang aus und blieb überrascht im vorderen Speisesaal stehen.

Denn er sah, dass der Kulturnik auf einer großen Tafel bereits die Fotos von der Faschingsfeier angepinnt hatte. Auf einer Liste, die daneben hing, konnte jeder Interessierte seine Bestellungen eintragen.

Mit einem gelegentlichen Lachen schaute sich Kappner die vielen Bilder an. Letztlich blieb sein Blick auf zwei Fotos haften, die am Rande der Tafel klebten.

Auch unter denen war neben einer Nummer ein schriftlicher Vermerk angeheftet. »Vorbereitende Sitzung des Elferrates am siebten Februar«.

Die Bilder zeigten, inmitten der anderen Mitglieder des Elferrates, auch den lachenden Marco Bauerfeind. Eben diesen Marco, der sich am Morgen nachdem dieses Foto gemacht wurde erhängte!

Kappner musterte die Abzüge jetzt genauer.

Die meisten Mitglieder kannte er. Zumindest vom Ansehen her. Doch hinter Marco stand Urs Knäbelein, der DSF-Chef. Breit grinsend schaute er in die Kamera seine Hand auf die Schulter des Jungen gelegt.

Kappner stutzte. Anscheinend hatte Knäbelein wie im letzten Jahr auch schon seine Wurstfinger in die Vorbereitungen der Faschingsfeier gesteckt. Das nahm man auf der Baustelle als gegeben hin. Ebenso wie sein künstlerisches Engagement bei Veranstaltungen jeder Art.

Doch das dieser Marco ebenfalls im Elferrat mitwirkte, das hatte sich Kappners Kenntnis bisher entzogen.

Nachdenklich geworden ging er nach hinten in die Küche. Dort wollte er jetzt die noch Vorbereitungen für das heutige Mittagessen kontrollieren. Das tat er gern, weil Lisa für ihren abgeleisteten Sonntagsdienst heute einen freien Tag genommen hatte. Aber auch, da es ihn gelegentlich mal an die »Küchenfront« drängte.

Daher zog sich er sich im Küchenleiterbüro einen weißen Kittel über und ging nach vorn zur Ausgabereihe. Dort verkostete er alle Komponenten für die beiden Wahlessen und befand sie für »Gut«.

Nur eine Bratensauce zu entfetten hatte einer der Köche vergessen. Das erfolgte auf seinen Hinweis hin sofort.

Daraufhin gab er das heutige Mittagessen zur Ausgabe frei. »Alles in Ordnung, Männer! An die Gewehre!«, rief er seinen Leuten zu und klopfte dem rotbärtigen Schichtkoch anerkennend auf die Schulter.

Kappner lief nach hinten ins Küchenleiterbüro und setzte sich auf Lisas Stuhl. Von da aus konnte er durch die fast wandbreite Glasscheibe hindurch den gesamten Ausgabebereich überschauen.

Dort drängten sich bereits die ersten Essenteilnehmer in einer langen Reihe vor dem Tresen.

Er brannte sich eine Zigarette an, pustete den Rauch nach oben zur Ablufthutze und lehnte sich mit dem Stuhl gegen die Wand zurück.

Nicht oft bot sich ihm die Gelegenheit, um seine Köche bei der Arbeit zu beobachten. Wobei er nicht nur schaute, sondern gelegentlich auch korrigierend eingriff.

Doch jedes Mal wieder erinnerte ihn das an die eigene Lehrausbildung. Und auch an die Jahre danach die er als Koch arbeitete.

Wie doch die Zeit verfliegt, sinnierte er und stieß die Asche der »Club« in einen Aschbecher.

Ist es wahrhaftig über zwanzig Jahre her, dass ich erstmalig mein Schweißtuch in dieser Großgaststätte in der Elbmetropole umbinden durfte? In dieser immens großen Küche in einem Kellergeschoss am Altmarkt?

Denn dort begann ja meine Ausbildung. Und im zweiten Lehrjahr entdeckte ich in der ersten »Nationalitätengaststätte« der Stadt meine Liebe für die ungarische Küche. Im »Szeged«.

Das dritte Jahr schuftete ich in dem alten angeblich – renommierten–Hotel. Das erhob sich dicht neben der gewaltigen blau gestrichenen Stahl-Hängebrücke. Die dort weithin sichtbar die Elbe überspannte.

Im Sommer legten die qualmenden Raddampfer vor dem Biergarten am Ufer an. Hunderte Gäste gingen von Bord und strömten herein. Sie belegten auch die Stühle im Wintergarten, dem kleinen und dem großen Saal.

Und uns in Küche und Service stand der Arsch in Flammen! Aber in dieser Hotelküche lernte ich am meisten, verbrachte dort die beste Zeit meiner Lehre. Und das nicht nur, weil wir öfters nach dem Ende der Spätschicht im wenige Meter entfernten »Körnergarten« einkehrten. Um gemeinsam mit den Kellnern unser Schichtbier zu trinken.

Kappner schaute noch einen Moment konzentriert nach vorn zur Ausgabereihe. Die lange Schlange war inzwischen sichtlich kürzer geworden. Es ging flott, der Schichtleiter hatte alles im Griff.

Kappner drückte die Kippe im Ascher aus und gab sich noch ein bisschen seinen Erinnerungen hin.

Nach drei Jahren bekam ich meinen Facharbeiterbrief.

Doch statt in dem von mir erstrebten Hotelrestaurant eine Anstellung zu erhalten, kam es ganz anders.

Vorerst durfte ich für achtzehn Monate bei der NVA in größeren Kesseln und Pfannen kochen.

Um anschließend, in einigen feinen Küchen der Republik, den Kochlöffel wiederum in kleineren Töpfen zu schwingen.

Kappner musste unwillkürlich schmunzeln, als er sich endgültig in der Realität zurückfand. Er hängte den Kittel an den Haken und verließ den Raum, um eine Runde durchs ganze Versorgungsobjekt zu gehen.

Eine Bürounterkunft im Wohnlager (am Rosenmontag 1986)

Am Abend kamen die Mitglieder der Gruppe zusammen.

Das hatten sie in der Vorwoche so vereinbart, weil der Abschlussbericht zum Projekt »BFC« verfasst werden musste.

Diesen Bericht würde Kolja Bruhns am Donnerstag bei seiner Dienstreise mit nach Berlin nehmen.

Bevor sie mit der Zusammenkunft begannen, kontrollierten sie die gesamte Baracke und deren äußeres Umfeld. Keine unbefugten Ohren und Augen sollten dieses im höchsten Maße konspirative Treffen belauschen können.

Ursprünglich bestand die Gruppe aus vier Mitgliedern.

Geführt wurde sie von Bruhns als OibE. Die anderen drei Genossen nahm man aufgrund ihrer Verpflichtungen als IM und wegen ihren fachlichen Voraussetzungen in die Gruppe auf. Ende Vierundachtzig hatte Bruhns in Berlin ihre Akten eingesehen. Daraufhin prüfte er die Kandidaten auf zwei verschiedenen Baustellen.

Als auf dem Verdichterbaufeld bei Orda der entsprechende Baufortschritt erkennbar wurde, übernahm er sie in die Gruppe.

Johannes Brade vom Industriebau Halle zeichnete von da an verantwortlich für die bauseitigen Montagen.

Für die gesamte Elektrik und Elektronik war Bernd Kaulbach von SALH zuständig.

Arno Schimmel hingegen sicherte die notwendigen Transporte und Kraneinsätze ab.

Leider fehlte er auch beim heutigen Termin.

Johannes Brade indes hatte bereits auf dem morgendlichen Baustellenrapport von Schimmels Verschwinden gehört.

Kaulbach jedoch wusste davon noch nichts, da er von seiner betrieblichen Funktion her nicht zu den Teilnehmern der Rapporte zählte. »Wieso warten wir nicht auf Arno? Sollten wir nicht vollzählig sein, Kolja?«, fragte er überrascht.

Jetzt war für Bruhns der mit Bangen erwartete Augenblick gekommen. Die Hände rammte er tief in die Taschen seiner Jeans. Mit zusammengepressten Brauen und zu schmalen Schlitzen verengten Augen baute er sich breitbeinig vor Kaulbach und Brade auf.

Nachdem er beide eindringlich gemustert hatte, brachte er die Fabel von Arno Schimmels Nervenzusammenbruch zu Vortrag die von ihm letzte Nacht erdacht wurde. Dessen ständige Frauengeschichten und eine damit in Zusammenhang gebrachte Schwangerschaft erwähnte er ebenfalls. Wobei er bedeutsame Blicke warf und mehrmals wissend mit dem Kopf nickte.

Brade und Kaulbach waren beide schier fassungslos. Sie glaubten jedoch uneingeschränkt den Darlegungen ihres Gruppenleiters

»Ehrlich gesagt hätten wir uns um den Genossen Schimmel intensiver kümmern müssen«, sinnierte Bruhns laut vor sich hin. »Nun ja. Sobald er wieder auftaucht, werden wir das auch tun!« Er kratzte sich am Kopf und verschränkte dann die Arme vor der Brust. »Denn alles wird sich bestimmt bald aufklären. Schließlich sucht auch die Miliz nach unserem Klaus.« Er deutete auf seine beiden Mitstreiter und hob die Stimme. »Aber dessen ungeachtet, Genossen!. Die Konspiration zum Projekt muss auf jeden Fall gesichert bleiben!« Sie nickten zustimmend, woraufhin er noch etwas anfügte. »Weil der Schimmel verschwunden ist, werden wir als Gruppe vorerst nichts unternehmen!« Er stieß ein kurzes, schrilles Lachen aus. »Eigentlich kein Problem, weil wir uns nach der heutigen Zusammenkunft ohnehin auflösen!« Daraufhin wurden seine Züge wieder fast ausdruckslos. »Daher, Genossen, sollten wir uns jetzt dem ursprünglichen Anlass zuwenden. Dem Abschlussbericht für das Ministerium in Berlin.« Rasch legte er Bade und Kaulbach jeweils ein Exemplar des von ihm erstellten Berichtsentwurfes vor.

Beide schauten das Papier flüchtig durch. Wie nicht anders von Bruhns erwartete, stimmten sie sofort dem Inhalt zu.

Was hätten sie auch sonst formulieren sollen? Schließlich stand ihr Gruppenleiter am besten in der Materie, trug stets den Hut für alles.

Letztlich war es Brade, der einen sachlichen Fehler im Bericht entdeckt zu haben glaubte. »Entschuldige bitte, Kolja! Du schreibst hier von einer Sollbruchstelle. Wir mussten aber eine komplette Sollbruch –Wand setzen. Sonst hätten wir ja Probleme beim Einbau bekommen. Sollten wir das nicht verbessern?«

Bruhns stöhnte auf und verdrehte die Augen. Verdammter Krümelkacker dachte er. Dann jedoch bekundete er seine Zustimmung mit einem Nicken und setzte sich an einen Schreibtisch.

Auf dem stand einer der wenigen »PC 1715«, die es auf der Baustelle bisher überhaupt gab.

Indem sie Bruhns über die Schulter schauten, zeigten Bade und Kaulbach bereits angemessene Bewunderung. Wie ihr Gruppenleiter die Berichtsdatei am Rechner aufrief und mittels der Textverarbeitung den Fehler rasch korrigierte, dass beeindruckte sie ungemein.

»Ich kenn’ bloß –Tipp-Ex«, murmelte Brade und ein gewisses Bedauern schwang in seiner Stimme mit.

Bruhns bemerkte natürlich die Reaktion der beiden Genossen. Er lehnte sich zurück und deutete auf den Computer. »Viel zu wenige Leute die Verantwortung ausüben müssen, meine ich, können bisher überhaupt mit einem solchen Rechner umgehen!« Das klang recht generös und er schüttelte dabei mit gespielter Entrüstung den Kopf. »Die meisten die damit arbeiten sollten, wurden noch gar nicht hieran ausgebildet. Das liegt aber vor allem daran, dass bis jetzt viel zu wenig Rechner in den Betrieben stehen. Doch das soll sich ja bald ändern. Das zumindest haben schließlich die Genossen im ZK verkündet!«, ergänzte er mit einem gewissen Stolz in der Stimme.

Als der Nadeldrucker sein nerviges Gezirpe beendet hatte, schaute er den Bericht noch einmal durch. Anschließend nahm er die großformatige Diskette aus dem Laufwerk und kontrollierte zusätzlich den Speicher. Damit das geheime Dokument nicht doch nochmals vorhanden war. Mit seiner Überprüfung schien er zufrieden, fuhr den Rechner daraufhin herunter.

Inzwischen hatten Kaulbach und Brade die verworfenen Textseiten auf Bruhns Anweisung hin in kleine Fetzchen zerrissen.

Diese ließ er in seiner Hosentasche verschwinden. Das Protokoll steckte er in einen Briefumschlag, verschloss ihn mit viel Spucke, siegelte ihn und drückte noch einen Stempel darauf. Das solcherart zusätzlich mit dem Schriftzug »Kurierpost« vorbereitete Kuvert verstaute er in seiner Jacke. »Danke, Genossen!«, tönte er schließlich mit einem fast feierlichen Pathos. »Damit ist unser Kampfauftrag erfüllt. Ich danke euch! Am Donnerstag fliege ich nach Berlin und werde eure Leistungen im Ministerium natürlich ins rechte Licht rücken!« Er schüttelte Brade und Kaulbach die Hand, wobei er tief im Inneren sogar ein gewisses Hochgefühl verspürte.

Beim Verlassen des Raumes löschten sie die Beleuchtung, Bruhns verschloss die Tür. Sie polterten den Gang zum Ausgang hin und schalteten auch dort das Deckenlicht aus. Daraufhin traten sie hinaus auf den vereisten Weg und schlossen die Außentür ab.

In der dunklen Baracke herrschte Stille.

Stille?

Nein, nicht ganz! In der hinteren Kabine der Herrentoilette stieß jemand den angehaltenen Atem aus.

Der Lauscher an der Wand – dachte Justus Faber und öffnete leise die Tür der Toilettenkabine.

Gegenüber oberhalb der Pissbecken hatte er die vergangene halbe Stunde sein Ohr gegen die Wand gepresst. Um den Gesprächen im dahinter liegenden Büroraum zu lauschen, hielt er tapfer in dieser verqueren Haltung aus.

Kurz zuvor bekam er fast einen Herzkasper.

Als einer von den Dreien offenbar zur Kontrolle überraschend die Tür vom Toilettenraum vom Gang her aufriss. Aber glücklicherweise warf er sie gleich wieder zu, ohne in den Kabinen nachzuschauen.

Fabers Atem hatte sich längst beruhigt. Ein wenig Licht von der Außenbeleuchtung fiel durch das weiß gestrichene Fenster herein. Kümmerlich erhellte es den Toilettenraum, den er nun verließ.

Vorsichtig, um nirgendwo anzustoßen, tastete er sich durch den dunklen Flur entlang zur Ausgangstür. Er öffnete das Schloss mit einem Generalschlüssel und trat aus der Baracke heraus. Kälte schlug ihm entgegen. Aufmerksam schaute sich um.

Eine grimmige Genugtuung stieg in ihm auf und mit einem gewissen Hochgefühl marschierte er zu den Wohnunterkünften, die von den Mitarbeitern des Generallieferanten belegt waren.

Auf seinem Zimmer angelangt, hing er die Jacke am Schrank auf und die Schapka auf den Haken.

Daraufhin zog er umgehend ein Resümee aus dem soeben Erlebten. Jedoch erst, nachdem er sich einen großen Wodka und eine Zigarette genehmigt hatte.

Bereits dreimal in den vergangenen Monaten hatte er die vier Heimlichtuer schon beobachtete. Und zwar immer, wenn sie zu später Stunde in der Bürobaracke der Baustellenleitung verschwanden. Das ergab sich zufällig, da er stets um diese Zeit seine abendliche Kontrollrunde lief.

Er hätte kaum Anstoß genommen, wenn zu dieser Zeit vier Mitarbeiter des Generallieferanten in diese Bürobaracke gegangen wären. Doch von den Vieren arbeitete nur einer beim GL. Nämlich Bruhns.

Die anderen waren bei verschiedenen anderen Betrieben und Gewerken beschäftigt. Und das eben machte ihn als Sicherheitschef stutzig!

Was trieben die Burschen dort? In dieser Baracke und nach Feierabend? Im Wohnlager gab es doch genügend Räume für Kollegen, die einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung nachgehen wollten.

Er hätte auch einen von den Vieren fragen können. Eine gewisse Vermutung hielt ihn jedoch davon ab. Daher postierte er sich am vergangenen und am heutigen Montagabend in eben dieser Baracke. Denn jetzt musste er der Sache endgültig auf den Grund gehen!

In der vorigen Woche konnte er nach einer knappen Stunde unverrichteter Dinge wieder abziehen.

Doch heute fühlte sich Faber wie ein kleiner Lottogewinner.

Volltreffer!

Aber was hatte das von ihm belauschte Gespräch an Erkenntnissen gebracht?

Zum einen verstand sich das Quartett als eine »Gruppe«. Das hörte er ganz deutlich. Deren Zweck schien die gemeinsame Arbeit an einer bestimmten Aufgabe zu sein. Und wie Bruhns vorhin faselte erfüllten sie dabei einen »Kampfauftrag«.

Ihre Wortwahl jedoch ließ in Faber einen unguten Verdacht aufkommen.

War die Gruppe etwa Teil einer speziellen Organisation?

Kampfgruppe und NVA schieden wohl aus. Die gab es hier fernab der Heimat nicht.

Da blieb nur noch die Firma übrig!

So weit, so gut, grübelte Faber. Diese Typen agierten also im Auftrag der Staatssicherheit! Aber was für eine Aufgabe hatten die Vier ausgeführt? Der Stimme nach war es dieser Brade, der von einer »Sollbruchwand« faselte.

Sollbruchwände oder auch Sollbruchstellen diese Begriffe waren Faber natürlich geläufig. Man brachte sie in massive Wände ein, um sie im Notfall beispielsweise bei einem Brand als Fluchtweg durchbrechen zu können.

Der Leiter für Sicherheit füllte sein leeres Glas. Er trank einen Schluck und brannte sich eine weitere »Cabinet« an. Nachdenklich schob er einige Tabakkrümel, die aus der Zigarettenpackung heraus gefallenen waren mit dem kleinen Finger auf der Tischdecke zusammen.

Nein! Dass alles ergab für ihn keinen Sinn! In den Objekten auf dem Industriebaufeld und bei den Verdichterhallen wurden eine Vielzahl Sollbruchstellen eingebracht.

Das erforderten schon die gesetzlichen Bestimmungen! Für Bauwerke, in denen Brände ausbrechen konnten, waren solche Baumaßnahmen sogar vorgeschrieben.

Wozu also diese Geheimniskrämerei? Und um was handelte es sich bei diesem »Einbau«, von dem sie sprachen?

Faber schüttelte den Kopf und grinste. Denn zumindest wohin das erstellte Protokoll gebracht werden sollte, war offenkundig!

Was sagte Bruhns? – »Ministerium«! So, wie er von seiner Seite aus das Verhalten des Quartetts beurteilen konnte roch das alles nach Konspiration.

Nun ja. Für Faber war diese Materie nicht fremd.

Schließlich kannte er einige dieser Spielregeln. Die zwölf Jahre als Berufsunteroffizier die er im »Wachregiment« mit besonderen Aufgaben abgeleistet hatte, brachten auch auf diesem Gebiet einschlägige Erfahrungen mit sich.

Was aber war hier und seit wann vor sich gegangen? Heimlich und im Verborgenen!

Das von ihm belauschte Quartett schien auf zwei Ebenen zu arbeiten. Zum einen gingen sie offiziell ihrer eigentlichen Tätigkeit für ihren Delegierungsbetrieb nach. Dabei fielen sie in der Menge der Mitarbeiter nicht weiter auf.

Zum anderen aber taten sie etwas, das nicht für jedermanns Augen bestimmt war. Vermutlich arbeiteten sie im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit.

Dazu hatten sie heute einen Abschlussbericht erstellt. Bruhns würde diese Unterlagen am nächsten Donnerstag ins Ministerium nach Berlin mitnehmen. OK. Die ganze Sache schien wohl gegessen zu sein!

Eines beschäftigte Faber aber dennoch. Es schürte sein Misstrauen.

Hatte das Verschwinden von Arno Schimmel etwas mit deren Auftrag zu tun? Diese Vermutung tauchte soeben in ihm auf. Auch, weil ihm die Aussage von Bruhns gegenüber den beiden anderen viel zu glatt geklungen hatte. Ging man so damit um, wenn ein bisher eng verbundener Genosse plötzlich sang und klanglos verschwand?

Faber überlegte noch ein Weilchen und beschloss die Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Doch wegen seiner Vermutungen würde er den Genossen Kolja Bruhns in Zukunft im Auge behalten!

Michael (Kolja) Bruhns - ein Leben für die Sache

An einem grauen, verregneten Tag im Mai Vierundfünfzig wurde Michael Bruhns geboren. Als drittes Kind seiner Mutter Johanna.

Sie flüchtete neun Jahre zuvor zusammen mit ihren beiden kleinen Töchtern durch die Kriegswirren aus Ostpreußen.

Immer weiter gen Westen fuhr ihr Treck. Ständig hatten sie die sowjetischen Truppen im Nacken. Vater Bruhns befand sich damals an einer der Fronten des zu Ende gehenden Krieges.

In der zerstörten Stadt Magdeburg verließ Mutter Bruhns mit den Zwillingen spontan die Kolonne, kurz bevor sie die Elbe erreichten.

Denn Johanna Bruhns roch den Duft von frischgebackenem Brot. Der aus der Toreinfahrt eines stark beschädigten Hauses auf die Straße hinaus wehte.

Als Michael geboren wurde, lebte die Familie Bruhns in eben jenem bereits wieder aufgebauten Wohnhaus in der Dessauer Straße.

Vater Anton kehrte erst im Jahre Siebenundvierzig aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heim. Ausgezehrt stand er mit einem Zettel vom Suchdienst in der Hand und in notdürftig geflickter Kleidung vor der Tür.

Es dauerte eine Weile, bis er sich von den Strapazen der Gefangenschaft erholt hatte. Dann endlich zeigte er sich wieder als der breitschultrige, etwas ungeschlachte Mann wie seine Frau ihn kannte. In seinem Beruf, als Schmied, arbeitete er fortan im Maschinenbaubetrieb in der Stadt.

Den hatte man zuerst für die Reparationen an die sowjetischen Sieger ausschlachtete und danach aus den Resten neu aufgebaut.

Seine etwas schlichte Art überdeckte Anton mit Gutmütigkeit, Fleiß und Zuverlässigkeit. Für seine Familie tat er alles.

Und Arbeit, wenn auch schlecht bezahlt, gab es im Überfluss. Michaels Mutter indes arbeitete in einem Konsumgeschäft. Das befand sich gleich um die Ecke.

Johanna war nunmehr eine große, gutaussehende Frau mit ansprechender Figur. Vollbusig, blond und langbeinig. Doch das verhüllte sie zum Großteil mit dem weißen Berufskittel und einer langen Schürze. Das schützte sie ein wenig vor den gierigen Blicken ihrer männlichen aber auch einiger weiblichen Kunden.

Die Zeit raste dahin.

Michaels große Schwestern gingen schon in die Achte Klasse. Er besuchte wie fast alle Kinder in seiner Straße jeden Tag den Kindergarten.

Im September des Jahres Sechzig kam er in die Schule. Wie die anderen Kinder auch schleppte er eine große Zuckertüte. Deren Inhalt bestand jedoch weniger aus Süßigkeiten, sondern aus praktischen Dingen und einigen Äpfeln.

Michael wuchs gemeinsam mit seinen Schwestern auf. Sie kümmerten sich viel um den »Kleinen«, da die Eltern beide arbeiteten.

Vater Bruhns war inzwischen Schichtarbeiter und fand wenig Zeit für die Kinder.

Die Mutter ging völlig für ihren KONSUM-Laden auf. Als man ihr die Möglichkeit bot sich mit Hilfe eines neu eingeführten Frauen–Sonderstudiums zu qualifizieren überwand sie ihre anfänglichen Hemmungen.

Sie setzte sich für vier Jahre nochmals auf eine Schulbank.

Mit Erfolg!

Da ging Michael bereits in die vierte Klasse und seine schulischen Leistungen gaben wenig Anlass zum Tadel. Er begriff rasch und lernte stets aus einem inneren Antrieb heraus.

Seine Schwestern hatten zu dieser Zeit ihre Berufsausbildungen bereits abgeschlossen. Eine der beiden trug schon einen Verlobungsring.

Zu eben dieser Zeit kam Leo, ein Junge aus Michaels Klasse, auf eine etwas ungewöhnliche Idee.

»Michi! Michael horch’ mal zu!«, sagte er eines Tages in der Hofpause. »Wollen wir nicht am Nachmittag die Sowjetsoldaten besuchen? Draußen vor der Stadt? Ich meine nur mal zum Gucken, was die so machen?«

Von diesen Soldaten in den braunen Uniformen lebten zu dieser Zeit einige Tausende am Stadtrand. Denn dort befand sich ein riesiges Kasernenareal.

Michael dachte über den Vorschlag nicht lange nach. »Geht in Ordnung, machen wir«, sagte er und noch am gleichen Nachmittag zog er mit seinem Klassenkameraden los.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten, sie wurden zumeist mit Tritten davongejagt, lernten die Jungs einen der russischen Soldaten kennen.

Er hieß Igor und war ein Sergeant. Igor, groß und stark wie ein Bär trug einen buschigen Schnauzbart und roch nach Tabak. Er lachte viel und sang für die Jungen auch gern und oft russische Lieder. Wobei er sich auf einem kleinen Akkordeon begleitete.

Anfangs geriet die Verständigung zwischen ihnen recht schwierig. Doch Michael erlernte schnell die ersten russischen Worte. Den Klang der für ihn bisher unbekannten Sprache sog er förmlich in sich auf.

Leo hingegen, Michaels Klassenkamerad, hatte große Schwierigkeiten damit. Bald fühlte er sich ausgeschlossen und schließlich ging er zu den Treffen mit dem Sergeanten nicht mehr mit.

Michael hing auch weiterhin unbeirrt an Igors Lippen und erlernte rasch Wort um Wort. Doch als er daheim davon erzählte brachte es ihm von seinem Vater unvermutet eine heftige Tracht Prügel ein.

Der Junge verstand die Welt nicht mehr. Zumal der Vater bis auf eine gelegentliche Ohrfeige die Kinder niemals schlug.

Erst viele Jahre später erfuhr der Junge von seiner Mutter den Grund dafür. Sie selbst hatte Fürchterliches auf ihrer Flucht aus Ostpreußen und der Vater besonders in der Gefangenschaft Schlimmes von Seiten der Russen ertragen müssen.

Das wiederum verwirrte den Jungen sehr.

Schließlich hörte er in der Schule ständig, wie heldenhaft »unsere sowjetischen Freunde« den Faschismus besiegten und damit das deutsche Volk befreit hatten. Dafür sollte man sie doch für ewig verehren!

Der Junge verdrängte den unerwartet entstandenen Zwiespalt. Wohl auch bedingt durch den warmherzigen Einfluss den Igor auf ihn ausübte. Auch zeigten bei Michael die Schläge seines Vaters nicht die beabsichtigte Wirkung. Er traf sich weiterhin mit dem Sergeanten.

Innerhalb eines Jahres erweiterte Michael seinen russischen Sprachschatz erheblich. Wegen ihrer immer flüssiger geführten Gespräche konnte er sogar auf Russisch fluchen!

Eines Tages im Frühsommer kam Igor plötzlich nicht mehr zu ihrem Treffpunkt. Er tauchte dort auch nicht noch einmal auf.

Michael fragte andere Soldaten am Kasernentor nach dem verschwundenen Sergeanten Igor. Entweder schüttelten diese nur den Kopf und gingen weiter oder sie verjagten ihn mit Fußtritten. Daraufhin ließ der Junge die Suche schließlich ganz bleiben und ging nicht mehr zur Kaserne hinaus.

Michael wurde in die fünfte Klasse versetzt und ein neues Schulfach stand auf dem Lehrplan. Die russische Sprache.

Dieses Fach erlangte zur Verwunderung des Jungen bei den meisten Schülern keine besondere Beliebtheit.

Anders bei ihm. Er blühte im Unterricht regelrecht auf und schon in den ersten Russischstunden wurde die Lehrerin auf ihn aufmerksam. Überrascht befand sie, dass sein russischer Sprachschatz und seine Aussprache für einen Fünftklässler mehr als bemerkenswert wären. Zu ihrem höchsten Entzücken konnte sie sich mit Michael fließend auf Russisch unterhalten.

»Michael, mein Junge! Woher kennst du denn die russische Sprache so gut?«, fragte sie ihn mit leuchtenden Augen.

Da erzählte er der Lehrerin und auch dem erstaunt lauschenden Direktor, den man eiligst herbeigerufen hatte, den Grund dafür. Auf Russisch berichtete er von seinem Sprachlehrer Igor dem sowjetischen Sergeanten. »Er sprach anfangs ganz langsam mit mir. Auch die Hände haben wir genommen. Und er hat viel mit mir gesungen«, erklärte der Junge bereitwillig.

Einen Monat später, nachdem seine Eltern widerstrebend doch noch ihr Einverständnis gegeben hatten, versetzte man ihn ausnahmsweise in eine so genannte »Russisch-Schule«.

Diese Sonderschule besuchte Michael bis zur zehnten Klasse.

In der Siebenten verpassten ihm seine Mitschüler den Spitznamen »Kolja«. Der bezog sich auf seine auch für diese Schule überragenden Sprachkenntnisse. Was den Jungen wiederum mit sichtlichem Stolz erfüllte.

Seit seiner Schuleinführung zeigte sich Michael Bruhns auch »gesellschaftlich aktiv«. In der ersten Klasse trat er den Jungpionieren bei, später wurde er Thälmannpionier. In der Achten bat er um die Aufnahme in die FDJ.

Gleichwohl verzeichneten die Lehrkräfte bei ihm einen unterentwickelten Kameradschaftsgeist sowie eine gewisse Gefühlskälte. Das konstatierte man mit einiger Besorgnis. Doch über eine weitere Feststellung enthielt man sich jedweden Kommentars.

Sie betraf Michaels offen bekundete Begeisterung für sowjetische Filme, in denen Gewalt und Krieg gezeigt wurden. Denn Kinobesuche zählten zu schulischen Pflichtveranstaltungen. Für alle Kinder in polytechnischen Oberschulen und auch für Jugendliche in der Berufsschule. Daher kamen sie nicht umhin, sich dem Heroismus und der Kriegsverherrlichung hingeben zu müssen.

Kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag wurde Michael Bruhns Mitglied der GST.

Dort zeigte er stets vollen Einsatz und eine hohe Selbstdisziplin. In den Sektionen Schießsport und Wehrkampfsport gehörte er in den folgenden drei Jahren sogar zu den Besten. Hier bei der »Gesellschaft für Sport und Technik« nutzte er viele der gebotenen Möglichkeiten und erwarb so auch den Führerschein für Motorrad und Pkw. Er war hart gegen sich selbst und folgte jedem Befehl ohne Murren.

Michaels Kameraden indes widersetzten sich gelegentlich den harten Übungen im Gelände.

Hierauf war er es der die Anderen zu Disziplin und Ausdauer drängte. Und sie von der Notwendigkeit einer höheren Leistungsbereitschaft zu überzeugen suchte.

Die erste, aufregende Liebelei überraschte Michael Bruhns in der zehnten Klasse.

Beate ging in seiner Schule in die Neunte. Sie reichte ihm bis zum Kinn und bot dem Betrachter einen ansehnlichen, züchtig verpackten Busen.

Bereits nach wenigen Tagen versuchte er bei dem Mädchen aufs Ganze zu gehen, da sich eine unerwartete Gelegenheit bot.

Die Eltern eines Mitschülers weilten zum Urlaub in Bulgarien. Daher verkündete der Alleingelassene im Kreis der von ihm Auserwählten, dass er eine sturmfreie Bude habe.

Er lud alle in das etwas abseitsstehende elterliche Einfamilienhaus ein, wo eine sogenannte »Party« stattfinden sollte. So zumindest nannte er es.

Michael und Beate gehörten zu den Auserwählten. Daher hockten auch sie am darauf folgenden Nachmittag inmitten der anderen Jungen und Mädchen. Im Kreis saßen sie auf einem Teppich. Umgeben von dichtem Zigarettenqualm, bei lauter Westmusik und Apfelweinbowle.

Irgendjemand hatte anscheinend Schnaps in die Bowle gegossenen. Jedenfalls befanden sich vor allen die Mädchen bereits nach kurzer Zeit in spürbar loser Stimmung.

Auch Beate ging es so.

Michael nutzte die unerwartete Chance und wendete sich an den Gastgeber. »Sag mal, wohin könnte ich mich mit meiner Dame denn mal rasch – verdrücken?«

Der »Hausherr«, schien auch schon etwas angetrunken. Er gab sich sehr generös und verwies Michael süffisant grinsend auf das Gästezimmer. »Da hinten links. Aber versaut mir bitte nicht die Polster oder den Teppich!«

Nach einem kurzen aber sehr engen Tanz handelte Michael. Er nahm die angeschickerte Beate fest bei der Hand. Ihren fragenden Blick negierte er. Wortlos entführte er sie aus der lärmenden, verqualmten Feier hinüber in das stille, schummerige Gästezimmer.

Das Mädchen offenbarte bereits einen wiederholten Drang zum Kichern. Zudem zeigte sie ein starkes Anlehnungsbedürfnis. Insbesondere, nachdem Michael sie auf ein breites Sofa platziert hatte.

Darum setzte er sich eng daneben und begann sie betont zärtlich zu küssen. Weil Beate seine Küsse erwiderte, ließ er nunmehr mutiger geworden die Hand unter ihren Pullover gleiten. Das Mädchen küsste ihn auch dann noch zurück, als er mit der Hand aufgeregt diese prallen Dinger in ihrem Büstenhalter erkundete.

Leider verstand er ihre vermeintliche Hingabe falsch. Nämlich, als eine Aufforderung zu weitergehenden Kühnheiten. Er schob seine Hand unter den Plisseerock, ließ sie auf den strammen Schenkeln aufwärts wandern.

Nach einer winzigen Gegenwehr ließ sich Beate auch diesen verwegenen Vorstoß gefallen. Sie hielt die Augen geschlossen und er konnte erkennen, wie um ihre Mundwinkel ein verzücktes Lächeln erschien.

Das ermutigte ihn zusätzlich.

Überraschend hörte das Mädchen ihn sagen, dass sie jetzt doch bitte ihren Schlüpfer ausziehen sollte. Da riss sie ihre Augen weit auf. Das Lächeln in ihrem Gesicht wich dem blanken Entsetzen, als sich Michael plötzlich vor sie hinstellte und den Reißverschluss seiner Hose herabzerrte. Völlig entgeistert starrte das Mädchen auf das, was der Junge aus seiner Hose ans trübe Licht brachte.

Mit einem spitzen Schrei sprang sie auf. Sie stieß den verdatterten Jungen beiseite und rannte fluchtartig aus dem Haus.

Bis tief in die Nacht hinein grübelte Michael Bruhns über das zuvor Erlebte nach. Er entdeckte jedoch keinen Fehler, den er gemacht haben könnte. Doch eines war für ihn nach Abschluss seiner Überlegungen so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Keine dieser jungen Weiber mehr! Und, wenn doch dann nur eine von denen die reifer waren und gewisse Erfahrungen besaßen!

Michael Bruhns wollte gern einen »richtigen« Beruf erlernen.

Aber auch das Abitur strebte er an, um später studieren zu können.

Also trug er sein Ansinnen der Schulleitung vor und man setzte sich für ihn ein. Mit Beginn der elften Klasse durfte er in eine kombinierte Berufsschule wechseln, um dort eine »Berufsausbildung mit Abitur« zu beginnen.

Die folgenden drei Jahre lebte er von nun an im Lehrlingswohnheim. Das war für ihn aber auch für seine Mutter eine nutzbringende Lösung. Denn sie konnte jetzt ihre zu groß gewordene Wohnung gegen eine Kleinere tauschen.

Da sich in der Familie Bruhns einige Veränderungen vollzogen hatten, bot sich das an.

Michaels Schwestern waren inzwischen beide verheiratet. Die eine nach Erfurt und die andere nach Halle/Neustadt verzogen.

Vater Bruhns hingegen verstarb im vorigen Jahr überraschend an einem Hirnschlag.

Jahrelang hatte Johanna versucht, ihrem Anton die Qualmerei vor allem aber den Schnaps und das Bier abzugewöhnen. Leider ohne Erfolg. Er fiel einfach um und war tot.

Daher wurde die bisherige Behausung für sie zu groß. Im Nachbarhaus hingegen stand wegen eines anderen Todesfalls eine passende Wohnung frei. Die AWG stimmte einem Tausch zu und Mutter Bruhns vollzog mit Hilfe ihrer Kinder den Wohnungswechsel.

Indessen erlernte Michael fleißig den Beruf eines Baufacharbeiters. Gleichzeitig büffelte er zudem für das Abitur. Mit seiner Lernhaltung und auch mit seinen Lernergebnissen zeigten sich Lehrer und Ausbilder sehr zufrieden.

Andererseits offenbarte er gewisse für sie beunruhigende Eigenschaften. So bekundete Michael stets nur geringe Neigungen sich in das Lernkollektiv einzufügen. Demgegenüber aber demonstrierte er öfters einen spürbaren Führungsdrang. Zudem neigte er im Laufe der Jahre immer mehr zu einer spontan auftretenden Aggressivität.

Dessen ungeachtet nahm er stets an allen schulischen und außerschulisch verordneten Aktivitäten aktiv teil.

Die Berufsausbildung auf dem Bau entsprach in Gänze seinen Vorstellungen. Und die harte praktische Arbeit auf den Baustellen tat ihm auch körperlich gut. Bei der Aneignung von fachlichen Fertigkeiten und dem zugehörigen theoretischen Wissen legte er zumeist Eifer und Lernbegier an den Tag.

Seine Schultern wurden ausladender die Muskeln ansehnlicher. Nur das Wachstum in die Höhe klappte nicht so, wie er es gern gehabt hätte. Zu der von ihm angepeilten Körperhöhe von Einsachtzig fehlten noch knappe fünf Zentimeter.

Was Michael jedoch nicht davon abhielt, gelegentlich Auseinandersetzungen mit vermeintlich Stärkeren zu provozieren. Er schlug fast immer als Erster und verkürzte seine Attacken gern durch gezielte, brutale Schläge auf Magen und Leber.

Von Seiten der Lehrkräfte blieben disziplinarische Maßnahmen gegen ihn nicht aus. Zudem wurde seine Mutter informiert. Doch sie bemerkte es auch selbst, wenn sich in seinem Gesicht unübersehbar die Spuren der Auseinandersetzungen zeigten.

Denn dann suchte er nicht im Wohnheim, sondern daheim Unterschlupf.

Infolge dessen schien seine Mutter oft der Verzweiflung nahe. Inständig flehte sie ihren Sohn an, seine Aggressionen zu unterlassen. »Warum kannst du nicht so friedfertig sein, wie die meisten deiner Mitschüler? Woher kommt nur das Böse in dir?«

Statt einer Antwort zuckte er stets nur mit den Schultern.

Etwa zur gleichen Zeit erhielt Michaels Mutter von Seiten einer Nachbarin und hinter vorgehaltener Hand, beunruhigende Hinweise. »Bereits zum zweiten Male innerhalb eines Jahres, liebe Frau Bruhns, hat der ABV’er bei mir geklingelt! Ja, ja. Der Genosse Abschnittsbevollmächtigte! Um ein höchst vertrauliches Gespräch mit mir zu führen«, raunte die Nachbarin ihr zu. »Auch dieses Mal hat der Grüne ganz gezielt nach Michaels Umgang und seinem – Gesamtverhalten – gefragt!«, ergänzte die Frau mit Lockenwicklern im Haar. Wobei sie sich rasch umschaute. »Wie er denn so lebt, wollte er wissen. Wie sein Verhältnis zu anderen Leuten ist und ob er eventuell über unseren sozialistischen Staat gemeckert hat?« Sie schürzte kurz die Lippen, nickte mit geschlossenen Augen. »Der ABV musste mich natürlich zur Verschwiegenheit über dieses Gespräch verpflichten. Kann man ja verstehen. Aber ich als gute Nachbarin kann diese Information schließlich nicht der Mutter des betreffenden Jungen vorenthalten! Oder nicht?« Die Nachbarin trat einen Schritt zurück. Rasch schaute sich um. Woraufhin sie mit leiser Stimme aber unüberhörbarer Schärfe noch eine Frage stellte. »Wann, meine liebe Frau Bruhns, haben Sie in ihrem Konsum denn wieder mal Orangen oder die Pralinen aus’ m Westen?«

Michaels Mutter zeigte sich überrascht. Doch mit ihrer Vermutung, dass die Befragung durch den ABV nur erfolgte, weil ihr Sohn sich geprügelt hatte, lag sie völlig falsch.

Die Erkundigungen die der »Abschnitts-Bevollmächtigten der Volkspolizei« vornahm, dienten einem ganz anderen Zweck.

Michael Bruhns besuchte bereits die zwölfte Klasse. Er trug seine vormals schwarz–wallende Haarpracht inzwischen militärisch kurz geschnitten.

Im Gegensatz zu anderen Jugendlichen, deren Haare zumeist bis auf die Schultern fielen.

Ein anfänglich noch schütteres Oberlippenbärtchen pflegte er zudem mit Hingabe.

Mittlerweile war er ein breitschultriger, sportlicher Typ geworden und verfügte er mit seinen siebzehn Jahren zudem auch über ein gefälliges Äußeres. Dazu zählte auch, dass er bei Plaudereien mit Ausbildern und Vorgesetzten neuerdings eine gewisse Wortgewandtheit erkennen ließ. Das kam bei den meisten Leuten, mit denen er zu tun hatte, recht gut an.

Auch, weil er sie durch seinen galligen Humor zum Grübeln animieren konnte.

Dann jedoch kam der Tag an dem er bemerkte, dass er letztlich keine Freunde besaß. Denn nach und nach verkleinerte sich der Kreis derer, die mit seiner gesamten Art nicht mehr klarkamen. Diese Tatsache ließ ihn aber zu seiner eigenen Verwunderung völlig kalt.

Ende der Zwölfen Klasse begaben sich überraschende Dinge in Michael Bruhns Leben.

Es passierte an jenem Tag, an dem sein Klassenleiter, Herr Rieger, mit ihm eine der üblichen Aussprachen führte.

Wie immer tat er das an einem Freitag nach der letzten Stunde.

Michael und der Lehrer befanden sich allein im Unterrichtsraum. Die Fenster waren geöffnet, im Schulhaus war es ruhig geworden.

Der große, hagere Mann mit schütterem Haar roch durchdringend nach Tabakqualm. Denn vor dem Gesprächstermin zog er auf dem Schulhof wohl noch hastig eine Zigarette durch.

Die Ärmel seines dunkelgrauen Anzuges, an dem neben den drei Knöpfen nur das Parteiabzeichen glänzte, erweckten einen abgewetzten Eindruck.

Rieger lehnte sich rückwärts gegen das Lehrerpult. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf Michael herab. Der hatte sich vor ihm in die erste Bank gequetscht.

»Es kotzt mich, gelinde gesagt langsam an, Michael Bruhns!«, begann der Lehrer die Aussprache. »Ich meine, dass ich mich wieder mit dir übers gleiche Thema auseinandersetzen muss – deine mangelnde Einfügung in das Klassenkollektiv! Ich begreife das nicht. Du gehörst unbestreitbar zu den leistungsmäßig besten Lehrlingen an unserer Berufsschule. Du zeigst bei der GST die hervorragendsten Ergebnisse in den meisten Disziplinen. Du motivierst sogar deine Kameraden, wenn sie mal durchhängen. Aber deine verfluchte Eigenbrötelei ist für uns nicht mehr nachvollziehbar! Und vor allem dein Hang zur Aggressivität, deine Prügeleien! Das geht gar nicht! Michael Bruhns! Ich sage es so, wie es ist. Du riskierst härteste disziplinarische Maßnahmen!«

Michael beendete schließlich die Aussprache von sich aus und für den Lehrer zumindest überraschend. Nämlich mit einem Versprechen, das er ihm gab! »Ich sehe meine Fehler ein, Genosse Rieger! Habe selbst schon viel darüber nachgedacht und deswegen auch mit meiner Mutter gesprochen. Also keine Prügeleien mehr! Sie werden sehen, dass ich es wirklich ernst meine!«

Genervt von den ständigen Anwürfen hatte sich Michael hierzu durchgerungen. Von nun an würde er aufgeschlossen und kontaktfreudig gegenüber seinen Mitmenschen sein. Wenn es ihm Ärger ersparte gern!

Daher ließ er sich sogar von einigen seiner Mitschüler überreden, zum »Tanz in den Mai« mitzugehen.

Am Samstag. In ein Tanzlokal an der Elbe, das er noch nie besucht hatte.

Samstagabend stand Michael Bruhns wahrhaftig in dem weitläufigen Tanzsaal an der Elbe.

Dicke Schwaden vom Zigarettenrauch schwebten unter der Decke, bunte Lichter huschten umher.

Geraume Zeit lehnte er an der chromblinkenden Theke, die man mit Maiengrün geschmückt hatte. Und er langweilte sich fürchterlich.

Die drei Mitschüler, mit denen er hergekommen war, tanzten mit Mädchen, die er nicht kannte. Wie alle auf der Tanzfläche zappelten und hüpften sie nach dem stampfenden Rhythmus der sogenannten Beatmusik. Die fünf Mitglieder einer langhaarige –Band– hämmerte sie lautstark aus ihren riesigen Boxen von der Bühne in den vollen Saal herab.

Michael hingegen verspürte keinerlei Verlangen zum Tanzen. Denn ehrlich gesagt konnte er es auch gar nicht. Den Besuch einer Tanzschule hatte er stets für zutiefst spießbürgerhaft befunden. Und das hier war auch die erste Tanzveranstaltung, die er überhaupt besuchte.

Aber vor zwei Monaten begann er zwecks erweiterter Demonstration seiner Mannhaftigkeit mit dem Rauchen! Daher brannte er sich stattdessen noch eine »Casino« an.

Er musste zwar husten. Doch er pustete den Qualm von sich und musterte zutiefst interessiert über die Schanktheke hinweg die auf hohen Absätzen hin und her eilende Barfrau.

Die großgeratene Schwarzhaarige zählte gut über die dreißig Lenze, so schätzte er. Und wohl auch deshalb starrte er, wenn sie das Bier zapfte mit Stielaugen in den ansehnlich gefüllten Ausschnitt ihrer weißen Bluse. Über den schwarzen, kurzen Rock, der straff ihren rundlichen Hintern überspannte, hatte sie eine weiße, gestärkte Rüschenschürze gebunden. Ihre kräftigen Beine steckten in schwarzen Strümpfen mit nicht ganz gerade sitzenden Nähten.

Die für ihn aufreizend wirkende Barfrau war zudem recht stark geschminkt. Sie trug eine modische, hoch toupierte Kurzhaarfrisur und ließ an ihren Ohrläppchen rote Ohrringe baumeln.

Bald schon bemerkte sie, dass Michael immer öfter zu ihr hin starrte. Plötzlich beugte sie sich weit über den Tresen zu ihm hin. Mit einem spöttischen Lächeln auf den roten Lippen stellte sie ihm eine Frage. »Na, junger Mann? Du weißt doch, nach Stieren kommt Wahnsinn! Hast du noch nicht genug von meiner Auslage gesehen? Aber sag. Gefällt dir das alles, was du da siehst?«

Michael stammelte eine unverständliche Entschuldigung und bestellte rasch ein Bier. Der Anblick der Barfrau, ihr Lächeln, und wie sie sich bewegte, dass alles versetzte den Jungen in eine bisher ihm unbekannte, innere Erregung.

Nachdem er sein Bier langsam ausgetrunken hatte, wobei er noch eine Zigarette rauchte, bestellte er noch eins.

Dabei bemerkte er jedoch, dass fortan die Barfrau immer wieder zu ihm hinschaute.

Diese Feststellung irritierte ihn aufs Äußerste.

Doch es kam noch verrückter. Als sie ihm das frische Bier reichte, beugte sie sich wieder sehr weit über den Tresen. Und ohne dass es jemand anderes hören konnte, raunte sie ihm etwas zu, das ihn wiederum erröten ließ. »Du solltest nicht zu viel trinken denn ich habe um halb zwölf Uhr Feierabend. Dann muss ich noch rasch die Abrechnung machen. Aber um halb eins da könntest du am Seitenausgang auf mich warten. Das möchtest du doch oder wolltest du heute Nacht einsam und allein ins Bettchen gehen?«

Ihr Lächeln jagte ihm einen heißen Schauer durch den gesamten Körper. Er brachte es nur zu einem zustimmenden Nicken. Denn irgendetwas schien ihm den Hals zuzuschnüren, so dass er kein Wort herausbrachte. Hastig ergriff er das randvolle Bierglas und setzte sich wenige Schritte entfernt an einen der kleinen Tische. Von dort aus konnte er diese erregende Frau hinter der Schanktheke recht gut sehen.

Endlich war es soweit es ging auf Mitternacht zu.

Die verschwitzte Band verabschiedete sich mit ihrem letzten Titel, »Merci Cherie«. Der war so neumodisch und kam zudem aus dem Westen, dass ihn hier kaum einer kannte.

Als man schließlich die ersten Lichter ausschaltete, begann im Saal der Aufbruch der Gäste.

Auch Michael verließ die Halle.

Draußen erwartete ihn eine laue Mainacht. Er brannte sich die letzte »Casino« an und stellte sich neben dem Hintereingang des Tanzlokals ins Halbdunkel.

Von vorn von der Straße her vernahm er den grölenden Gesang von einigen der abwandernden Gäste.

Er lehnte neben dem Tor an der bröseligen Ziegelwand und saugte nervös an der Zigarette.

Nur wenige Meter von ihm entfernte quälte sich der Fluss, schwarz, stinkend und mit leisem Plätschern durch sein aufgezwungenes steinernes Bett.

Kurz nach halb eins trat die Barfrau aus dem Tor heraus und schaute sich sofort um. Ihr helles Lachen erklang, als sie ihn entdeckt hatte. »Hab’ ich es mir doch gedacht, dass der Junge auf mich wartet. Kommst du mit, ja?«

Michael nickte wortlos, sie hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn mit sich fort. Was als Nächstes geschah, glaubte der Junge später alles nur geträumt zu haben. Es war unwirklich, unbegreiflich und so aufregend neuartig!

Im Licht der wenigen Straßenlaternen musterte er verstohlen die Frau. Die an seiner Seite recht sicher auf ihren hohen Absätzen über das Kopfsteinpflaster schritt.

Sie scheint wirklich hübsch zu sein, befand er. Wenn auch ein klein wenig größer, als ich. Aber eben auch viel älter.

Doch war es nicht das, was ich mir immer gewünscht habe?

Die schweigende Frau führte ihn durch spärlich beleuchtete Gassen.

Argwohn flammte plötzlich in ihm auf, doch ihr gemeinsamer Weg endete bald.

Vor einem heruntergekommenen Mietshaus, dessen lichtlosen Fenster schwarz in die Nacht starrten. Putzschäden zeigten sich über die Fassade verstreut.

Nur ein schmaler Fußweg trennte das Haus vom Elbufer.

Die Frau schloss die Haustür auf und drängte den Jungen rasch in das nach Urin stinkende Treppenhaus. Nach einem lauten Knacken ging das blakende Hauslicht an. Ein Zeitschalter zählte tickend die Sekunden herunter.

Für einen Augenblick hielt er die Luft an, folgte ihr nach kurzem Zögern die knarrende Treppe hinauf.

Im zweiten Stockwerk schloss die Frau eine Tür auf, von der fast alle Farbe abgeblättert zu sein schien. Als sie im Wohnungsflur eine funzelnde Deckenlampe angeknipst hatte, verlosch draußen im Treppenhaus das Hauslicht.

Rasch zog sie den Jungen in die schmale Diele. Sie drückte die Wohnungstür hinter ihm zu und schob ihn zu einer der Zimmertüren hin. Mit einem leisen »Psst!« legte sie den Zeigefinger auf die Lippen und warf ihm einen eindringlichen Blick zu. Sodann öffnete sie eine der Türen und lauschte in den Raum hinein. Sie nickte, schloss die Tür und drängte den Jungen in das andere Zimmer. Dort wandte sie sich so dicht an ihm vorbei, dass er ihren Körper spürte. Sie warf ihm ein Lächeln zu und knipste eine Nachttischlampe an die ein rosa Schirmchen trug. »Schließ’ bitte die Zimmertür und vor allem, sei leise!«, bat sie den Jungen mit sanfter Stimme.

Von der Tür aus schaute er sich interessiert im Zimmer um. Das hier ist also ihr Schlafzimmer, dachte er.

Eine Doppelliege mit gestreiftem Bettzeug darauf stand unter einem Fenster mit einer bunten Übergardine. Daneben ein Nachttisch mit der kleinen Lampe.

An der linken Wand lehnte ein altersschwach wirkender Kleiderschrank. Flankiert wurde er von einem weiß gestrichenen Stuhl auf der einen und einem schmalbrüstigen Schränkchen auf der anderen Seite. Darauf stand ein kleines Radio.

»Ein »Sonneberg«! Ja! Genauso eins hab’ ich in meinem Zimmer im Lehrlingswohnheim«, flüstert er freudig erregt der Frau zu und zeigte darauf. Doch alles hier so stellte er ernüchtert fest, sah verwohnt und auch recht schmuddelig aus.

Die Frau deutete unvermittelt auf die gegenüberliegende Wand. »Da drüben schläft meine kleine Tochter. Nach der ich eben geschaut habe«, flüsterte sie. »Also, wie ich schon sagte. Bitte, bleib möglichst leise! Auch wenn’s dir vielleicht schwerfällt, wenn wir’s gleich machen!«

Der Junge nickte wortlos. Als er jedoch einen Augenblick über ihre Worte nachdachte, verspürte er plötzlich einen dicken Kloß im Hals.

Sie hat ein Kind, schoss es ihm durch den Kopf. Sie ist Mutter!

Und wie ist eigentlich eine Frau im Bett, die bereits ein Kind geboren hat? Verdammt! Ich hab’s doch noch nie mit einer Frau gemacht. Und jetzt das!

Als die Frau ihn mit einer heftigen Geste zu sich heranwinkte, huschte der Junge zu ihr hin. Sie lächelte, zog ihre Lederjacke aus und warf sie über den Stuhl. »Zieh’ du deine Jacke endlich aus!«, flüsterte sie.

Der Junge folgte ihrer Aufforderung sofort.

Plötzlich trat sie dicht an ihn heran und schlang ihre nackten Arme um seinen Hals. Selbst nachdem die Frau aus ihren schwarzen Pumps stieg, war sie etwas größer als der Junge. »Entspann’ dich, lass dich gehen, sei locker«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Unvermittelt presste sie ihre roten, feuchten Lippen auf die seinen, ihre nasse Zunge bohrte sich in seinen Mund.

Noch niemals hatte der Junge einen Zungenkuss bekommen. Doch er spürte sofort, dass es ihn erregte, und er tat es der Frau gleich. Dabei tasteten seine zitternden Hände fahrig über ihren weichen Körper, den sie fest gegen ihn drängte.

Er roch den Schweiß und den Deodorant unter ihren Achseln. Auch den Kneipengeruch von Zigarettenrauch und Bier der ihren dichten Haaren entströmte.

Die Frau zog den Jungen an sich heran, wobei sie Brüste und Unterleib lasziv gegen seinen Körper rieb.

Er zitterte plötzlich vor Erregung. Und schämte sich für das Schaudern, das er nicht unterdrücken konnte. Unvermittelt bemerkte er zudem, dass sein Glied heftig anschwoll.

Da glaubte er, im Erdboden versinken zu müssen! Doch er spürte die Hitze ihres Körpers und auch die Hand, die sich an ihm herabtastete. Bis sie auf dieser harten Beule in seiner Hose lag.

Alles Weitere ging recht schnell.

Hastig knöpfte die Frau dem Jungen das Hemd auf, während sie sich über ihre Lippen leckte. »Los mach’ hin, hilf mir! Wir ziehen dich jetzt aus denn ich will dich nackig!«, stieß sie hervor. Ihre Augen blitzten fast teuflisch.

Als er sich das Hemd vom Leib gezogen hatte, öffnete sie ihm bereits die Hose und zerrte sie herab. Mit ihren spitzen, roten Krallen strich sie dem Jungen heftig über die nackte Brust, wodurch sich sofort feine Striemen zeigten. »Rasch! Zieh’ gefälligst auch die Schuhe aus!« forderte sie ihn mit heiserer Stimme auf, wobei sie auch gleich seine Unterhose herab zerrte.

Der Junge gehorchte ihr, trat die Slipper beiseite und stieg aus seinen Hosen. Doch was daraufhin passierte, ließ ihm den Atem stocken. Die Gefahr sogar ohnmächtig zu werden schien plötzlich groß.

Die Frau setzte sich auf die vordere Kante der Liege und streckte die Arme nach ihm aus. »Komm her zu mir!«, sagte sie mit einem für ihn unzüchtig wirkenden Lächeln. »Ich blase dir jetzt einen, den du hoffentlich nie vergisst!« Mit einer raschen Bewegung zog sie den Jungen, der von ihren Worten völlig irritiert schien zu sich heran. Nach einem funkelnden Blick aus ihren schwarzen Augen beugte sie sich etwas nach vorn. Ohne weitere Umstände stopfte sie das zwischen ihre weichen, feuchten Lippen, was er ihr entgegenstreckte.

Von einem emporschießenden Gefühl überwältigt, wurde sich der Junge plötzlich seiner völligen Nacktheit bewusst. Er begann zu schlottern, bekam er eine Gänsehaut und sein Atem ging heftiger. Mein Gott, schoss es ihm durch den Kopf. Soeben hat sie meinen – meinen – in ihren Mund genommen und jetzt saugt sie daran! Soweit konnte er gerade noch denken. Denn mit panischem Entsetzen verspürte er, wie seine Erregung unkontrolliert gen Himmel schoss.

Es gab kein Halten mehr es passierte wie ein lautlos hallender Donnerschlag. Ein heißer Blitz durchzuckte ihn. Er traf das Kreuz und raste ihm durch die Lenden.

Die Frau tat das Verwerfliche noch für einen kurzen Augenblick weiter. Dann riss sie ihren Kopf zurück, wobei sie ein unterdrücktes Lachen ausstieß. Rasch ergriff sie ein kleines, buntes Handtuch, das neben ihr gelegen hatte.

Sie drängte es dem entgegen, was seinen Lenden machtvoll entsprang. Daraufhin hob sie kurz ihren verschwommenen Blick zu ihm auf. Nunmehr schloss sie die Augen zur Gänze und lächelte versonnen. »Uiii! Das war nicht von schlechten Eltern!«, schnurrte sie. Schließlich säuberte sie mit dem Tuch sich selbst und auch seine inzwischen abgeschlaffte Männlichkeit.

Von einer tiefen Scham beherrscht stand der nackte Junge vor der Frau. Sein gesenkter Kopf leuchtete puterrot. Im ersten Gedanken, den er fassen konnte, nachdem er so heftig ejakuliert hatte, drückte sich sein ganzes Dilemma aus.

Herrgott noch mal dachte er entsetzt. Warum ist das alles nur so furchtbar schnell gegangen? Verdammt! Wenn ich es mir selber mache, kann ich es doch immer so schön in die Länge ziehen, bis es kommt!

Mit zarter Hand und einem nachsichtigen Lächeln auf den Lippen streichelte die Frau seine schlaffe Männlichkeit. »Och nööh! Wo ist er denn geblieben? Wo er doch soeben noch so ein stattliches Teil gewesen ist!«, sagte sie mit einem leisen Kichern und küsste ihn darauf. Unvermittelt erhob sie sich und bedeutete dem Jungen, sich statt ihrer auf die Liege zu setzen.

Wortlos folgte er ihr.

Sie entnahm dem kleinen Schränkchen zwei Gläser und eine offene Weinflasche. Dann goss sie die Gläser voll, schaltete das Radio ein und suchte auf der Skala so lange, bis sie sanfte Musik fand.

Beide tranken hastig. Die Frau goss nochmals nach, wobei sie wieder leise lachte. Schließlich stellte sie alles auf den Schrank zurück. Langsam drehte sie sich zu dem Jungen herum.

Der hatte sich inzwischen nach hinten gegen die Wand gelehnt. Die Knie fest zusammengepresst und die Hände in den Schoß gelegt.

Mit einem unergründlichen Lächeln schaute sie auf ihn herab. Für einen langen Augenblick betrachtete sie seinen nackten Körper.

Peinlich berührt sah sich der Junge plötzlich als Schlappschwanz. Einer, der in völlig schlaffer Nacktheit vor diesem erregenden Weib hockte. Doch er spürte auch, wie eine leise Wut in ihm hochstieg. Wut auf sich selbst, Wut auf den – Versager!

Indessen war die Frau dicht an die Liege herangetreten. Sie beugte sich nach vorn und strich ihn mit sanfter Hand über den wirren Schopf. »Ich zeig’ dir was. Möchtest du es gerne sehen?«, fragte sie mit vibrierender Stimme. »Wenn’s dir gefällt, darfst du auch alles anfassen!« Mit langsamen Bewegungen öffnete sie die vom Liebessaft des Jungen bespritzte Bluse. Was sie jedoch nicht zu stören schien.

Sanft wiegte sie sich nach der leisen Musik aus dem Radio in den Hüften. Wobei sie Stück für Stück ihre Kleidung beiseite warf.

Der Junge starrte gebannt auf ihren Leib, von dem sie ihm immer mehr darbot.

Schließlich stand sie völlig nackt vor ihm. Lächelnd breitete sie die Arme aus. »Alles für dich!«, flüsterte sie.

Sein Atem wurde flach beim Anblick ihrer fülligen Brüste. Und der dicht behaarten Scham inmitten der prallen weißen Schenkel. Plötzlich bemerkte er ihren triumphierenden Blick. Er folgte ihm. Das was er sah erfüllte ihn mit freudiger Überraschung. Seine Männlichkeit hatte sich wieder in voller Pracht erhoben.

Weil die Frau in ihrer Nacktheit dicht vor ihm stand konnte er mit allen Sinnen den aufreizenden Geruch ihres weißen Körpers in sich aufnehmen.

Auch aus ihrem Schritt heraus schien er wie ein gewaltiges Blumenbukett in seine Nase zu dringen.

Nach einem langen Augenblick, in dem sie ihn den Anblick ihrer völligen Blöße genießen ließ, glitt sie zu ihm auf die Liege. Heftig atmend schmiegte sie sich eng an ihn heran.

Den Rest der Nacht offenbarte die Frau dem Jungen einiges von dem, was man als Frau und Mann alles miteinander tun kann. Und sie kannte viele dieser Möglichkeiten, die sie beide auch mehrmals ausprobierten.

Im Morgengrauen verließ Michael Bruhns das Haus an der dreckigen, träge dahin fließenden Elbe.

Plötzlich wurde ihm eines bewusst. Heute Nacht hatte sich in seinem Leben etwas ganz Entscheidendes ereignet. Doch erzählten konnte er es natürlich niemanden.

Auch fiel ihm auf, dass sie sich ihre Namen nicht genannt hatten! Aber weder er noch sie fragte danach.

Und während er kräftig ausschritt, fasste der Junge einen Entschluss. In Zukunft würde er bei den Weibern bestimmen, wo es langgeht. Bei ihm sollte keine von ihnen mehr den Takt angeben können!

Der Ernst des Lebens beginnt

Die Zeit bis zum Abschluss seiner Lehre handelte er wie versprochen. Michael Bruhns fiel nicht unangenehm auf und auch im Wohnheim hielt er sich tunlichst zurück.

Zudem tauchte er des Öfteren bei seiner Mutter auf. Sie verstanden sich zunehmend besser frühere Reibereien schienen der Vergangenheit anzugehören.

Auch wusch sie noch immer regelmäßig seine Wäsche. Zum Abschluss seiner Lehrzeit erhielt er neben dem Facharbeiterbrief auch sein Abiturzeugnis.

Kurze Zeit später musste er zur Musterung auf dem Wehrkreiskommando antreten.

Pünktlich erschien er zum angesetzten Termin. Mit frisch geschnittenen Haaren und ordentlicher, sauberer Kleidung. Auch die Schuhe hatte er auf Hochglanz geputzt.

Diese Spielregeln kannte Bruhns noch aus dem vergangenen Jahr.

Damals war er im Sommer im Wehrausbildungslager der »Gesellschaft für Sport und Technik«. Das Lager befand sich in Thüringen in der Nähe von Hildburghausen.

Er fuhr gern dahin. Nicht nur wegen der vormilitärischen Ausbildung, sondern da er diesen Landstrich mochte.

Bereits in seiner Schulzeit wurde Michael in den Sommerferien in ein Ferienlager im Thüringer Wald geschickt. Seitdem empfand er eine gewisse Affinität zu dieser herrlichen Gegend. Auch durch die vielen Wanderungen, bei denen die Kinder das Thüringer Land kennen lernten, schloss er es ins Herz.

Bei einem der Ausflüge besuchten sie die Stadt Weimar. Und somit auch wie vorgeschrieben das frühere Konzentrationslager in Buchenwald. Am Glockenturm fand ein Fahnenappell statt.

Michael fand Gefallen daran. Was er auch ausführlich auf einer Postkarte vermerkte, die er an seine Eltern schickte.

Im vergangenen Jahr jedoch im Sommerlager der GST bei Hildburghausen lernte Bruhns die dunklen Wälder Thüringens auch beim Geländesport kennen.

Wobei er das mitgetragene Kleinkalibergewehr nicht als hinderlich empfand.

Neben den »Hauptamtlichen« von der Gesellschaft nahm auch ein Feldwebel der Reserve die Burschen unter seine »Fittiche«. Seine Aufgabe bestand darin, ihnen die Grundregeln des militärischen Alltags beizubringen. Das bekam er auch tadellos hin.

Doch leider gab es am Ende des Sommerlagers ein peinliches Vorkommnis, von dem auch Bruhns zufällig Kenntnis erhielt.

Zur abendlichen Dämmerzeit zog sich der Feldwebel in die vermeintliche Einsamkeit hinter einem Geräteschuppen zurück. Doch er war nicht allein. Er hielt sich dort mit einem blonden, langhaarigen Jungen auf.

Dummerweise latschte ein anderer Bursche der zu dieser Zeit Wache schieben durfte auch hinter eben diesen Schuppen. Aber er musste so dringend pinkeln, dass er dafür sogar seinen Posten verließ.

Im Halbdunkel erblickte er den Feldwebel. Gerade in dem Augenblick als dieser mit herabgelassener Hose vorm Hinterteil des schlaksigen Jungen stand. Dem Langhaarigen schien das gut zu tun, was der Feldwebel ihm antat. So zumindest hätte man sein Stöhnen deuten können.

Der völlig schockierte Wachposten lief sofort zum Lagerleiter. Dort erstattete er ungeachtet seines eigenen Wachvergehens einen brühwarmen Bericht.

Zwei Tage später sollte das Lager planmäßig enden. Darum verdonnerte man die wenigen Jungs, die von dieser Sache überhaupt etwas mitbekommen hatten, zur strikten Verschwiegenheit.

Im Falle eines festgestellten Verschwiegenheitsbruchs drohte man ihnen die unehrenhafte und vorzeitige Beendigung ihrer Lehre an. Also hielten sie alle brav die Klappe die Angelegenheit wurde unter den Teppich gekehrt.

Daran erinnerte sich Michael Bruhns noch recht gut.

Doch nun wartete er gemeinsam mit vielen anderen Jugendlichen im Wehrkreiskommando auf den Aufruf seines Namens.

Wenig später war es so weit. Entkleidet bis auf die Unterwäsche harrte er der kommenden Dinge.

Nachdem man ihn dazu aufforderte, absolvierte er alle ärztlichen Untersuchungen problemlos. Auch die wichtigen Tests bestand er mit Bravour. Letztendlich musste er nur noch zum Abschlussgespräch.

In die so genannte »Erpresserrunde«.

Der letzte Teil der Musterung rief bei vielen der jungen Männer Argwohn und auch Beklemmung hervor. Denn nach Bekanntgabe der Tauglichkeit versuchte man stets, die Wehrpflichtigen für eine dreijährige Dienstzeit zu beschwatzen. Wenn nicht sogar zu fünfzehn Jahren als Berufssoldat.

Die üblichen achtzehn Monate Grundwehrdienst schienen in dieser Runde absolut kein Thema zu sein!

Auch Michael Bruhns wurde zum Abschlussgespräch in einen gesonderten Raum gerufen. Eingangs teilte man ihm mit, dass er uneingeschränkt wehrtauglich ist.

Unter den Offizieren der Musterungskommission die an einem langen Tisch vor ihm in saßen befand sich auch ein jüngerer Hauptmann.

Der stellte sich freundlich lächelnd als Mitarbeiter des MfS vor. Dann bat er Bruhns, mit ihm an einem seitwärts stehenden Tisch Platz zu nehmen. Dort kam der Offizier unumwunden auf den Punkt. »Sie sind, soweit ich es Ihren Unterlagen entnehme, als Baufacharbeiter mit Abitur der richtige Mann für uns. Ich meine, wenn Sie sich für drei Jahre zum MfS-Wachregiment nach Berlin verpflichten würden, Jugendfreund Bruhns!«, sagte er mit einem verbissen wirkenden Lächeln.

Natürlich hatte Bruhns von dieser »Stasieinheit« schon gehört. Wenn auch viele nur hinter vorgehaltener Hand von ihr sprachen.

Dass er jedoch hier und noch dazu von diesem Hauptmann ein so konkretes Angebot erhielt, dass erfüllte ihn plötzlich mit einem fast unerklärlichen Stolz. Denn genau so etwas schwebte ihm doch im Grunde genommen vor!

Michael Bruhns verpflichtete sich für drei Jahre.

Bereits Anfang Mai Dreiundsiebzig erhielt er den Einberufungsbefehl. Mit einem Sammeltransport brachte man ihn nach Berlin-Adlershof ins Wachregiment »Felix Dzierzynski«.

Doch die allgemein übliche, halbjährige Grundausbildung auf einer Unteroffiziersschule kam für ihn unerwartet in Wegfall. Gemeinsam mit fünf anderen Unteroffiziersanwärtern wurde er noch am gleichen Tag weitertransportiert. Man brachte sie in ein sogenanntes »Objekt«, das in der Nähe von Berlin hinter hohen Zäunen mitten im Wald gelegen war.

Dort absolvierten sie eingangs eine gepfefferte Grundausbildung. Diese dauerte aber nur drei Wochen.

Im Gegensatz zu seinen Genossen befand Bruhns den Drill als nützlich. Er lernte die Sturmbahn lieben und schoss ausgezeichnet.

Nach der Ausbildung wurde er zum Unteroffizier befördert. Von nun an konnte er vieles von dem, das er bei seiner Berufsausbildung gelernt hatte, in seinen Dienst einbringen.

Anfangs wurde er zur Montage und Wartung von geheimen »Anlagen zur Grenzsicherung« eingesetzt.

In Kenntnis der Wichtigkeit seiner Aufgaben fühlte er sich endlich richtig gefordert. Denn bei dieser Truppe erfüllten sie ihren »Kampfauftrag« nicht nur mit Spezialwerkzeugen, sondern auch mit der Makarow und der Kalaschnikow.

Er lernte einen Lkw fahren. Bald konnte er eine Planierraupe und auch einen Bagger bedienen.

Zudem empfand er die Arbeit mit Sprengstoffen als äußerst aufregend. Der Umgang mit komplizierter Elektronik und Steuerungstechnik gehörte ebenfalls zu seinen Aufgaben.

Gelegentlich wurde an einem der Grenzabschnitte um Westberlin herum eine Selbstschussanlage oder Mine ausgelöst. Daraufhin mussten Bruhns und seine Genossen ausrücken. Auch nachts, bei Wind und Wetter.

Wo es passiert war, sah es zumeist schlimm aus. Beim Anblick des Menschen oder dessen Reste verspürte er zu seiner Überraschung kein Mitleid. Sondern Wut!

Ja! Er hegte Wut auf den Schadensverursacher!

Bist selbst schuld du Idiot, dachte er. Was kriechst du auch da hinein in den Zaun? Es ist doch hinreichend bekannt, dass wir unsere Grenze auf diese Art und Weise sichern. Auch gegen Typen, wie dich! Oder? Die regen sich doch im Westfernsehen ständig darüber auf! Also kann keiner so tun als wüsste er nicht, worauf er sich einlässt, wenn er unbedingt abhauen will. Scheiße auch! Das ist eben so! Basta und aus!

Bereits im ersten Monat seiner Dienstzeit kam der Politoffizier der Kompanie auf ihn zu. Sie führten mehrere, lange Gespräche. Schließlich folgte Bruhns seinen eindringlichen Argumenten.

Nach der Kandidatenzeit trat er in die »Partei der Arbeiterklasse« ein. Jetzt, als Mitglied der SED, sagte ihm sein Gefühl, das er fortan dazugehörte!

Seine Vorgesetzten wussten um seine hervorragenden Russischkenntnisse. Darum setzte man ihn nach achtzehn Monaten nur noch gelegentlich im Grenzbereich ein. Zunehmend wurde er als Dolmetscher oder für die Übersetzungen von wichtigen Dokumenten abkommandiert.

Schließlich beschäftigte sich Bruhns fast ausschließlich mit speziellen Übersetzertätigkeiten. Auch im ständigen Verkehr mit dem sowjetischen KGB und dem KBS.

Gelegentlich nahm er auch an Schulungen für bestimmte Kampftechniken teil.

Zu Beginn seines dritten Dienstjahres baten ihn zwei Genossen aus dem Ministerium mehrfach zum Gespräch. Vor der ersten Besprechung musste er jedoch eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben.

Nun wusste er, dass ihm bei einem eventuellen Verstoß gegen die Schweigepflicht ein Verfahren wegen Landesverrates drohen würde. Nachdem er die Erklärung durchgelesen hatte, fand er das auch absolut in Ordnung.

Die Gespräche galten nur einem Ziel. Seiner Übernahme ins Ministerium für Staatssicherheit als hauptamtlicher Mitarbeiter. Zeitgleich sollte er zum Studium delegiert werden.

Bruhns stimmte dem Ansinnen der Genossen selbstverständlich zu.

Im Jahre Sechsundsiebzig beendete er seine Dienstzeit als Unteroffizier auf Zeit mit dem Dienstgrad eines Feldwebels.

Seine Übernahme ins »Ministerium für Staatssicherheit« erfolgte umgehend.

In der HA XVIII freute man sich über den Zugang. Auch, wenn er die nächsten Jahre hier kaum wirken würde.

Dennoch beförderte man ihn zum Unterleutnant und übergab ihm die Delegierungsunterlagen zum Studium.

Unterleutnant Bruhns wurde an der »Ingenieurhochschule für Bauwesen« in Cottbus immatrikuliert. Dort absolvierte er in den folgenden vier Jahren sein Studium. Die Studienzeit selbst wurde von ihm als leidlich angenehm empfunden.

Nur wenige Dozenten an der Hochschule wussten überhaupt, dass er hauptamtlich zum MfS gehörte.

Bedingt durch seine monatlichen Bezüge von über eintausend Mark, musste er keine Einschränkungen in seiner Lebensführung hinnehmen.

Im Gegensatz zu den meisten seiner Mitstudenten.

Sexuelle Erfahrungen, die er während der Armeezeit und dem Studium machen konnte, hatten ihn nachhaltig geprägt. Die Abneigung gegen unerfahrene, junge Mädchen bestand unverändert weiter. Seine Bedürfnisse führten ihn immer wieder zu reiferen Frauen.

Nicht unter fünfunddreißig Lebensjahren durften sie sein. Dabei galt eine etwas mollige, vollbusige Erscheinung mit dunklem Haar für ihn als gesetzt.

Bruhns erstrebte bei seinen Frauenbekanntschaften, die er zumeist in einschlägigen Tanzgaststätten machte, stets seine uneingeschränkte Dominanz. Zudem wollte er einen baldigen Verkehr erreichen. Möglichst in der ersten Nacht versuchte er, wie er es nannte zum »Schuss« kommen.

Daher führte alles, was er mit diesen Frauen begann, niemals zu einer längeren Beziehung. Oder gar zu einer festen Bindung.

Zeigte er sich aus bestimmten Gründen mal unbeweibt, so half er sich mit fleißiger Handarbeit selbst.

Im ersten Quartal Einundachtzig schrieb Michael Bruhns planmäßig seine Abschlussarbeit. Gleich, nachdem er das große Industriepraktikum absolviert hatte. Er schloss das Studium als »Hochschulingenieur des sozialistischen Bauwesens« insgesamt mit einem »Gut« ab.

Seine Vorgesetzten im Ministerium schienen mit seinem Studienabschluss sehr zufrieden zu sein. Vor Beginn seiner Tätigkeit in der Hauptabteilung XVIII erwarteten ihn dort mehrere freudige Ereignisse.

Durch seinen Abteilungsleiter, Major Schmalfuß, erhielt Bruhns seine Beförderung zum Leutnant. Dem nicht genug übergab er ihm die Schlüssel für eine Zweiraum-Neubauwohnung in Berlin Lichtenberg. »Du kannst sofort in das Doppelhochhaus am Anton-Saefkow-Platz einziehen!«, sagte Schmalfuß zackig und reichte ihm den Mietvertrag.

Nach den unerlässlichen Änderungen in seinen Personaldokumenten wurde der frischgebackene Leutnant offiziell ein Bürger der Hauptstadt der DDR!

Bruhns trat seinen Dienst in der HV XVIII am ersten Juni Einundachtzig an. Entgegen seinen anfänglichen Erwartungen forderten ihn seine Aufgaben nicht besonders.

So verbrachte er viel Zeit als Mitglied einer Ermittlergruppe die in einem Chemiefaserkombinat in der Lausitz bestimmte, negative Erscheinungen überprüfte. Die Aufklärung einer dort vermuteten Sabotagetätigkeit gestaltete sich zwar recht aufwendig, blieb aber erfolglos.

Denn letztlich erwies sich alles als eine Folge von technologischen Mängeln. Durch diese entstanden gewaltige Ausfallzeiten an den Maschinen, was wiederum Planrückstände des Kombinates nach sich zog.

Die Ermittler stellten zudem drastische Unzulänglichkeiten bei der genutzten Technik fest. Die Ursachen lagen in den eingesetzten substituierten Ersatzteilen begründet. Einer schlechten Alternative, weil für die benötigten Originalteile keine Valutamittel zum Kauf im Westen vorhanden waren.

Ähnlich gestaltete sich später die Aufklärung von Produktionsausfällen, die ein IM aus einem Stahlwerk im Harz gemeldet hatte. Hier lagen die Ursachen jedoch vornehmlich in defekten Anlagen und der mangelnden, fachlichen Kompetenz einiger Bedienkräfte.

Kurzum: Leutnant Bruhns beschäftigte sich hauptsächlich mit gravierenden, technischen Mängeln und fehlenden Materialien. Obendrein mit unzureichend qualifizierten aber parteigebundenen Fachkräften. Auch bei einer Reihe staatlicher Leiter wurden fachliche Defizite festgestellt. Das alles betraf nicht irgendwelche »Klitschen«, sondern so genannte »Volkswirtschaftliche Schwerpunktbetriebe« der DDR.

Dessen ungeachtet wurde Bruhns ein Jahr später, zum »Jahrestag der Republik«, vorzeitig zum Oberleutnant befördert.

Ob sein maßgeblicher Anteil bei der Aufdeckung einer Straftat in der Forschungsabteilung einer Hochschule dabei den Ausschlag gab? Er hinterfragte es nicht. Immer öfter aber kamen ihm Zweifel an dem, was tagtäglich machte.

Etwa diese unsäglich bornierte Jagd auf angebliche Verdächtige. Die letztlich nichts mit den zum Teil katastrophalen Ergebnissen in der Produktion der betreffenden Betriebe zu schaffen hatten. Auch irritierten ihn bisweilen die wahren Ursachen von Störungen, die ihm inzwischen bekannt waren. Die aber nicht öffentlich gemacht wurden, sondern verschwiegen werden mussten!

Darüber hinaus nahm er auch weiterhin an Schulungen zu technischen Ermittlungsverfahren und der Behandlung von verschiedenen Kampfmitteln teil. Aber schließlich kam der Tag, an dem sich Bruhns eingestand, dass diese Aufgaben auf Dauer nicht seinen beruflichen Ehrgeiz befriedigen konnten.

Doch just zu dieser Zeit ereigneten sich in den oberen Regierungskreisen des Landes überraschende Dinge, die auch sein weiteres Leben verändern sollten.

Im Jahre Zweiundachtzig beschloss das Zentralkomitee der Partei die erneute Teilnahme der DDR am Erdgasleitungsbau in der UdSSR. Sie erklärte dieses Vorhaben zum »Zentralen Jugendobjekt«.

So konnte man es von nun an täglich im Zentralorgan und in der »Jungen Welt« in großer Aufmachung lesen. Selbstverständlich berichtete auch das »Fernsehen der DDR« darüber ausführlich auf beiden Programmen.

Im Ministerium bildete man umgehend einige neue Abteilungen. In eine davon wurde Oberleutnant Bruhns als »Offizier im besonderen Einsatz« im September des Jahres Dreiundachzig abkommandiert. Die Zeit bis dahin fristete er in seiner alten Abteilung.

»Und alles ist genauso, wie wir es vor zehn Jahren schon mal für das Vorhaben »Drushba Trasse« in der Ukraine gehandhabt haben!«, sagte ein altgedienter, wissend wirkender Genosse, der ihn dort begrüßte.

Denn die notwendigen Strukturen und die meisten Erfahrungsträger waren noch vorhanden. Und vor allem lagen die vor gut zehn Jahren aufwendig erarbeiteten Verfahrensweisen schon bereit. Jetzt wurden sie rasch entstaubt und aktualisiert.

Jene Abteilung jedoch der Bruhns nunmehr angehörte war völlig neu in ihrer Aufgabenstellung. Und sie wurde zudem als »Streng geheim« eingestuft.

Deren Mitarbeiter sollte eine einzige aber spezielle Aufgabe auf allen drei Bauabschnitten der Erdgastrasse lösen. Die konkreten Zielstellungen wurden nur den unmittelbar damit befassten Kräften bekanntgegeben.

Der Codename für diese Abteilung lautete »BFC«.

Die Einarbeitung in das geheime Projekt dauerte gut zehn Monate. Etwa ein Dutzend Fachleute wurde damit betraut. Sie erarbeiteten technologische und waffentechnische Voraussetzungen sowie Transportlinien und Notfallpläne.

Danach wurde Michael Bruhns als diplomierter Ingenieur endlich verdeckt lanciert. Zuvor gingen zwei seiner Genossen diesen Weg.

Von da an galt er offiziell als einer der Delegierungskader des Generallieferanten der Erdgastrasse »UGS-Mittenwalde«.

Nach wenigen Tagen der Bereitschaft war es so weit. Im Sommer Vierundachtzig ging seine Abreise auf den Bauabschnitt Ural der Erdgastrasse vonstatten.

Umfassend getarnt als Bauleiter flog er inmitten dutzender Trassenkumpel erstmals in die Sowjetunion.

Anfangs kam er nach Gornosawinsk dem am weitesten von der Heimat entfernten Standort. Der befand sich in der Nähe der Grenze zwischen Europa und Asien.

Nachdem unter seiner Leitung die spezielle Operation auf dem dortigen Verdichter abgeschlossen werden konnte, setzte Bruhns westwärts um. Nach Prokowski.

Er war der felsenfesten Überzeugung, dass er auch hier das Vorhaben ohne Probleme realisieren würde. In diesem Sinne arbeitete er gemeinsam mit der Gruppe der ihm zugewiesenen Genossen auf einen planmäßigen Projektabschluss hin.

Ost-wärts

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