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8.

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Bald war ein halbes Jahr seit der Praxisgründung ins Land gegangen. Britta und Herbert hatten sich alles in allem ganz gut in der Landeshauptstadt eingelebt, die sich aber jetzt im November auch nicht gerade von ihrer schönsten Seite zeigte: Grauverhangener Himmel, Dauerregen und eine fast schon winterliche Kälte drückten auf die Stimmung. Die sonnigen Tage und die beschwingte Atmosphäre der Kieler Woche waren mit dem Schlussfeuerwerk abrupt vorbei gewesen und jetzt lange vergessen. Es schien, als hätte alles in einer ganz anderen Zeit und am anderen Ort stattgefunden.

Vielleicht war der Herbst ja die Zeit, mal wieder im Glückstempel einzukehren, dachte Herbert, Herr Nielsen von der Hausbank hatte sich für nächste Woche schon wieder angemeldet – aber nicht als Patient: Er wollte ein Gespräch über die Tilgungsmöglichkeiten des Betriebsmittelkredits führen, von Bürgschaften und Umschuldung war vage die Rede gewesen…

Ideal wäre jetzt ein Lotto-Jackpot – oder ein schöner Gewinn beim Roulette, das würde alles erträglicher machen.

Tatsächlich wurde der Samstagabend ein echtes Highlight: Nach dem kleinen Showprogramm, das Huber neuerdings alle vier Wochen präsentierte – mal Chansons, mal Comedy, mal ein Artist oder Zauberkünstler – alles sauber und stubenrein – wurden die Spielwütigen an die Tische gebeten.

Der freundliche Herr hatte sie wie immer bestens gelaunt willkommen geheißen und einen Daumen zum Zeichen seiner besonderen Glückserwartungen in die Höhe gereckt.

Herberts „System“ funktionierte auch diesmal: 500 DM wurden in Chips getauscht, die Hälfte auf rot / schwarz oder pair / impair gesetzt und der Gewinn weiter riskiert. Bei 250 Restguthaben hörten sie konsequent auf, oder bei 1000 Mark Gewinn. - Heute schafften sie tatsächlich wieder den Tausender Gewinn. Besonders Britta wachte über dieses strenge „Reglement“, und Herbert überlegte, vielleicht auch mal ohne sie aufzukreuzen, um etwas freier disponieren zu können.

Schon an einem Sonnabend vier Wochen später ergab sich tatsächlich diese Gelegenheit, weil Britta plante, zu ihren Eltern nach Hamburg zu fahren und dort auch ein vorweihnachtliches Klassentreffen ansteuern wollte, dem ersten nach über 10 Jahren, die seit dem Abi vergangen waren. Also würde sie über Nacht bleiben, und Herbert zählte die Stunden und war fast froh, als sie nach kurzem Abschied endlich um 18 Uhr 30 losgebraust war. Sie hatte sich zu seinem Ärger einen schnittigen Stadtflitzer zugelegt, ganz schön teuer, aber die Hälfte hatte Papi zum 29. Geburtstag gestiftet.

Um 20 Uhr schlug Herbert auf bei seinem Spielsalon an der Wasserkante. Dem Vorprogramm konnte er heute nur wenig abgewinnen, gedachte sich aber einen guten Platz zu sichern, schließlich wollte er spielen und Geld verdienen – mit etwas mehr Risiko vielleicht, aber wohldosiert.

Er hatte den Gewinn-Tausender vom letzten Mal gut verwahrt und jetzt gleich nach Betreten des Kasinos in Jetons eingetauscht. – Heute wollte er sich nicht mit halben Sachen abgeben!

Der erste Coup vermehrte die eingesetzten 250 glatt aufs Dreifache: Mit 1500 würde er einiges bewegen können.

Auf Einzelzahlen wollte er allerdings nie setzen. Trotz der Gewinnchance vom 34-fachen schien ihm das Risiko dann doch zu groß zu sein. Wohl aber wollte er mal 50 Mark auf ein 6er-Päckchen setzen oder auch 20 auf einen 2er-Block.

Allmählich begriff er den Reiz des Spiels: Es ging darum, die kontrollierte Freude am Gewinnen mit dem verhaltenen Ärger über einen Verlust in eine feine Balance zu bringen. Es war also nicht der große Jubel über einen Riesengewinn, der ihn erschauern lassen würde, sondern das heroische Gefühl, Herr seines Schicksals zu sein, das Glück oder Pech, das ihm von dieser läppischen, zufällig rollenden Kugel aufgezwungen werden sollte, in seine eigene Hand zu nehmen und es zu meistern.

Das musste ihm gelingen, das ließ ihn den Alltag vergessen und erfüllte ihn mit nie gekannter Befriedigung. Der Geldgewinn, der ihre Praxisschulden schmelzen lassen sollte, wurde allmählich zum schönen Nebeneffekt.

Beseligt strich er sich am späten Abend den erneuten Gewinn ein und wusste, dass hier ein eigenes Glück auf ihn wartete, das er nie mit Britta teilen wollte, die für solcherlei Gefühle so gar keinen Sinn haben würde.

Er beschloss, häufiger herzukommen, wusste aber im Inneren, dass diesem Versuch etwas Verbotenes zugrunde lag, dass er die Tür zu einem Raum seines Wesens geöffnet hatte, der ihm bislang verborgen gewesen war. Das faszinierte ihn, machte ihm in anderen Momenten wohl auch Angst, die er zu unterdrücken lernen musste. Er beschloss, Britta nichts davon zu erzählen.

Er wollte sie immer mal wieder am Samstag oder Sonntag mitnehmen, wenn sie in feiner Robe das Showprogramm genießen und ein paar harmlose Spielchen machen könnten. Unter der Woche würde er ohne sie erscheinen, um seiner wachsenden Leidenschaft zu frönen.

Er hatte sich gleichzeitig bei einem Fitness-Studio angemeldet und einige Trainingseinheiten absolviert, da durfte man zu fast jeder Tages- und Nachtzeit erscheinen, alles war auf größtmögliche Flexibilität ausgelegt. Für Britta erschien es sofort plausibel, dass er den zahnarzttypischen Rückenbeschwerden vorbeugen wollte. Auch dass er vorgab, sich mit anderen Muskelprotzen ab und an zu Klönschnack und Bier treffen zu wollen, fand sie ganz in Ordnung, und das zerknüllte feuchte Handtuch im Wäschekorb ließ keinen anderen Verdacht aufkommen. Schließlich hatte sie ja auch ihren Ausgleich beim Reiten und in der Beschäftigung mit ihrem Pferd, einer Leidenschaft, die Stunden wie im Fluge vergehen lassen konnte.

Herberts Wege aber ließen den Fitness-Tempel immer wieder links liegen und führten ihn zum Glitzerhaus der Glücksgefühle, die ihm die magische Kugel im Roulette-Kessel verschaffte.

So kam es wie es kommen musste: Irgendwann begann sich das Blättchen zu wenden. Anfangs glaubte er noch, die spieltypischen Höhen und Tiefen zu erleben, und es war ihm Ehrensache, die Verluste mit einem coolen, nonchalanten Lächeln zu quittieren und seinen inneren Aufruhr niemanden merken zu lassen.

In den vergangenen Wochen und Monaten war er sehr mit sich und seinen neuen starken Gefühlen beschäftigt gewesen und hatte dabei niemals bemerkt, wie der aufmerksame Herr Huber anfangs seine Hand über Herberts Glück gehalten hatte, wie er dem geschickten Croupier immer mal wieder mit vielsagendem Blick oder kurzem Nicken einen Wink gegeben hatte durch besonderes Drehen der Scheibe oder verzögertes Werfen der Kugel, das Glück in die richtige Richtung zu lenken. So hatte er ihn gezielt angefüttert und ihm dabei nur Gutes getan; was wäre daran zu tadeln gewesen? Die Gewinne waren sehr real.

Jetzt aber zog er langsam die schützende Hand ab von seinem bereitwilligen „Opfer“, den Glanz in Herberts Augen und die sich steigernde Lust am Spiel hatte er durchaus bemerkt; sein Kennerblick hatte so etwas nicht zum ersten Male beobachtet.

Er würde auch auf seine Kosten kommen. Natürlich manipulierte er seine Kessel nicht, das war auch gar nicht notwendig. Als Profi wusste Huber genau, dass die Gesetze der Physik und der Statistik den Saldo von Gewinn und Verlust schließlich immer zugunsten der Spielbank ausgehen ließen. Wenn die Psychologie des Spiels einmal verfangen hatte, musste er sich nur zurücklehnen und abwarten…

Als Herbert zum ersten Mal alle getauschten und alle gewonnenen Jetons verloren hatte und auch die 200 Mark, die er als eiserne Reserve und um seine teuren Drinks zu bezahlen, immer noch in der Hosentasche vergraben hatte, restlos verspielt waren und er frustriert gehen wollte, kam Huber lächelnd auf ihn zu und bot ihm lächelnd Kredit an: „Zinslos selbstredend“. Er habe ihn doch als Ehrenmann mit gut gehender Zahnarztpraxis kennengelernt.

Herbert unterschrieb sofort den vorbereiteten Revers über 2000 D-Mark und erhielt diese gleich in Spielgeld ausgezahlt: „No problem!“

Also spielte er weiter, die halbe Nacht lang mit Höhen und Tiefen – aber doch mehr Tiefen…

Den letzten Hunderten setzte er zum Neuaufbau auf „rot“ – und es kam „schwarz“: alles verspielt!

Zerknirscht fuhr er nach Hause. Brittas fragende Blicke angesichts seiner Übellaunigkeit am nächsten Morgen beantwortete er mit der knappen Auskunft, er hätte sich beim Bier über blöde Zahnarztwitze eines Sportskameraden maßlos geärgert.

Die Praxis lief bis Weihnachten gar nicht einmal so schlecht, das vierte war schon bei seinem Vorgänger stets das stärkste Quartal gewesen: Jetzt kam die Menge der Säumigen, die Zahnarztbesuche nicht besonders liebten, aus Pflichtgefühl oder aus Angst vor Zahnschmerzen aber den Aufforderungs-Kärtchen Folge leisteten, mit denen Herbert und Britta das Klientel zur Jahresend-Kontrolle motivieren wollten.

Zweimal täglich Zähne putzen – zweimal jährlich zum Zahnarzt“, der alte Merkspruch aus den Sechzigern war vielen Patienten immer noch vertraut und wurde an die folgende Generation weitergegeben. Einmal im Jahr zu Kontrolle zu gehen, war also für etliche das Mindeste, und auch das „Bonusheftchen“ der Krankenkasse erfüllte seinen Zweck, weil es denen, die ein Jahr versäumten, einen deutlich niedrigeren Zuschuss für gegebenenfalls nötigen Zahnersatz androhte.

Britta liebte diese Kontroll- und Vorbeugungstermine: Sie entfernte den Patienten den Zahnstein, beriet sie in Sachen erwünschter Prophylaxe-Sitzungen und machte möglichst keine weitere Therapie, bestenfalls mal eine Füllung, wenn genügend Zeit war, und eventuell wurde dann noch ein Folgetermin vereinbart. Sie verwandte Silberamalgam wie die Kasse es vorsah, oder den nicht so stabilen aber quecksilberfreien Glasionomer-Zement, seltener auch zahnfarbenen composite-Kunststoff, wenn die Patienten es verlangten und dafür zubezahlen wollten. Sie hasste die ewigen Debatten über Zuzahlungen und Amalgam und hatte fast immer zufriedene Patienten, die aber meist erst in einem Jahr wieder erscheinen würden.

Herbert hatte ihr schon öfters zu verstehen gegeben, dass damit nicht viel zu verdienen sei und versuchte, den anderen Weg zu gehen, der jedem zweiten Patienten als „Goldstandard“ angepriesen wurde: Amalgam musste raus, Karies sowieso, dann die Planung von adhäsiven Kunststoff-Füllungen mit angemessener Zuzahlung, besser noch Gold- und Keramikinlays als gänzliche Privatleistung oder Kronen, Kronen, Kronen empfehlen!!

Dass er es konnte, hatte er schließlich bei dem famosen Herrn Huber unter Beweis gestellt; von solchen Patienten gab es einfach zu wenige…

Allerdings lag auch ihm die Überzeugungsarbeit für die kaufmännische Seite, die jeder Kollege lernen musste, nicht besonders und auch die Erklärung der diversen Abdingungsformulare und Zahlungsverpflichtungen war ihm ein innerer Graus, auch wenn er es immer aufs Neue versuchte.

Zuhauf verließen verwirrte Patienten kopfschüttelnd die Praxis, die meisten, nachdem sie etwas wie „Bedenkzeit“ und „vielleicht im nächsten Jahr“ gestammelt hatten.

Irgendetwas mussten sie beide wohl falsch machen, und sie ahnten schon, dass nach dem Dezember-Strohfeuer bald das Januar-Loch folgen würde.

Erst einmal verdrängten sie aber die düsteren Zukunftsgedanken und beschlossen, die Praxis vom 23. Dezember bis zum 2. Januar auf jeden Fall zu schließen und Weihnachtsferien zu machen.

Beide waren sie Einzelkinder und so fuhren sie am Tag vor Heiligabend jeder für sich nach Hause, wo sie von den Eltern gerne erwartet wurden. Bei Britta wurde hanseatisch-nobel und evangelisch gefeiert: Man ging nicht oft in den Gottesdienst, aber an Heiligabend - wie übrigens auch zu Karfreitag - gehörte es irgendwie dazu, und wenn schon, dann in die Hamburger Hauptkirche, den „Michel“. Hinterher tauschten sie zuhause ziemlich teure Geschenke aus, am 1. und 2. Weihnachtstag luden sie sich gegenseitig zum gepflegten Essen in Restaurants ein.

Bei Herberts Eltern im eher ländlichen Burgwedel, nicht weit von Hannover, ging es etwas rustikaler zu. Seine Mutter kochte gern, meist gab es an den Feiertagen Gans, Hirsch oder Rehrücken aus der wildreichen Umgebung. Außerdem war die Familie katholisch und die Eltern pflegten sonn- und feiertags zur St. Petrus- Kirche zu streben. Sie fühlten sich der Gemeinde doch ziemlich verbunden, Herbert war es in Kinder- und Jugendzeiten auch gewesen.

Am Nachmittag des Heiligen Abends ging er mit den Eltern in den Familiengottesdienst mit Krippenspiel, auch weil sie die kinderreiche Familie der Schwester seiner Mutter treffen wollten. Die vier Kinder gingen noch zur Schule, aber nicht nur in ihren glänzenden Augen spiegelte sich die Vorfreude auf Weihnachten. Andächtig folgten alle der Aufführung, den Gesängen und den feierlichen Worten des Pastors. Nach dem Gottesdienst saß man noch etwas mit der Verwandtschaft im Gemeindehaus, wünschte allen frohen Weihnachtssegen und tauschte kleine Geschenke und Basteleien aus, die Kinder schienen sich ehrlich zu freuen. Die zuhause folgende Feier nach dem Festschmaus zu dritt war wie immer von Liedern und feierlicher Stimmung unterm Christbaum getragen.

Herbert hatte den Eltern eine handgeschnitzte Krippe aus dem Erzgebirge geschenkt, wie sie jetzt – ein paar Jahre nach der „Wende“ - überall auf den Weihnachtsmärkten angeboten wurden; die alte Krippe seiner Kindheit mit den Pappmache´- Figuren hatte seines Erachtens ausgedient. Seine Mutter hatte ihm einen winterlichen Pullover gestrickt, sein Vater schenkte ihm ein Hochglanzbuch über abstrakte Kunst, weil er glaubte, dass einer, der die Kunst der zahnärztlichen Prothetik beherrschte, auch Ästhet sein müsse…

Die Eltern hatten es sich seit vielen Jahren zur Angewohnheit gemacht, um 24 Uhr ein zweites Mal zur nah gelegenen Kirche zu pilgern, um in die besondere Stimmung der Mitternachtsmette einzutauchen. Eigentlich verspürte Herbert wenig Lust zu diesem Ritual, wollte lieber Nüsse knacken und sich dem vorzüglichen Tempranillo widmen, den sein Vater abends entkorkt hatte. Dann besann er sich jedoch und ging seinen Eltern zuliebe doch mit. Er hatte es lange nicht mehr erlebt, aber die abgedunkelte, nur von den Kerzen am Altar und an den Enden der Bänke flackernd beleuchtete Kirche, die festlich-erhabene Atmosphäre – ohne Kindergeplapper – und die vom Kantor gesungenen Worte des „Römischen Martyrologiums“ verfehlten auch auf ihn nicht ihre Wirkung:

„…In der 194. Olympiade, im Jahr 752 seit der Gründung Roms, im 42. Jahr der Regierung des Oktavianus Augustus, als auf der ganzen Erde Friede herrschte, im sechsten Weltzeitalter wollte Jesus Christus, ewiger Gott und Sohn des ewigen Vaters, die Welt durch seine allerfrömmste Ankunft heiligen…“ „Es ist ein Ros´ entsprungen…“, setzte die Orgel zum Einzug des Priesters und der Ministranten ein, und die Gemeinde sang inbrünstig das alte barocke Weihnachtslied, in dem das Röslein Maria durch die Geburt Jesu mit seinem hellen Scheine die Finsternis vertreibt. Und ja, Herbert war ergriffen. Auch als der alte Pfarrer die Geschichte aus dem Lukas-Evangelium vortrug, dass dort in Bethlehem ein Weltenretter geboren sei, als Hirten in der Nähe bei ihren Schafen wachten, trafen ihn die alten Worte, die er doch schon in und auswendig kannte, tiefer, als er es früher gespürt hatte.

Jahrelang war er hier selber Messdiener gewesen, war schon mit 8 Jahren, kurz nach seiner Erstkommunion, am Altar herum gestolpert. Einmal hatte er sich die Ponyhaare an der Stablaterne angesengt, die er als „Akolyt“ und Lichtträger zu halten gehabt hatte. Auf die Schriftworte indes hatte er kaum geachtet, auch als er die Epistel später selbst vom Ambo vortragen durfte. Das Ganze war ihm eher wie eine erhabene Bühnenshow vorgekommen, in die man wie in eine Märchenwelt hatte eintauchen dürfen, zu Weihnachten und jeden Sonntag aufs Neue. Mit 15 war er aus dem „Kinderkram“ ausgestiegen und hatte den roten Rock dann nie wieder übergestreift; nur den Eltern zu gefallen war er seitdem sporadisch mit zur Messe gekommen. Seitdem war seit Jahren nichts mehr bei ihm angeklungen. Doch wie ein Wetterleuchten aus großer Ferne traf ihn heute die erhabene Stimmung; sollten die uralten Worte von der Herrlichkeit des Retters der Welten am Ende etwas mit ihm zu tun haben? In Kiel jedenfalls hatte er sich so wenig wie vorher in Tübingen und während seiner Assistentenzeit darum gekümmert und Kirchen nur von außen gesehen oder im Urlaub mal als Kunstobjekte bewundert. Am „3. Feiertag“ fuhr er dann zurück und freute sich noch über ein paar freie Tage. Vielleicht würde der schmale Rest des Jahres ja doch noch einmal etwas Glück bringen…

Britta wollte erst zu Silvester zurückkehren, und so blieb ihm noch einige Zeit für sich allein.

Gleich am 27. Dezember, einem Sonntag mit ungewöhnlich milder Witterung, nahm er sein Fahrrad und fuhr hinunter ans Fördeufer. An der Kiellinie waren jetzt am späten Nachmittag noch viele Spaziergänger unterwegs und genossen die letzten, unerwarteten Sonnenstrahlen. Bei Einbruch der Dämmerung fuhr Herbert vom Seehundbecken her, in dem sich die weihnachtlich angespeckten Tiere nur in Zeitlupe bewegten, wie in Gedanken einfach weiter in Richtung Innenstadt. Vorbei am Seeburg- Restaurant kam er zu den Terminals der Fähren nach Dänemark, Schweden und Norwegen. Das müsste doch die riesige „Prinzesse Ragnhild“ aus Norwegen sein, die da auslief, um sich nach Oslo auf den Weg zu machen. Das Schiff war hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Auf dem 8. Deck ganz oben standen Menschen an der Reling im Zwielicht und winkten einigen Kielern zum Abschied zu. Manche winkten zurück, auch Herbert, der sich wehmütig an einen Sehnsuchtsort weit weg vom norddeutschen Getriebe in die einsamen Weiten Skandinaviens wünschte. Jetzt waren es nur noch einige hundert Meter – entlang der kurzen Kieler Rotlichtmeile – da flackerte ihm glitzernd der bekannte Schriftzug des Glückspalastes vom östlichen Ufer her entgegen.

Es war erst kurz nach 5, und trotzdem sah er hell erleuchtete Fenster, die ihn magisch anlockten. Sie hatten heute tatsächlich geöffnet und luden ein zur „happy hour“, alle Cocktails und alkoholischen Getränke gab´s zum halben Preis. Er schloss sein Fahrrad an einen „Kieler Bügel“ am kleinen Hafen an und trat ein in die magische Welt aus Glamour und Verführung. In der weihnachtlichen Christmette hatte er den Vorsatz gefasst, das Spielerkapitel zu beenden, vielleicht würde er sich auch trauen, die Eltern um einen Kredit zur Ablösung der schlimmsten Schulden zu bitten, dann würde es schon weitergehen. Jedenfalls hatte er bewusst kein Geld eingesteckt, um nicht in Versuchung zu geraten. – Eigentlich besaß er ja sowieso keines, sein ganzes Leben lief auf Kredit.

Der große Saal war in rötliches Schummerlicht getaucht. Herr Huber saß an der Bar und scherzte mit der wenig beschäftigten Mitarbeiterin dahinter: „Dokterchen, kommen´s näher, habe die Ehre… und Frohe Weihnachten! Kleines Spielchen gefällig?“

Herbert erzählte ihm von seiner Misere und war erst mal froh, dass der andere nicht gleich auf die noch ausstehenden 2000 Mark Spielschulden zu sprechen kam. „Alles kein Problem, guter Doktor, Sie hab´n doch Sicherheiten… Was brauchen´se, 5000?“ „So einfach ist das?“, dachte Herbert verblüfft, offenbar glaubte hier jemand an sein Potential… Und mit etwas Glück würde er das Kapital schnell vermehren und auch den lästigen Wadenbeißer Nielsen von der Bank zufriedenstellen können, der sich schon wieder für den 8. Januar zum Gespräch angemeldet hatte. Die Zeit verging an diesem Abend wie im Fluge: Schon war die „happy hour“ und die Schummerstunde beendet, die kristallenen Kronleuchter funkelten jetzt von der Decke und die grünen Tische mit den magischen Kesseln wurden abgedeckt.

Erst ließ es sich ganz gut an, die silberne Kugel war ihm hold, schnell stand sein Saldo auf 7000 Mark und angenehme Glücksgefühl liefen ihm über den Rücken. „Jetzt könnte er eigentlich Huber die 5000 plus den ersten 2000er- Kredit zurückzahlen“, schoss es Herbert durch den Kopf – eine theoretische Möglichkeit…, die er aber genauso schnell wieder verwarf: Jetzt musste er die Glückssträhne nutzen und sein Schicksal in die Hand nehmen! Kurz darauf begann er zu schwitzen: Die Berg- und Talfahrt hatte begonnen.

Nach drei Stunden rauschhaften Spiels war er wieder auf Null und den Tränen nahe.

„Schlaf dich aus, mein Junge“, sagte der maskenhaft dauerlächelnde Huber, „wann arbeitest du wieder?“ „Am Montag nach Neujahr, meinte Herbert zerknirscht, „am 4. Januar“.

„Nun ja, da komm ich vorbei, wir finden einen Weg“, meinte Huber und rieb Daumen und Zeigefinger, als könnte er Geld herbeizaubern…

Zu Silvester tauchte Britta wieder auf; in ihrem Sportflitzer hatte sie nur eine Stunde über die mittags ziemlich leere A7 gebraucht. Sie war aufgeräumter Stimmung. Abends wollten sie doch zum Neujahrsball im Terminal am Oslokai, der war hier in der Provinz das Highlight des Winters und konnte sich fast mit den Bällen in der Hansestadt messen.

Herbert hatte eigentlich überhaupt keine Lust, durfte sich aber über die Gründe seines Stimmungstiefs nichts anmerken lassen. Außerdem hatten sie die Veranstaltungskarten schon vor zwei Monaten gekauft. Von ungeregelten Schulden durfte er Britta auf keinen Fall erzählen, so etwas kam in ihrem Weltbild nicht vor: Ihr Vater war vermögend - und Hanseat, der würde Herbert für den kompletten Versager halten, Schuldenmachen stand für den auf einer Stufe mit Mord und Totschlag!

Ihre Eltern hatten Britta zu Weihnachten einen originellen Gutschein für ein schickes Ballkleid geschenkt; am 28. Dezember war sie mit ihrer Mutter in die Mönckebergstraße gepilgert und in der teuersten Boutique fündig geworden: Ein Traum aus Seide und Chiffon! Sie freute sich wie eine Schneekönigin auf den Silvesterabend.

Und der Abend wurde auch traumhaft: Kiels beste Showbands spielten auf den Dancefloors. Herbert und Britta konnten endlich wieder Walzer und Quickstepp tanzen und all die anderen Sachen, die sie in drei Tübinger Tanzkursen gelernt hatten, die also immerhin nicht ganz umsonst gewesen waren: Sie hatten es noch drauf und schwooften, bis um Mitternacht das große Feuerwerk, das über der Innenförde niederging, alle Gäste an die Fenster und auf die Balustrade lockte.

„Prosit ´93, Schiet op ´92“, wünschte man sich allenthalben und ließ die Sektgläser klirren. Dann wurde bis in den frühen Morgen weitergetanzt. Was das Neue Jahr wohl wirklich bringen würde?

Es ist nie zu spät...

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