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Britta ließ die Sache eher ruhig angehen. Sie war durch und durch Hanseatin und neigte nicht zu selbstproduzierten Katastrophen. Ihr ganzer Lebensweg war bisher geradlinig und leistungsorientiert verlaufen: Mit 19 Abitur im Hamburger Wilhelms-Gymnasium, mit 20 Studienbeginn. Zahnmedizin konnte man schließlich auch nebenan in Eppendorf studieren, und sie war sofort zugelassen worden – mit Abi-Durchschnittsnote 1,4 – das hatte gerade noch gereicht. Sie war effektives Arbeiten gewohnt und wusste, was sie wollte.

Schon an der Schule hatte sie immer nur so viel getan wie unbedingt nötig war, um zwischen 15 und 10 Punkten in ihren Kursen zu erzielen, das war zwischen 1 und 2.

Wenn sie - was selten genug vorkam – eine Arbeit verhauen hatte, ging sie zur Lehrkraft, knipste ihr berückendes Lächeln an und versprach, dass es ihr ein Leichtes wäre, eine Schippe draufzulegen. Das tat sie dann auch, und der Notenschnitt pendelte sich bald wieder auf das gewohnte Niveau ein. Immer war ihr noch genügend Zeit geblieben für das Reitpony, das ihr die Eltern zum 12. Geburtstag geschenkt hatten und das zum 17. gegen ein ganz ansehnliches Dressurpferd ausgetauscht wurde, einen 8-jährigen Hannoveraner Rapp-Wallach mit den besten Anlagen, nicht billig, aber ihre Eltern betrieben ein mittleres Taxi-Unternehmen und hatten nur die eine Tochter…

Eigentlich kriegte Britta immer alles, was sie wollte, mit 16 auch den Klassenprimus, der gar nicht gewusst hatte wie ihm geschah, als sie ihm in der Schüler-Disko schöne Augen machte. Jedenfalls hatte es sich für sie ausgezahlt; die 1,4 im Abi 1984 waren ganz okay und würde sie den numerus clausus für Zahnmedizin locker überspringen lassen.

Das Abitur war in den 80ern auch nicht mehr das, was es mal gewesen war: Die „Sekundärtugenden“ früherer Tage hatten endgültig ausgedient: Warum noch Formeln, Geschichtszahlen und Vokabeln pauken, fast alles ließ sich doch spielend über „learning by doing“ erreichen. Geschickt hatte Britta ihren Schwerpunkt und die Leistungskurse auf „Soziales, Wirtschaft und Politik“ gelegt, dazu wählte sie noch Grundkurse in Biologie und Erdkunde und anstatt Religion lieber „Philosophie und weltanschaulichen Unterricht“.

Ihr selbstbewusstes Auftreten und die intuitive Eloquenz, die ihr eigen war, erwiesen sich in diesen Fächern schon als „halbe Miete“ für gute Noten. In den Mathe- und Physik-Grundkursen dagegen ließ sie sich manchmal von ihrem Freund coachen, außerdem war der Fachlehrer für ihren gespielt naiven Augenaufschlag nicht unempfänglich.

Zur großen Abi-Feier schritt sie noch mit ihrem linkischen Primus zu den Klängen einer Pop-Hymne durch den Bodennebel über die Bühne des Ballsaals. Es war eine rauschende Nacht gewesen, aber am nächsten Morgen packte sie ihre Koffer für den von Papa spendierten Zweimonats-Trip durch die Vereinigten Staaten.

Nach ihrer Rückkehr ließ sie den Favoriten ihrer Jugend kühl abblitzen: Jetzt kam bald die Uni, und da musste sie sich alle Optionen offenhalten.

Das erste Semester wurde wider Erwarten hart. Nicht dass Britta Probleme mit dem theoretischen Teil bekam; in Biologie hatte sie immer gut aufgepasst und sich wegen ihres Pferdehobbys auch für einschlägige Krankheiten interessiert, seien sie durch Amöben, Bakterien oder Band- und Spulwürmer ausgelöst. Auch Physik und Chemie konnte sie wegen ihres Primus-Schulfreundes ganz gut nachvollziehen. Außerdem gab es einigermaßen übersichtliche Vorlesungsskripten, die den Besuch im Hörsaal weitgehend überflüssig machten. – Fürs Vorphysikum würde es schon reichen. Aber da war noch der Zahntechnik-Kurs in den Laborräumen der Vorklinik. Hier sollte sie zuerst einen übergroßen Schneidezahn aus Knetgummi modellieren – eigentlich lächerlich! - aber gar nicht mal so einfach: Jeder Winkel und jede Wurzelkrümmung mussten stimmen.

Der Kurs dauerte jeden Tag zwischen drei und fünf Stunden; der Plastilin-Zahn verschlang drei Kurstage, und bei der Abgabe – in der Schlange vor dem gestrengen Oberarzt Dr. Lehrmann wurden die Objekte mit feuchten Händen gedreht und gewendet und verglichen. Immer wieder gab der Leiter der Vorklinik ein missratenes Monster wortlos und kopfschüttelnd zurück, nicht ohne es vorher zu einer handlichen Kugel zusammen gepresst zu haben: „Bitte nochmal!“ sollte das wohl heißen.

Beim zweiten Versuch wurde Brittas Ding akzeptiert und als nächstes ein ähnliches Teil verlangt, diesmal aus einem Gipsblock geschnitzt, was sich als um einiges schwerer erwies. Nachdem alle Grübchen und Rillen eingearbeitet waren, kam der Feinschliff mit Schmirgelpapier und Nagelfeile und das Zuschwemmen zutage getretener Poren mit Gipsbrei, was die Oberfläche zwar glatter aber nicht gerade schöner machte.

Manchmal beneidete sie jetzt die Klassenkameraden ihrer frühen Schulzeit am Gymnasium, die ab der Quarta „werken“ durften, während die Mädchen wie selbstverständlich „Handarbeitsunterricht“ bekommen hatten; sie hatte das Stricken und Häkeln immer gehasst.

Bald wurde es aber in der Vorklinik interessanter: Die original grünen Zahntechnik-Modellierwachsstangen wurden ausgepackt, und auf vorbereitete Gipsmodelle eines Normgebisses in natürlicher Größe mussten Backenzahn- Kauflächen gestaltet werden. Mit Wachsmesserchen, die über Bunsenbrennner-Flammen gefährlich heiß gemacht wurden, musste nun aufgeschichtet, geformt und geschabt werden. Schließlich wurde – nach Erlangung des „Vortestats“ für die Modellation – das Ganze vom Gipskiefer abgehoben und mittels quarzhaltiger feuerfester Massen zum Guss in eine „Muffel“ eingebettet.

Spätestens als Britta in die Handhabung der großen horizontalen Federschleudern eingeführt wurde, war ihr wieder mal klar geworden: sie würde Hilfe brauchen…

Die Kommilitonen halfen sich natürlich ohnehin gegenseitig: Zu zweit standen sie ziemlich ratlos an der großen, stahlblechbewehrten, waagerechten Rundschleuder, eine holte zitternd die glühend heiße Muffel aus dem 900-Grad-„Vorwärmofen“, während der Partner die Plättchen mit goldimitierendem „Phantommetall“ im Gusstiegel mit dem Schweißbrenner auf gut 1000 Grad erhitzte. Dann musste es ganz schnell gehen: Muffel platzieren, etwas Schmelzpulver zugeben und weiterfeuern, bis die Masse rötlich-gold spiegelte, die zuvor aufgedrehte Federspannung mechanisch auslösen und schnellstens die Köpfe einziehen.

„Heute muss die Glocke werden…“ zitierten manche Scherzbolde Friedrich Schillers Gedichtklassiker. Wenn aber die glühende Muffel sich wider Erwarten aus der Mulde befreit hatte und geschossartig durch die Gussnische des Labors flog und zu Boden krachte, war den beiden „frischen Gesellen“ nicht mehr zum Lachen zumute.

Britta ahnte, dass sie bis zum Abschluss dieses Studiums noch viele Güsse zu absolvieren hätte und sann auf kompetentere Hilfe als die von ihrem freundlichen aber ebenso ungeschickten Nebenmenschen.

Sie fand sie in Karlheinz, einem nicht besonders attraktiven Pickelgesicht zwei Laborreihen weiter. Er hatte kein ganz so gutes Abitur gebaut, dafür aber schon drei Jahre Zahntechnikerlehre hinter sich und den Gesellenbrief in der Tasche.

Die zielstrebige Britta schenkte ihm ihren schönen Augenaufschlag und bat um Hilfe beim nächsten Guss. Er wurde natürlich ständig angefragt, aber da sie zur Mittagszeit verstohlen ihre Hand in die seine gleiten ließ, als sie nebeneinander zur Mensa schlenderten, war´s um ihn geschehen, und sie wurden ein „eingeschweißtes“ Team, das mindestens bis zum Physikum zusammenhalten sollte. Keine Frage, dass der gutmütige Karlheinz neben den Metallgüssen auch die ein oder andere weitere Laborarbeit für die hübsche Freundin übernahm und ihr bei Modellation, Politur und Prothesenaufstellung nach Kräften zur Hand ging.

Sie atmete tief durch und fand endlich wieder mehr Zeit für ihren mittlerweile 9-jährigen Hannoveraner, dessen Gesellschaft sie der von Karlheinz dann doch eindeutig vorzog.

Nach dem 4. Semester gab es noch den sommerlichen Ferienkurs im Labor, der mit Karlheinz´ Hilfe und zunehmender eigener Erfahrung ohne Probleme zu absolvieren war und sogar noch etwas Zeit fürs Segeln auf der Außenalster ließ. Das war Karheinz´ Leidenschaft, und Britta musste einige Male mit, um ihn sich für das Physikum warm zu halten, das ja auch einen praktischen Teil beinhalten würde.

Das 5. Semester wurde wieder anstrengend, denn neben der unvermeidlichen Büffelei für die Prüfungen in Anatomie, Physiologie und Biochemie stand auch der intensive Blockkurs in Anatomie auf dem Programm, vor dem ihr schon lange gegraust hatte.

Obwohl der kursleitende Professor seinen dicken Oberpräparator mit einem großen Lob vorstellte, hätte dieser doch erst vor Kurzem ein neues Mittel erfunden, das anstelle des altbekannt stinkenden Formalins in die Adern der blutleeren Leichen gepumpt würde, empfing die Studenten am Eingang zum Kurssaal doch ein beißender Geruch, der die Augen tränen ließ.

An Brittas ausgemergelter Männerleiche sollten vier Zahnmediziner an Kopf und Hals und vier angehende Ärzte am Rest des Körpers arbeiten. Dankbar nahmen sie zur Kenntnis, dass hier wenig blasiges Fett abgeschabt werden musste, nachdem die Haut abpräpariert war.

Unter dem flachen Platysma wurde der stärkere Musculus sterno-cleido-mastoideus freigelegt und von Ursprung bis Ansatz dargestellt. Schließlich kam in der Tiefe das Zungenbein zum Vorschein und die davon abgehenden Muskeln, deren obere Teile den Mundboden unterfütterten.

Auf einmal wurden die Zusammenhänge plastisch und klar, ganz anders als im trockenen Lehrbuch. Britta vergaß bald ihren anfänglichen Ekel und war jetzt mit Feuereifer bei der Sache. Zum nächsten Mal hatte sie ein Referat über den Kehldeckel und seine Funktion beim Schluckakt vorzubereiten und zeigte ehrliches Interesse an dem „spannenden“ Thema.

Immerhin wurde jetzt zunehmend klar, dass die Zähne in einem ganzen Menschen steckten.

Von Kurstag zu Kurstag hatten die Präparatoren die Leiche anders vorbereitet, später auch gewendet, um an Nackenwirbel, Rippen und Nieren heranzukommen. Es dauerte einige Zeit, bis sich die gestaute Flüssigkeit der Schwerkraft folgend neu verteilte.

Am Schluss waren die Leichen abgeräumt, auf jedem Tisch lag nur noch ein blankes Gehirn, das die kunstfertigen Fachleute aus der aufgesägten Kalotte entnommen hatten.

Auch diese Strukturen, denen man ihre Funktion ja gar nicht ansehen konnte, faszinierten Britta: Graue und weiße Substanz, Gyri prae- und postcentralis, Corpus callosum, Fornix, Cerebellum und Medulla oblongata, das verlängerte Rückenmark.

Der Mensch war ein Wunderwerk, das war neben allem Faktenlernen eine Erkenntnis, die Britta im Alltagsleben oft allzu schnell wieder vergaß.

Das Physikum jedenfalls bestand sie mit „gut“ und als auch der praktische Zahntechnik-Teil bewältigt war, fand sie es höchste Zeit, dem hilfreichen, aber ziemlich uninteressant gewordenen Karlheinz adieu zu sagen und ihre Fühler nach Süden auszustrecken: Der Wallach in ihrem Reitstall wurde erst einmal kostenneutral an eine ambitionierte Nachwuchsamazone verliehen; den klinischen Teil des Studiums gedachte sie in Tübingen zu absolvieren.

Lächelnd und auch ein bisschen stolz betrat Britta den Behandlungsraum ihrer eigenen Praxis: Es war Donnerstag früh, im Bestellbuch standen heute zwölf Patienten. Drei von ihnen saßen bereits im hübsch dekorierten Wartezimmer: Zwei von waren zur Halbjahres-Kontrolle einbestellt, ein dritter hatte sich mit Schmerzen eingefunden und wollte einen „gelben Schein“ zwecks Krankmeldung.

Routiniert empfing sie den ersten, schaute kurz in den Mund und beauftragte ihre Helferin, ein Röntgen-Panorama anzufertigen. Dann widmete sie sich im zweiten Sprechzimmer dem Schmerzpatienten. Hier hatten sie die nicht ganz so komfortable Behandlungsliege aufstellen lassen – in Leichtbauweise und zum abgespeckten Preis. Herrn Ludwigs Figur war allerdings eher „angespeckt“, und sie hatte etwas Mühe, die rechte Armlehne neben seinem schweren Leib herunterzuklappen.

„Schweinerei“, jammerte Herr Ludwig, „meine rechte Backe is´ ganz dick gewor´n.“

„Schweinebacke“, dachte Britta und grinste maliziös. „Schwester, Spritze und Skalpell, bitte!“ Sofort stand ihr Patient erstaunlich flink senkrecht neben der Liege, und ihr wurde klar, dass sie ihre Worte im Zaum halten musste. Nach einigem guten Zureden gelang es ihr, ihn wieder zum Platznehmen zu bewegen und eine halbwegs schmerzarme Behandlung durchzuführen: Anästhesie, Einschleifen des ursächlichen Zahns und behutsames Aufschneiden des Zahnfleischtaschen- Abszesses, gelber Schein für zwei Tage, Schmerzmittel und Penicillin auf Rezept und „auf Wiedersehen bis zum Montag!“

Herr Ludwig hatte Erleichterung, lobte die charmante Ärztin und versprach, pünktlich wieder zu erscheinen: Eine gute und zügige Schmerzbehandlung war immer noch die beste Werbung für die Praxis, das hatte sie in ihrer zweijährigen Assistentenzeit vom damaligen Chef gelernt…

Die nächsten Patienten stellten Britta heute vor keine großen Herausforderungen mehr: Sie machte ihre Zahn- Gebiss- und Gingiva- Befunde, entfernte einigen Zahnstein und vergab Termine für die ein oder andere Füllung. Fehlten ein paar Zähne, regte sie prothetischen Ersatz an und versuchte dabei überzeugend, aber nicht zu drängelig zu wirken. Übers Geld sprach sie ohnehin nicht gern und delegierte solche Gespräche an die Bürohelferin, die das leidige Thema eher halbherzig anging. Immerhin stand Britta nicht als geldgierig da wie manch andere Kollegen; die Leute ließen sich von ihr meist willig behandeln, vertagten aber teurere Zuzahlungsmaßnahmen gerne auf den Sanktnimmerleins-Tag.

Britta machte sich jedenfalls keinen Stress und kümmerte sich lieber um die Einrichtung ihrer gemeinsamen Wohnung und ums Wohlergehen ihres schwarzen Dressurpferdes. Eine große Laufbox im Kieler Hoppegarten war schnell gefunden, auch die große, sonnendurchflutete Reithalle hatte sie restlos überzeugt. Gut, der billigste Stall der Stadt war das hier nicht gerade, aber dafür gab´s immer genug Stroh in der Box und Heu und Hafer im Trog und alle zwei Jahre einen neuen Hallenboden, wie die Reiter das Geläuf aus Sand und Späne nannten.

Außerdem war der Reitlehrer ein hübscher Kerl, der schon einigen Mädels auf hübsch frisierten, teuren Pferden zu hübschen Siegerschleifen auf den Turnieren der ländlichen Umgebung der Landeshauptstadt verholfen hatte; das sollte ihr auch bald gelingen…

Sein schneidiges Auftreten imponierte Britta, er ging mit Tier und Mensch ganz anders um als ihr immer schnell fahrig werdender Herbert.

Immerhin hatte der sich nach dem Schwedenecker Surf-Desaster, das er wohl als „Schuss vor den Bug“ und rechtzeitigen Weckruf betrachtete, ein überlegteres und konsequenteres Auftreten – auch im Beruf – vorgenommen.

Gleich am kommenden Montag wollte er das umsetzen. Hatte Herr Dr. Blanke vom Zahnärzteverein nicht gerade letzte Woche beim Kollegentreff erläutert, wie es gehen musste? „Abdingung“ hieß das Gebot der Stunde. Um sich nicht mit den Brosamen der Kassenabrechnung begnügen zu müssen, sollte man jede Gelegenheit nutzen, die private Gebührenordnung anzusetzen – auch und gerade bei Kassenpatienten, die ja meist mit über 90% das Gros des Klientels stellten: Kleine Optimierungen bei Material oder Optik würden doch schließlich reichen, um das Honorar glatt zu verdoppeln. Hilfreich wäre natürlich eine schriftliche Einverständniserklärung, am besten gleich beim ersten Besuch vom Patienten unterschrieben, zu den Akten zu nehmen, damit bliebe man immer auf der „sicheren Seite“.

Am Montag erschien also Herr Meier, sein unterer 7er sollte überkront werden. Der war nach langwieriger Wurzelbehandlung jetzt mehrmals abgebrochen, da hielt wirklich keine Füllung mehr. Meier hatte sich zunächst für die günstigste Variante entschieden: silbrig glänzende Hülsenkrone in Edelstahl, solide, praktisch, zweckmäßig und preiswert – Eigenanteil nach Abzug des Krankenkassenzuschusses: 85 D-Mark!

Während der Behandlung konnte Herr Meier – flach auf dem Rücken liegend und mit Absaugrohr im Mund – nicht so viel plaudern wie es sonst im Wartezimmer und im Anmeldebereich in endlosen Tiraden seine Gewohnheit war.

Das war der richtige Zeitpunkt, ihn vom Mehrwert einer voll keramikverblendeten, hochästhetisch zahnfarbenen Superkrone zu überzeugen. Mit dem vergrößernden Handspiegel demonstrierte Herbert kurz, wie ansonsten jedermann den chromblinkenden Kunstzahn hässlich funkeln sehen könnte; dabei zog er Meiers Zunge, unter der der 7er normalerweise unsichtbar verschwand, ordentlich zur Seite.

Na also, Meier nickte verdutzt und wunderte sich noch mehr, als Herbert mit einem merkwürdigen Gestänge erschien. „Die hoch abriebfeste Keramikoberfläche erfordert natürlich eine zumindest halbindividuelle Registrierung der cranio-mandibulären Situation mittels Gesichtsbogen“ flötete der etwas offenbar Fachchinesisches heraus, was Meier aber schon nicht mehr mitbekam, weil Herbert ihm flugs die Ohrhalterungen des Bogens in die Gehörgänge stopfte. „Jetzt einmal schön in diese wachsbelegte Bissgabel einbeißen, alles horizontal ausrichten – und fertig“ murmelte Herbert mehr zu sich selbst als zu dem überrumpelten Meier. „Schnell verdienter Hunderter extra“ dachte er im Stillen, wohl wissend, dass die Superregistrierung zur Herstellung einer Einzelkrone von den meisten Fachleuten für eher überflüssig gehalten wurde.

Zusammen mit dem Mehrhonorar für die Keramik und der größer werdenden Laborleistung würde Herr Meier nächste Woche gut 260 Mark mehr zahlen müssen als er vielleicht glaubte; der dicke Mercer, mit dem er immer vorfuhr, verriet doch wohl, dass er es auch konnte…

Nachdem noch die üblichen Abdrücke genommen und das Provisorium auf den Zahnstumpf gesetzt war, bedankte sich der Patient für die zügige und schmerzfreie Behandlung und versprach, in acht Tagen wie üblich pünktlich zu erscheinen.

Dann würde es sich wieder einmal auszahlen, dass Herbert eine fundierte, wenn auch manchmal als schikanös empfundene Ausbildung an der renommierten Tübinger Zahnklinik genossen hatte. Wehmütig dachte er an die spannende Zeit des klinischen Studiums zurück, das er vor gut zweieinhalb Jahren abgeschlossen hatte:

Nach dem ziemlich schwierigen Physikum, das er nur im praktischen Prothetikteil gut, ansonsten eher schwach bestanden hatte - die Paukerei in den medizinischen Grundlagen der Anatomie, Physiologie und Biochemie war nicht gerade sein Ding gewesen - hatte er sich auf die Arbeit am Patienten gefreut, die ihm liegen würde und den Kopf nicht so rauchen lassen sollte.

Sein Vater in Burgwedel hatte angeblich immer Freude am Beruf und der Arbeit mit dankbaren Patienten gehabt und ihn auch schon kleine Behandlungen unter Aufsicht machen lassen: Sogar einfache Extraktionen durfte er bei gutmütigen Patienten das ein oder andere Mal ausführen. Auch Füllungen aus Zement, Amalgam und Kunststoff hatte Herbert schon einige Male fabriziert, nachdem der Vater die Zähne gut ausgebohrt und vorbereitet hatte.

So machte ihm die Arbeit am Gummikopf, die im ersten klinischen Semester auf ihn zukam, wenig aus. Die Kunststoffzähne, die in die Kiefer des „Phantomkopfs“ eingeschraubt waren, zu präparieren, machte ihm sogar Spaß, obwohl es indirekt, mit Funzellicht und Zahnarztspiegel, gar nicht so einfach war: Wer erwischt wurde, dass er den Kunststoffkiefer oder einzelne Zähne aus dem Kopf herausschraubte, um alles schneller in der Hand zu beschleifen, wurde disqualifiziert und musste den Kurs wiederholen. Das war tatsächlich seinem Freund Diether aus der Physikums- Arbeitsgruppe passiert, mit dem sich Herbert den Kursplatz geteilt hatte.

Sie assistierten sich wechselseitig als „Helferin“ und teilten Freud und Leid. So sollte es eigentlich auch im 2.Klinischen Semester weitergehen, wo man an echte Patienten kommen sollte.

Aus dem Plan wurde nichts. Der arrogante Chef des Phantomkurses wollte ein Exempel statuieren, obwohl Diether ihm versicherte, er hätte bei dem schönen Sommerwetter nur etwas früher nach Hause gehen wollen und könnte ihm seine Fähigkeiten im indirekten Präparieren durchaus demonstrieren.

„Dann haben Sie jetzt ja viel Zeit fürs Freibad“ meinte der Professor süffisant und bat ihn, sich erst zu Beginn des nächsten Semesters wieder zu melden.

Dem geschickten Herbert blieb in diesem Semester auch ohne Schummelei genug Zeit fürs Freibad, das hatte er sich nach der Plackerei bis zum Physikum auch redlich verdient.

Im Tübinger Schwimmbad, neckaraufwärts am südwestlichen Stadtrand direkt neben dem Fluss gelegen, vergnügte sich an warmen Sommertagen jeder Student, der es sich irgendwie erlauben konnte, auch wenn es mal ziemlich eng wurde. Herbert konnte es sich erlauben, war aber nicht wenig überrascht als er eines Nachmittags aus dösender Trägheit durch ein Kitzeln am großen Zeh geweckt wurde. Er blinzelte und vor ihm stand – eine blonde Schönheit, die mit ihrem Zeh an seiner Fußsohle krabbelte und ihn offenbar verwechselt hatte. Als er genauer aufwärtsguckte, kam sie ihm doch irgendwie bekannt vor: Richtig, es war die Neue aus seinem Semester, die sich wohl aus dem hohen Norden ins Schwabenland verirrt hatte und die ihm vielleicht schon mal über den Weg gelaufen war; eine Augenweide, das Mädchen, nie hatte er erwartet, dass sich so eine für ihn interessieren könnte.

Britta allerdings war der dunkelhaarige athletische Herbert durchaus schon im Semester aufgefallen, nicht weil er herausragend gut aussah oder etwa ein charmanter „womanizer“ gewesen wäre, ganz im Gegenteil, er schien ihr aber freundlich zu sein und mit einer Geschicklichkeit begabt, die lange nicht jeder Zahnmedizinstudent besaß und die aus ihm bestimmt mal einen guten Zahnarzt werden lassen würde.

Er stand auf und lud sie auf ein Vanilleeis in der Freibadbar ein, was sie jetzt gar nicht mal so uncharmant fand, und dankbar annahm…

Britta kannte ihre Wirkung auf junge Männer nur zu gut, und gerade im Freibad konnte auch der lustloseste kaum ihren Reizen widerstehen und so hatte sie Herbert schnell um den kleinen Finger gewickelt, als das Thema auf die lästige Arbeit im Phantomkurs kam. Sie hätte ja mitbekommen, dass ihm sein Platzpartner abhandengekommen sei, und es wäre doch nett, wenn sie zusammen ein Team werden könnten. Herbert stimmte begeistert zu, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, dass da vielleicht Brittas bisheriger Partner auf der Strecke bleiben würde. Den eitlen Oberarzt vom Platztausch zu überzeugen, fiel Britta nicht schwer, sie musste nicht einmal auf die zurechtgelegte Begründung zurückgreifen, dass sie die Zugluft am bisherigen Arbeitsplatz nicht vertragen könne.

Mit Herberts Hilfe bekam auch sie vier Wochen vor Semesterende ihren Phantomkursschein, und sie konnten in vollen Zügen das Freibadwetter und ihre aufkeimende Liebe genießen…

In den Ferien allerdings wollte sie mit den Eltern eine Kreuzfahrt unternehmen und sich dann in Hamburg wieder intensiver dem Rappen widmen.

Im Oktober würde es endlich an die Patienten gehen, gut dass sie einen geschickten Partner hatte…

Im 1. Kurs der konservierenden Zahnheilkunde dauerte eine Füllung furchtbar lange. Auf jeder Seite des Kurssaals gab es circa zehn Behandlungseinheiten in Reihe mit halbhohen Zwischenwänden, auf denen gelbe Lämpchen installiert waren. Das war das Rufzeichen für den Assistenten und wurde anfangs gleich zuhauf angeknipst, weil er die erste Anästhesie geben sollte, damit die Studenten loslegen konnten. Das konnte dauern. Wenn die Spritze wirkte, ging die Lampe wieder an, weil ein Assi den betreffenden Zahn mit der Turbine aufziehen musste. Das durften sie selbst erst nach einem entsprechenden Testat…

Dann erst fing man an zu „bohren“. Mit langsam laufendem Rosenbohrer ging es der Karies zuleibe. Immerhin waren die altertümlichen „Doriot-Gestänge“ vor kurzem durch moderne „Mikromotoren“ ersetzt worden.

Dann wieder: Lämpchen an! und zehn Minuten auf den Assi warten, der das Testat „Karies entfernt“ im Kursheft abzeichnen sollte, aber natürlich noch eine versteckte braune Stelle erspähte und „weiterbohren!“ befahl.

Die Zweierteams wechselten an jedem Kurstag die Rollen: „Behandler“ und „Helferin“.

In den Wartezeiten galt es natürlich, die Patienten bei Laune zu halten oder deren schwäbische Geschichten mit schrecklichen Zahnarzterfahrungen anzuhören. Wenn das Loch endlich als sauber beurteilt wurde, durfte die Unterfüllung mit Phosphatzement gelegt werden, den „die Helferin“ auf kühler Glasplatte angespachtelt hatte, während die angehende Zahnärztin mit pausenlosem Watterollenwechsel beschäftigt war. – Wieder Testat und anschließendes Abdecken der Kavität mit warm-plastischer Guttapercha: „Vorsicht, nicht den Mund mit heißem Heidemannspatel verbrühen!“

Nach zwei Stunden Kurszeit den Termin für nächste Woche vergeben; ob die Patienten wohl wiederkämen? Wenn nicht, wären die nächsten zwei Stunden verplempert, es sei denn, ein Assistent würde ihnen einen neuen „Schmerzpatienten“ weiterleiten.

Säumige rief man schweren Herzens an oder klingelte sogar an ihrer Haustür, um sie mit Engelszungen zum Durchhalten zu bewegen, schließlich ginge es ja um ihre Zähne, deren Prognose ansonsten fraglich wäre.

In Wirklichkeit fürchtete natürlich jeder eher eine „infauste“ Prognose für den Kons1-Schein der Zahnerhaltungskunde, denn ohne Endtestat des Oberarztes über die fertiggestellte und polierte Füllung würden die Vortestate wenig nützen…

Wenn´s aber gut lief, wurde der Zahn beim nächsten Mal mit Kohlensäureschnee als „vital“ getestet, die Guttapercha rausgebrokelt und eine tofflemire Matritze angeschlungen.

Auch deren perfekter Sitz, gegebenenfalls mit Holzkeilchen optimiert, musste testiert werden. Dann wurden drei Portionen Silber-Amalgam angerüttelt und das „Schneeballknirschen“ desselben geprüft. Die „Helferin“ stukte es in die „Amalgampistole“, und der oder die Behandler(in) zirkelte die graue Masse Portion für Portion in die Kavität und „kondensierte“ immer wieder mittels Kugelstopfer.

Zwischendurch: pausenloses Wechseln der – besonders von ängstlichen Patienten ständig durchgespeichelten - Watteröllchen.

Wenn alles gut ging und die dreiflächige Füllung nicht beim ersten, „vo-o-orsichtigen“ Zubeißen des Patienten zerbrach, folgten endlose Okklusionskontrollen mit blauem Färbefilz und das modellierende Ausarbeiten, „carving“ genannt.

„Eine Stunde gar nicht draufbeißen und einen ganzen Tag nur sehr behutsam“ wurde angeordnet und dem Patienten die absolute Notwendigkeit der Politur in den nächsten Tagen eingeschärft.

Komplizierter wurde es noch, wenn die bisher noch easy ausführbare „Caries profunda“- Behandlung nach Abtragen der letzten dünnen Kariesscholle ein Blutströpfchen erkennen ließ: Die Pulpa war „geknackt“, und obligatorisch musste die gefürchtete, steril gehaltene „Endodontiebox“ ausgepackt werden. Hektisch wurden auch Röntgenbilder herausgesucht oder neu angefertigt und mit zitternder Hand die Anästhesie aufgestockt. Manchmal kam jetzt allerdings stattdessen wegen Zeitmangels die bewährte Cortisonpaste „Ledermix“ zur Anwendung und wurde auf die unheimlich tiefe Stelle im Abgrund der Kavität gegeben, mit Watte abgedeckt und schnell mit Cavit zugeschmiert.

Ob jetzt der Patient wiederkäme, stand wirklich in den Sternen: Schließlich folgte eine verzögert einsetzende Schmerzentwicklung einer statistischen Wahrscheinlichkeit…

Eine Wurzelbehandlung war jetzt unerlässlich und erforderte die „absolute Trockenlegung“ unter Kofferdam. Mit diesem rigiden Spanngummi stand fast jeder Student (und Zahnarzt) auf dem Kriegsfuß. Allzu leicht machte man einen Fehler beim Ausstanzen des Löchleins, durch das der Zahn gesteckt werden sollte oder beim Überstreifen der womöglich abspringenden Kofferdamklammer. Das übersichtliche Eröffnen der Pulpenkammer und besonders das Aufbereiten der Wurzelkanäle war selbst für den versierten Praktiker immer wieder eine Herausforderung, für den Anfänger fast unmöglich. Immer wieder kam es zu Brüchen der Kanalinstrumente und zum betretenen Abgeben des Patienten an einen manchmal auch überforderten Assistenten, der einen „zum Dank“ womöglich beim Professor anschwärzte.

Es gab aber natürlich auch freundliche und zugewandte Assis, die mit langer Mähne wie ein Kommilitone auftraten und sich studentisches Mitgefühl bewahrt hatten.

Ein Semesterkollege berichtete, er sei für 2,50 Mark zum Haareschneiden im „Studentenkurs“ der Frisörlehrlinge gewesen. Die beiden gingen bei nächster Gelegenheit hin und feixten wegen der offensichtlichen Ähnlichkeit des Ambientes, wo die Jungen ihr Glück an Freiwilligen versuchen mussten und von ihren Handwerks-Assistenten kontrolliert bis schikaniert wurden.

Schikanös fanden manche auch die ersten Kurse in der Kieferorthopädie, wo die einzige Professorin der Zahnklinik präsidierte.

Sie ließ die Kandidaten verschiedenartig mäandrierende Schlangen aus federhartem Stahldraht biegen und prüfte die 30 cm langen Gebilde mit spitzem Zeigefinger, ob sie auf Druck ruhig auf dem Tisch liegen blieben: Falls nicht, durften sie umgehend wiederholt werden; sie knipste sie durch mit der Schneidezange und wischte sie in den Müll – was wenigstens zwei bis drei Stunden Mehrarbeit bedeutete.

Es ist nie zu spät...

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