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4. Reise ins Nordland - 1995

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Die Zeit in Norwegen aber war traumhaft schön gewesen. Maria hatte ihm gezeigt, wie man im teuer gewordenen Wohlstandsland auch mit wenig Geld reisen konnte:

Mit leichtem Gepäck hatten sie in Puttgarden am Fährterminal gestanden und an skandinavische LKW- Türen geklopft. Bei Igor, dem weißrussischen Trucker mit der Schiebermütze hatten sie Erfolg gehabt. Er fuhr mit polnischen Schweinehälften bis ins schwedische Helsingborg und freute sich über die Reisegesellschaft.

Natürlich wollten Maria und Herbert nicht als blinde Passagiere reisen, hatten ihre Reisepässe im Rucksack und kauften sich Landbridge-Tickets für Fußgänger. Die waren billig und galten für die Scandlines-Fähren von Puttgarden auf Fehmarn über den Belt nach Rødbyhavn auf Lolland und weiter über den Øresund vom dänischen Seeland nach Schonen in Schweden.

Die Überfahrten verliefen ruhig, und sie gönnten sich auf der ersten Fähre Tuborg Øl und rote dänische Pølser mit Kartoffelsalat und luden Igor dazu ein. Der erzählte von Frau und Kindern in Minsk und dass die schwedische Spedition die Chance seines Lebens gewesen war.

Als sie die Türme des Hamletschlosses von Helsingør schon lange im Rücken hatten, verabschiedeten sich Maria und Herbert von ihrem freundlichen Fahrer und erreichten Schweden bei strahlendem Sonnenschein.

Die Jugendherbergen hießen hier Vandrahjem, in Helsingborg war eine in der Hantverkergatan leicht zu finden; das Zweibettzimmer kostete mit Frühstück umgerechnet 30 Mark.

Es war jetzt 5 Uhr nachmittags, und sie setzten sich auf den sonnigen Marktplatz Stortorget und packten ihre Butterbrote von zuhause aus und aßen dazu Himbeereis aus der Bageri gegenüber.

Sie waren todmüde und schliefen wie die Murmeltiere. Nach einem reichlichen Frukost in der Herberge machten sie sich auf den Weg nach Norden: Zuerst wanderten sie an den steil zum Øresund abfallenden Klippen entlang, die die Halbinsel Kullen so eindrucksvoll machten. Dann ging´s durch dichte Laubwälder und über grüne Matten 25 Kilometer fleißig voran bis nach Ängelholm. Die Natur am Wegesrand explodierte in echter Frühlingslaune, und sie erreichten erschöpft aber glücklich das kleine Städtchen und checkten ein im „Familjecamping“ mit herrlichem Strand und Blick aufs Kattegat. Um diese Zeit waren noch die kleinen, preisgünstigen Stugors frei, in denen Gäste ohne Zelt schlicht, aber zünftig übernachten konnten. Schlafsäcke und Isomatten trugen die beiden zusammengerollt auf ihren Backpacker-Sachen; solange das Wetter trocken blieb, würden sie auch mal draußen übernachten können. Herbert kannte Maria jetzt seit gut einem Jahr, und seit sie ihre „Krankheit“ weit hinter sich gelassen hatte, war sein Verlangen zu spüren, ihr näher zu kommen. Er hatte es mehr als einmal versucht, und besonders jetzt, da sie so in der herrlichen Natur im Einklang miteinander unterwegs waren, zog er sie abends manchmal an sich und hoffte auf ihr stilles Einverständnis. Indes war sie nie zu mehr bereit als zu einem freundschaftlichen Kuss mit geschlossenen Lippen, und bald wurde ihm klar, dass er gut daran tat, ihr Verhalten zu akzeptieren…

Am nächsten Morgen neckten sie sich mit kaltem Wasser und zogen kameradschaftlich weiter. Nach Oslo waren es noch gut 400 Kilometer, und sie suchten nach einem Lastwagen, der sie über die E20 wenigstens bis Göteborg bringen könnte, oder sogar weiter in Richtung Norden.

Sie hatten Glück: In Höhe von Förslöv und bei einsetzendem Nieselregen erbarmte sich Bernie Hansson, der täglich mit seinem Backwarenlaster zwischen Malmö und Göteborg pendelte und heute sogar bis Trollhättan weitermusste, um einen Kollegen abzuholen.

Sie nahmen seine Freundlichkeit gerne an und revanchierten sich mit einem Strauß bunter Wiesenblumen für sein Führerhaus und mit viel Lob für sein wunderschönes und gastfreundliches Schweden. Die Küstenfahrt über Halmstad und Varberg bis Göteburg über den Europaväg 20 verlief meist mit geringem Abstand zum Kattegat, sodass man das Wasser eher selten zu Gesicht bekam, aber immer ging´s durch grüne Landschaft, auch über Brücken und durch Tunnels. Zwei Stunden vergingen wie im Fluge. Sie entschieden sich nach der kurzen Rast in Göteborg noch eine gute Stunde weiter bis Trollhättan mitzufahren und damit gut 300 Kilometer mit Bernie zurückzulegen. Nun ging es entlang des Göta älv, der sich tief in die romantische Landschaft eingegraben hat und phantastische Ausblicke ermöglicht. Die „gotische Elbe“ ist Schwedens längster Fluss, kommt vom riesigen Vänern-See her und fällt bei Trollhättan einen Wasserfall hinunter, bevor er gemächlicher weiterfließt an die Küste des Kattegat.

Wasser hatte Herbert immer fasziniert, und so wollte er unbedingt den tosenden Wasserfall erleben, der jetzt im Mai nur einmal in der Woche zu bewundern war, weil das Wasser ansonsten ein altes Kraftwerk zur ökologischen Stromerzeugung antrieb.

Es war Freitag, und am Sonnabend um 15 Uhr sollte das Spektakel beginnen, bei dem der Älv wieder in sein angestammtes Bett und sich 36 Meter in die Tiefe stürzen durfte.

Die beiden leisteten sich zur Feier des kommenden Tages wieder ein Zimmer im Vandrarhem.

Beim Abendessen in der Herberge mit deftiger Erbsensuppe und Varmkorv genannten Würstchen lernten sie Sepp aus Mittenwald kennen. Der Bayer hatte im letzten Jahr an den Olympischen Winterspielen in Lillehammer teilgenommen und war jetzt auf dem Weg dorthin, um neue Freunde wieder zu treffen und etwas auf der großen Schanze zu trainieren. Herbert verstand nicht recht: Skispringen Ende Mai?

„Aber klar“, meinte Sepp, „das ist eins der größten Sportzentren Norwegens, da gibt’s Sommertraining für Biathleten, Rennrodler und Eisschnellläufer, viele nutzen die hypermodernen Anlagen. Und der Rest rennt herum und macht Konditionstraining…“ Er lud sie ein, morgen mitzukommen, in seinem großen Volvo-Kombi wäre neben den Sprung-Ski sicher noch Platz für zwei dünne „Preiss´n“. Weil er aber einige Paletten Bier geladen hätte, Tuborg - günstig auf der Fähre nach Dänemark gekauft -, wollte er nicht über Oslo fahren, wo alle Touris ankämen und der Zoll besonders aufmerksam sei. Außerdem hätte er auch zwei Kästen Andechser Klosterbier dabei, natürlich Doppel-Maibock, 7,1 %, seine skandinavischen Freunde würden Augen machen, sowas kostete ja sonst ein Vermögen in Norwegen.

Er würde also schön am Vänern entlangfahren und dann nach Arvika und bei Charlottenberg über die „grüne Grenze“ nach Kongsvinger und weiter nach Lillehammer. Ne tolle Gegend sei das, vielleicht könnte man auf der norwegischen Seite sogar schon baden, im Storsjøen oder im Mjøsa zum Beispiel - wenn sie das 10° „warme“ Wasser nicht stören würde.

Sieben Stunden rechnete Sepp mindestens für die fast 500 Kilometer, man würde also irgendwo bei Kongsvinger auf der norwegischen Seite übernachten, nach glücklich überstandenem Alk-Schmuggel- Abenteuer. Herbert grinste süß-sauer, er hatte mit Drogen keine allzu guten Erfahrungen gemacht. Aber der Bayer sagte nur: „Bier ist kein Alkohol, sondern Grundnahrungsmittel!“ Da wollte Herbert kein Spielverderber sein, außerdem kämen sie so dem richtigen Norden wieder ein gutes Stück näher; zum Polarkreis war es allerdings dann immer noch weit.

Erst einmal kam aber das Spektakel mit dem Wasserfall: Vier „Schütze“ des Kraftwerks sollten um Punkt 15 Uhr geöffnet werden, und der Fluss mit Gurgeln und Getöse ins alte Bett zurückströmen, bis er nach fünf Minuten den „Höllenfall“ erreichen und mit Gebrüll 32 Meter in die Tiefe stürzen würde. Von der Brücke der Landbergsliden-Straße beobachteten die drei mit „ein paar“ anderen Touristen nur eine kleine Auswirkung der Urkräfte der Natur, die Skandinavien geprägt haben: Fels, Eis und Wasser. Sie würden noch einiges mehr davon zu sehen bekommen und waren jetzt schon schwer beeindruckt.

Am Nachmittag ging es dann mit Sepps Volvo durch die wunderbare Landschaft der glazialen Seen bei Bengtsfors über die Grenze nach Norwegen hinein.

Am Glomma-Fluss fanden sie einen Schlafplatz in freier Natur. Hier galt das Allemannsretten, das norwegische Jedermannsrecht: Überall in der Natur darf man sich aufhalten und übernachten, solange man sich „vernünftig“ verhält und mindestens 150 Meter Abstand vom nächsten Haus hält…

Am nächsten Morgen um 7 Uhr 30 gab es trotzdem ein abruptes Erwachen: Ein gelb-weiß-schwarzer Mercedes hielt und ein freundlicher Uniformierter stieg aus: „Toll-Kontroll, bitte lassen Sie mich mal ins Auto schauen!“ Sie lagerten 30 Kilometer hinter der Grenze, aber die Beamten kannten ihre Pappenheimer und kontrollierten im Hinterland: Die Kisten mit dem guten Andechser sahen sie sofort: „Konfisziert!“, die vier Paletten Tuborg-Büchsen hatte Sepp geschickt unter seine Ski- Klamotten gewühlt, die höflichen Staatsdiener bemerkten sie nicht – oder wollten sie nicht sehen. Sie tippten freundlich an die Mützen, wünschten noch guten Aufenthalt in Lillehammer und fuhren grinsend von dannen; der nächste Vereinsabend des Polizei- und Zoll-Clubs Kongsvinger war wohl gerettet, meinte Sepp, „hätte schlimmer kommen können…, die Sportskanonen müssen dann eben mit dänischem Bier zufrieden sein, immer noch besser als die überteuerte Lightbeer-Plörre, die es hier gibt.“

Als die drei am Storsjøen zum Baden hielten, war die schlechte Laune schon wieder vergessen. „Soll hier nicht ein Seeungeheuer sein Unwesen treiben, so´ne Art norwegische Nessi?“, unkte Herbert. Aber Maria winkte ab, sie kannte die Geschichten, die wohl vor allem den Tourismus ankurbeln sollten. Das war aber im Storsjön bei Östersund, und das lag etwa 300 km nördlicher und in Schweden. Kleine Unterschiede können wichtig sein…

Sie kauften Brot, Milch und Käse, frühstückten ausgiebig und fuhren frohgestimmt noch eineinhalb Stunden bis nach Lillehammer.

Lillehammer lag 450 Meter über dem Meeresspiegel, am schmalen Nordteil des fast 100 Kilometer langen eiszeitlichen Mjøsa-Sees und schien von 1000 Meter hohen Bergen umgeben. Das klingt nach Mittelgebirge, ist aber eine wahre Alpenlandschaft, und die umliegenden Skigebiete haben es in sich und sind von Dezember bis März ziemlich schneesicher. Die Stadt mit fast 30.000 Einwohnern war jedenfalls für alle norwegischen Winter-Olympioniken ein Muss.

Sepp steuerte den großen Volvo gleich zum Besucherparkplatz am Lysgårdsbakken. Hier konnten sie lagern und etwas zum Essen brutzeln; Sepp war da mit Propangaskocher und Campinggeschirr ganz gut ausgestattet und bot den beiden Reisenden sogar an, in seinem kleinen Igluzelt zu nächtigen, er selbst war es sowieso gewohnt, auf dem flachgelegten Beifahrersitz zu schlafen.

Aber erst einmal mussten sie sich die beiden imponierenden Skisprung-Schanzen ansehen, die 200 Meter weiter in den blauen Himmel ragten, 120 Meter hoch: „Wahnsinn !!“. Die Großschanzen wirkten beängstigend steil. „Da müsst ihr hoch“ meinte Sepp und zeigte auf die schmalen Metallstufen, die wie eine schräg gelegte Leiter zwischen den Schanzenbahnen in die Höhe führten.

„Nie im Leben!“ meinte Herbert, der eingefleischter Flachländer war und zu Höhenängsten neigte. „Sei kein Frosch“ sagte Sepp, „springen brauchst´ ja net.“ Und weil auch Maria aufmunternd lächelte, fasste sich Herbert ein Herz und stapfte die enge Treppe tapfer hinter den beiden anderen bergan: 936 Stufen waren es, „nur nicht runtergucken!“

Oben angekommen weitete sich der Blick auf ein Bergplateau und der Schwindel ließ nach. Der Ausblick auf Lillehammer und den Mjøsa-See war wunderbar. Oben standen einige Blockhäuser und Tipis wie in einem Cowboy- und- Indianer- Film. Herbert erinnerte das an einen Ausflug zu den Bad Segeberger Karl-May-Festspielen, den er als Kind während eines Ostseeurlaubs mit den Eltern unternommen hatte. Einige sommertrainierende Möchtegern-Olympioniken saßen auf den Bänken in der Sonne und plauschten. Als sie Sepp erkannten, gab es ein großes Hallo und eine spontane Feier, zu der auch schnell das Bier per Auto vom Parkplatz geholt wurde. Es war früher Nachmittag und über 20° warm in der milden Maisonne. Sie erklärten das Training für beendet und ließen die Tuborg-Büchsen kreisen. Hoffentlich würden sie nicht morgen allzu enthemmt den grünen Kunstrasen hinunterfliegen…

Der Treppenabstieg verlief jedenfalls entspannt. Maria und Herbert schliefen tief und lange im Zelt und verabschiedeten sich am nächsten Morgen nach dem Frühstückskaffee vom Campingkocher von ihrem großzügigen neuen Freund aus dem fernen Bayern.

Sie gingen dann auf dem großen Parkplatz von Auto zu Auto und fragten, ob jemand sie ein Stück weit mitnehmen könnte. Die meisten dort waren Skandinavier oder Touristen aus England und Deutschland. Die wortkargen Norweger wurden sofort freundlich, als Maria sie in ihrer Muttersprache ansprach und gaben sogar Tipps, wer wahrscheinlich die Nordroute fahren würde. Ein älteres Ehepaar mit großzügigem Wohnmobil war dann schnell bereit, sie einige Tage zu beherbergen, und auf ging es über den Kongsvägen immer den langgestreckten Losna-See entlang in Richtung Fåvang. Die wenigen Komfort-Campingplätze ließen sie links liegen; die beiden Alten kannten genug ruhig gelegene Naturplätze mit herrlichen Ausblicken auf den See und waldiges Bergland. Wie viele Landsleute liebten sie ihr weitgestrecktes raues Land, das so viele Landschaften bot, dass sie jedes Jahr aufs Neue aufbrachen. Maria und Herbert lernten von ihnen viel über Land und Leute, als sie entlang des wasserreichen Gudbrandsdalslågen weit über Dovre hinausfuhren. Kurz vor Åndalsnes verabschiedeten sie sich von den netten Oldies, weil sie den berühmten Trollstigen zu Fuß erklimmen wollten. Fünf Stunden brauchten sie mit ihrem Gepäck über die engen Serpentinenwege mit immer neuen atemberaubenden Ausblicken.

Oben empfing sie eine unwirkliche Hochgebirgslandschaft aus moosbewachsenen Felsterrassen, spiegelnden Bergseen und schroff aufragenden, scharfgratigen Bergmassiven. Die Temperatur war auf 7° gefallen, und überall an den Nordseiten der Abhänge lagen weite Schneeflächen. Nach den turbulenten Tagen mit Sepp und den vielen Gesprächen mit den Wohnmobilisten tat ihnen die Ruhe in der erhabenen Weite der wuchtigen Natur besonders gut. Drei Tage brauchten sie durchs Bergland nach Geiranger: Sie mussten den Storfjord auf der Eidsdålfähre überqueren und wanderten die letzten 10 Kilometer über die sich schlängelnde, neu eröffnete Adlerstraße hinunter zum kleinen Ort am äußersten Ende des berühmten Fjords, wo vor dem kleinen Anleger ein Schiff dümpelte. „Es ist die Vesterålen der Hurtigruten“, meinte Maria, die das Schiff von früher her kannte, „ich glaube, die ankert hier für vier Stunden und wartet auf die Reisenden, die von den Busausflügen zurückkehren“.

Am Kai fragte Herbert, ob eine kurzfristige Passage nach Trondheim möglich wäre, und sie hatten wahnsinniges Glück in zweierlei Hinsicht: Das Schiff hatte Geiranger am ersten Tag des Sommerfahrplans angelaufen – im Winter war die spektakuläre Fahrt in den Fjord wegen gefährlicher Lawinenabgänge nicht vorgesehen gewesen. Außerdem war tatsächlich eine der unbeliebteren, fensterlosen Innenkabinen frei geblieben, die konnten sie noch zum Vorzugspreis von umgerechnet 73 D-Mark bekommen – einschließlich eines reichhaltigen skandinavischen Frühstücks… 365 Kronen also, das gab ihr Budget gerade noch her – in Trondheim würde er mit einem 400,- DM Euroscheck neue Kronen von der Bank holen müssen, dann war fast Ebbe auf dem Konto.

Um 13.30 Uhr sollte das Schiff ablegen und um 8.30 am nächsten Tag in Trondheim festmachen.

Hier in Geiranger gab es keinen direkten Landzugang. Die Einschiffung auf das ankernde Schiff vollzog sich über kleine Börteboote, wie Herbert es von ein paar Helgoland-Trips mit den Eltern kannte, bloß mit dem angenehmen Unterschied, dass das Wasser sich hier am Ende des 15 Kilometer langen Fjords völlig ruhig spiegelte, während die unruhige Nordsee damals öfters die offenen Boote ordentlich stampfen und das Übersteigen zum Abenteuer werden ließ…

Die beiden Reisenden kauften sich noch schnell etwas Proviant im Dorf, weil das Abendessen an Bord ihnen viel zu teuer erschien, und ließen sich dann zum Schiff übersetzen.

Die Fahrt über die engen Kehren des Meeresarms entlang der spektakulären Wasserfälle der „Sieben Schwestern“ war ein echtes Highlight ihrer Nordlandtour. Maria liebte ihr erstes Heimatland und wusste genau, dass dieses kleine Geiranger Endpunkt der wohl schönsten Fjordlandschaft der Welt war, die ihr Herz berührte, aber ihr auch Sinnbild der zerrissenen Seele zu sein schien.

Jedenfalls würde der Anblick der dramatischen Natur mit schmalen, steil aufragenden Talwänden, schneebedeckten Gipfeln und stürzenden Wasserfällen und mit Resten verlassener Bauernhöfe und Hütten für sie beide unvergesslich bleiben. Aber auch die weitere Route mit Aufenthalten in Ålesund und Molde mal durch Sunde, mal nahe der offenen Norwegischen See war eindrucksvoll.

Auf dem Panoramadeck konnte man sich auf bequemen Sesseln ausstrecken und einfach mit Blick aufs Ufer in die Sundlandschaft hineinfahren. Der Abend wurde immer länger, und es war auch noch um 22 Uhr hell, als sie von Molde ablegten. In der kleinen Bibliothek an Bord fanden sie in einem Buch über diese klassische Hurtigruten-Tour einen zusammengefalteten Zettel, den wohl ein poetisch gestimmter Tourist hinterlassen hatte:

Zwischen Meer und Land und Sonne

zieht das Postschiff seine Bahn.

Und es zeigt uns in der Weite

Bilder, die wir noch nie sah´n.

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Richtung Norden –Meil´ um Meile:Fremdes Felsland, Fjorde, Sunde;

Eine Reise ohne Eile –

gibt von Licht und Seele Kunde.

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Wo die Mächte der Natur

und die alten Mythen wohnen,

sind wir Menschen winzig nur,

alle Sorgen dürfen schwinden.

Wir besiegen die Dämonen,

können heim zum Hafen finden…

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Sie waren jetzt so müde, dass sie sich trotz des anrührenden späten Lichtes in ihre winzige Kabine zurückzogen und sofort in traumlosen Schlaf fielen.

Um 7 Uhr wollten sie aufstehen, um noch vor der Ausschiffung das legendäre reichhaltige Frühstück an Bord zu genießen.

„Trondheim ist ein schöner Ort: Obwohl mit fast 200.000 Einwohnern drittgrößte Kommune Norwegens mit Verwaltung, Universität und reichem Kulturangebot hat es sich einen fast kleinstädtischen Charme bewahrt - die bunten Holzhäuser in der Fjord- und der Kjöpmannsgata mit den unzähligen Segelbooten am Hafen des Nidelva-Flusses, der neben dem Hurtigrutenport in den Trondheim-Fjord mündet und die Altstadt zu einer Dreiviertel-Insel macht, die kleinen Cafés ohne urbane Hektik, die kreischenden Möwen und natürlich: Munkholmen, die Mönchsinsel, früher Domizil bierbrauender Mönche, später Gefängnis und heute sommerliches Badeparadies!“ So stand es in dem bunten Prospekt, den sich die beiden aus dem Touri- Büro im Zentrum besorgt hatten.

Maria und Herbert waren dermaßen angetan, dass sie erst mal zwei Nächte im Vandrerhjem am Weidemannsvei buchten. Nach so viel überwältigender Natur tat ihnen etwas Zivilisation gut, sie fanden auch einen Münz- Waschsalon und brachten ihre überschaubare Garderobe auf Vordermann.

Am nächsten Tag trübte das Wetter ein, und es gab ein paar Regentropfen. Weil sie nichts Besseres vorhatten, schlenderten sie zum Nidaros-Dom, dem Nationalheiligtum Norwegens – mit dem Grab des wohl größten Wikingerkönigs Olav II., des Heiligen, der um das Jahr 1000 gelebt haben soll, fast so alt waren auch die Anfänge dieser Kirche.

Die hochgotische Fassade ließ den Betrachter ganz klein erscheinen. Mit den zwei wuchtigen, quadratischen Türmen und den unzähligen figurengefüllten Nischen und dem großen Rosettenfenster erinnerte sie an englischen Westminster-Stil oder die Kathedralen von Reims und Rouen.

Herbert hatte mit seinem Vater viele Kirchen angesehen, er interessierte sich durchaus für deren Architektur und Geschichte und ließ sich immer aufs Neue von der erhabenen Atmosphäre großer Gotteshäuser beeindrucken. Er musste da unbedingt rein und wunderte sich, dass Maria Zeichen von Vorbehalt und Abwehr erkennen ließ. Gut, man musste 30 Kronen Eintritt bezahlen, aber das war es ihm wert, und er überredete Maria mitzugehen.

Der Wirkung des hohen, säulengetragenen Innenraums mit den Kreuzrippen-Gewölben konnte sich niemand entziehen. Sie setzten sich auf zwei der endlos aufgereihten Stühle der evangelisch-lutherischen Kirche und atmeten tief durch. Die schlichte Würde des riesigen Raumes tat ihnen gut.

Als sie wieder heraustraten, hatte der Regen schon wieder aufgehört, und zaghafte Sonnenstrahlen brachen durch die dunklen Wolken. Sie schlenderten durch den Bischofsgarten und Maria erzählte stockend, dass Vater Ole ihr für lange Jahre den Besuch von Kirchen strikt verboten hatte. Er hatte „diese ganze pseudo-christliche Geschichte“ gehasst, die für ihn pure Heuchelei war. Sein eigener Vater hätte hier, im Nidaros-Dom, geheiratet, am 14. April 1945, also kurz vor der Kapitulation der Deutschen, in SS-Uniform. Das war angeblich bei einer Massenhochzeit der Deutschen Wehrmacht, und die Braut war nicht seine Mutter gewesen, die hatte der Vater nämlich in Deutschland sitzen lassen, da sei Ole neun gewesen. Die Frau war jedenfalls auch schwanger, und ihre Tochter sollte im Nazi-„Lebensborn“-Heim aufwachsen, hier in Trondheim, aber dazu kam es dann wohl nicht mehr…

„Vielleicht lebt sie ja hier irgendwo, meine Halbtante – keine Ahnung“, meinte Maria, „dass die Kirche da mitgemacht hat…“

„Aber bei solchen Hochzeiten war vielleicht gar kein Pastor dabei“ sinnierte Herbert, „das war bestimmt ´ne deutsche Zivilehe.“

Jedenfalls war Maria froh, den Dom mal von innen gesehen zu haben; hier war nichts vom Nazi-Spuk zu spüren gewesen. Dieser Schatten der Vergangenheit jedenfalls hatte sich in Luft aufgelöst.

Morgen wollten sie weiterreisen, in Richtung Brønnøysund, das lag über 300 Kilometer weiter im Norden, auf halbem Wege nach Bodø.

Die beiden hatten, seitdem sie sich auf den Nordland-Trip gemacht hatten, einen gesunden tiefen Schlaf wie schon lange vorher nicht mehr. Keine Alpträume legten sich aufs Gemüt, viele Ängste der letzten Jahre schienen von ihnen abgefallen zu sein.


War es nicht ein herrliches Gefühl, alle innere Getriebenheit abzuschütteln und einfach in den Tag hinein zu gehen?

Wieder wanderten sie auf die Landstraße hinaus und vertrauten auf den lieben Gott und freundliche Menschen. Auch zu Fuß würden sie an ihr Ziel kommen, Zeit hatten sie jedenfalls im Überfluss. Trotzdem waren sie ganz froh, dass bei aufkommendem Regen ein freundlicher Milchwagen-Fahrer hielt und sie die 100 Kilometer bis Steinkjer mitnahm, immer schön am Trondheim- Fjord entlang. Er freute sich, dass die Deutschen Norwegisch verstanden, zumindest Maria, und seine Schwärmereien über seinen „Traumberuf“, so nah an der Natur, nachvollziehen konnten.

Nach zwei Stunden trennten sich ihre Wege wieder, und Maria und Herbert wanderten weiter über eine zerklüftete Halbinsel durch Täler und an Bergseen und Wasserfällen entlang und durch Birken- und lichte Föhrenwälder, bis sie bei Namsos wieder auf die Fjord- und Schärenküste stießen. Sie übernachteten zweimal auf gastfreundlichen Bauernhöfen und nahmen dann die Fähre nach Geisnes und von dort weiter nach Hofles. Die letzte Fähre hieß Olav Duun und Herbert unkte, ob sie wohl nach Marias Vater Ole benannt sei. „Blöder Witz“, meinte Maria, obwohl sie ihm selbst erzählt hatte, wie oft Ole „duhn“ und betrunken gewesen war.

Olav Duun aber, und das wusste sie noch ziemlich genau aus ihrem norwegischen Schulunterricht, war ein hochgeschätzter Heimatdichter, der eigentlich Lehrer gewesen war und aus einem gänzlich unsentimentalen Naturgefühl heraus schrieb, in einem klaren, durchaus humorvollen Stil, der ihr gut gefallen hatte, auch wenn er mythische, also eher heidnische Anklänge an die alten Sagas widerspiegelte. Sein großer Romanzyklus „Die Juwikinger“ kam in den 1930er Jahren heraus und handelte von einem edlen Bauerngeschlecht des 19. Jahrhunderts – im Kampf um Würde und Menschlichkeit… Die Bücher gab es auch als deutsche Übersetzung und ihr Vater hatte sie verschlungen, auch wenn er sonst eher wenig Neigung zum Lesen hatte.

Herbert begann sich allmählich Sorgen zu machen, was für ein abgehobener „Blut-und-Boden- Kauz“ sie in Bodø erwarten würde. Aber Maria meinte nur, mit einem Dichter hätte Ole nun wohl gar nichts gemein, eher vielleicht mit Petterson.

„Petterson mit dem hohen gelben Hut, der immer mit seiner Katze spricht?“ fragte Herbert. Er kannte die großformatigen Bilderbücher und hatte sie als Student manchmal Kindern beim „Babysitten“ vorgelesen, weil sie sonst nicht eingeschlafen wären. Damit konnte er sich in Tübingen seinen Monatswechsel aufbessern.

„Ja genau den Petterson meine ich, von Sven Nordquist ist der“, schwärmte Maria „die Katze ist ein Kater und heißt Findus, die Bücher sind eigentlich aus Schweden, aber das ist egal. Mein Vater ist auch so ein Chaot gewesen, den berühmten „Tischlerschuppen“ hatten wir auch, überall lagen kaputte Angeln herum, die er irgendwann einmal reparieren wollte, wozu er natürlich nie kam, kaufte sich lieber eine neue… Eine Katze hatte er früher auch, und überall hörte er das Gras wachsen.“

„Bei dem alten Schweden gab es doch auch diese skurrilen wuseligen Wesen, kleine Naturgeister oder so“, sagte Herbert, und Maria nickte. „Der in den Büchern ist doch eigentlich ganz lieb, oder?“, fragte er.

„Ja, aber er kann auch sehr jähzornig werden“, flüsterte Maria und hatte auf einmal Tränen in den Augen, „und dann der Wodka und der Akvavit dazu…“

„Womit wir wieder bei „Olav Duun“ wären“, meinte Herbert lakonisch, „der Kahn legt übrigens gleich an – in Hofles“. Sie nickte wieder. Soviel hatte sie seit Tagen nicht geredet…

Ein paar Tage später erreichten sie Brønnøysund, das hübsche Hafenstädtchen hatte früher einmal Bodø fast den Rang abgelaufen als Hauptstadt der Nordprovinz.

Die erstaunlich große Feldsteinkirche war offen. Drinnen saßen einige Besucher und lauschten himmlischer Orgelmusik. Die blonde Organistin übte wohl für den kommenden Sonntag, es lagen Zettel für das bevorstehende Konzert aus: „Präludium und Fuge in C Dur von Johann Sebastian Bach“. Es klang wirklich überirdisch – und so kam ihnen auch der Blick auf die weitgespannte Brücke im Abendrot vor, die sie zur Insel Torget führen würde.

Hier wollten sie sich unbedingt den „Torghatten“ ansehen, den berühmten Berg mit dem 35 Meter hohen Loch, das gut 10 Meter breit und begehbar sein sollte.

Sie stiegen den beschwerlichen Weg hinauf und wanderten durch das 160 Meter lange Loch, das der wütende Sohn des Trollkönigs mit einem Pfeilschuss geschaffen haben soll. Er zerstörte damit auch das, was er liebte, die flüchtende Jungfer Lehamøya. Denn der König der Sømnaberge ließ zur Strafe alles versteinern.

„Ziemlich nah am Leben“, dachte Maria an ihren oft unberechenbaren Vater.

Jedenfalls war der Blick durch das hohe Tunnelloch auf die Schärenlandschaft überwältigend und lohnte alle Mühen.

Weiter ging es per Anhalter nach Nesna und Konsvikosen, wo ein freundlicher Wohnmobilfahrer die beiden zu einem köstlichen Fischessen einlud. Die Seelachse und Dorsche hatte er gerade an der Außenmole des kleinen Sportboothafens geangelt. Nur in Butter gebraten und mit ein paar Salzkartoffeln serviert schmeckten sie besser als in jedem Sternerestaurant. Dankbar kehrten sie dann im winzigen Hotel ohne Sterne ein, wo die Wirtin ihnen Gruselgeschichten erzählte.

Wenige Kilometer weiter nach Norden überquerten sie den Polarsirkelen auf 66°33´55´´ nördlicher Breite. In dem kleinen Fischerdorf mit Sporthafen und Anglergeschäft gab es nur eine ziemlich unscheinbare Erdkugel aus Stahlbändern, die am Kai aufgestellt und beschriftet war.

Ab hier würde es also nach der Sonnenwende am 21. Juni Mitternachtssonne geben. Das heißt, der rote Sonnenball würde kurz das Wasser berühren und dann wieder höher steigen, ein magisches Theater.

Jetzt waren es nur noch 200 Straßenkilometer bis zur Saltstraumen-Brücke, die sich auf 40 Meter Höhe fast einen Kilometer lang über den Gezeitenstrom schwingt.

Der freundliche Wohnmobilfahrer und seine Frau griffen die beiden direkt am Polarkreis auf und luden sie ein, mit ihnen dort hinzufahren. Am Saltstraumen-Camping, wo das Ehepaar sein Mobil aufbockte, gab es tatsächlich noch ein paar günstige Hytten zu mieten und Grillmöglichkeiten genug für die Gäste.

Die meisten zogen hier so viel Fisch aus dem Strom, dass sie die Hälfte verschenken konnten; Maria und Herbert, die keine Tiere töten konnten, aber mit dem Essen toter Exemplare merkwürdigerweise keine Probleme hatten, würden hier also nicht verhungern.

Aber jetzt musste Herbert auch unbedingt den Malstrøm mit eigenen Augen und Ohren erleben, nicht nur wegen der Gruselgeschichten eines Edgar Allen Poe, sondern auch, weil er für seine zierliche Begleiterin eine gewisse Bedeutung zu haben schien…

Zwei Tage später erreichten sie Bodø, und Maria konnte endlich ihren altgewordenen Vater in die Arme schließen.

Es ist nie zu spät...

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