Читать книгу Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg - Thomas Hölscher - Страница 4
2. Dann kommt es mir immer noch so vor, als wenn ich dort unter lauter Verwandten gewohnt hätte
ОглавлениеIlse Kibgis, 65 Jahre, Schriftstellerin (verstorben 2015)
die Menschen meiner Stadt
sind Kumpel
die am schwarzen Roulette
ihre Knochen verspielten
ihre Sprache ist der
Bergmannsjargon
Worte aus Erde und Stein
meine Stadt ist keine Konkurrenz
für touristische Sonderangebote
aber sie ist der Kreis
der mich einschließt
die Mauer die mich schützt
das Leben dessen Pulsschlag
mich durchströmt
(aus: Ilse Kibgis: Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen)
Ich stamme selber aus einer Bergmannsfamilie. Mein Vater ist damals, das heißt Anfang der 20er Jahre, aus Posen zugewandert. Alle seine Geschwister sind übrigens in den damals so genannten „Goldenen Westen“ gekommen, da hat einer den anderen nachgezogen. Denen ist ja auch alles mögliche versprochen worden: Geld, eine Wohnung, womöglich ein halbes Häuschen in einer Bergarbeitersiedlung. Die meisten dieser Versprechungen wurden auch gehalten, vor allem der Arbeitsplatz auf der Zeche. Ende der 20er Jahre kam dann allerdings ein wirtschaftlicher Wandel, und die meisten der Bergleute wurden arbeitslos. Mein Vater war sieben Jahre lang arbeitslos; erst in der Nazi-Zeit hat er wieder eine Arbeitsstelle gefunden. Aber zu welchem Preis! Denn es war doch bei den Nazis alles von Beginn an nur auf Aufrüstung angelegt. Ich glaube, viele Menschen ahnten aber damals nicht einmal, wo das noch hinführte, und als sie es bemerkten, da war es auch schon zu spät.
Die sieben Jahre, die mein Vater arbeitslos war, waren natürlich zunächst einmal eine sehr schlimme Zeit, da wir total verarmten. Mein Mutter ist zu der Zeit für zehn Mark im Monat putzen gegangen, was selbst für damalige Verhältnisse doch sehr wenig Geld war; mein Vater hatte zudem keinerlei Perspektiven, irgendwo anders eine Arbeitsstelle zu finden. Und doch muss ich mich immer wieder wundern, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke: heute wird viel zuviel über Geld geredet, über Verdienstmöglichkeiten, über Konsumwünsche, die die Menschen haben. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass meine Eltern in der schlimmen Zeit jemals über Geld geredet hätten. Wahrscheinlich hatten sie so wenig davon, dass es sich gar nicht lohnte, darüber zu reden.
Trotz unserer Armut hatte ich damals aber nie das Gefühl von Armut. Wir wohnten übrigens in einer Bergarbeitersiedlung in Horst-Süd, und ich muss hinzufügen, dass zu der Zeit alle Bergleute arm waren. Man kann es auch so sagen: Alle Menschen dort hatten gleich wenig Geld zur Verfügung. Man hatte also schon deshalb nie das Gefühl der Armut, weil niemand in der Siedlung mehr besaß. Und für das Lebensnotwendigste reichte es immer. Jeder hatte schließlich einen kleinen Garten hinter dem Haus, ein Schwein, manche hatten eine Ziege, Hühner, und auf diese Weise hat man sich irgendwie über Wasser halten können. Nur gab es eben keine finanziellen Mittel, sich darüber hinaus noch etwas anzuschaffen.
Die Siedlung war ohnehin eine Welt für sich, aus der man auch nur selten herauskam. Es hatte doch damals noch kein Mensch ein Auto. Wir haben zwar oft Ausflüge gemacht mit den Hausbewohnern, mit den Nachbarn; aber natürlich ging es immer zu Fuß, und man blieb unter sich. Die kleinen Kinder wurden in eine Karre gesetzt, und dann zogen wir los, bis nach Essen, nach Gelsenkirchen, nach Buer, irgendwohin, wo es halt schöner und grüner war. Damals spielte das gemeinsame Leben überhaupt noch eine große Rolle. Ob es nun eine Geburt war, eine Beerdigung oder eines jener Schützenfeste, bei denen die Kinder morgens und die Erwachsenen abends feierten: die Menschen machten viel mehr gemeinsam als heute. Unsere Kinderschützenfeste wurden zum Beispiel immer schon Wochen vorher vorbereitet: Kostüme wurden geschneidert, Pfeil und Bogen besorgt, König, Königin und Prinzessin wurden bestimmt.
- Sie sprachen gerade davon, dass die Bergarbeitersiedlung eine Welt für sich war. Wie war damals eigentlich das Ansehen der Bergleute?
Es war in der Tat so, dass die gesamte Arbeiterschaft und somit auch die Bergleute im Horster Süden wohnte, während zum Beispiel Kaufleute oder Akademiker fast alle im Horster Norden wohnten. Auf solche Unterschiede wurde damals also ganz offensichtlich schon Wert gelegt. Es war doch zum Beispiel auch so, dass schon die Steiger eine eigene Straße für sich hatten, eine Straße mit schönen Häuser, die man schon fast als Villen bezeichnen kann. Die Bergleute gehörten eigentlich zu den kleinsten Leuten in der gesamten Hierarchie. Die Menschen in unserer Siedlung kamen zudem fast durchweg aus dem Osten, waren also entweder selber Zugezogene, oder sie lebten hier in der zweiten Generation, und man erkannte sie zumeist schon an ihrer Sprache; denn in aller Regel sprachen sie ein sehr schlechtes Deutsch. Dieses typische Ruhrgebietskauderwelsch eben. Und auch wenn ich heute in alten Bergmannsliedern oder -gedichten lese, dass die Bergleute doch immer einen besonderen Stolz auf ihren Berufsstand empfunden hätten, dann kann ich das aus meiner eigenen Erfahrung jedenfalls nicht nachvollziehen.
Ich erinnere mich vor allem an den Kampf um das tägliche Brot. Und daran, dass die Arbeit unter Tage wohl sehr hart war. Mein Vater war nicht der große, starke Arbeiter, den man vielleicht vor Augen hat, wenn man an den typischen Bergarbeiter denkt. Mein Vater war eher schmächtig und sehr interessiert an Literatur und Musik, ein Mensch also, der nicht gerade dem üblichen Klischee des Arbeiters entspricht. Besonders schlimm war der Wechsel der Schichten; denn dadurch war natürlich die gesamte Familie in Mitleidenschaft gezogen. Wenn mein Vater von der Schicht nach Hause kam, dann musste er sich zunächst einmal zwei oder drei Stunden hinlegen und schlafen, und während dieser Zeit durften wir natürlich nicht stören. Das Leben von uns Kindern spielte sich somit fast ausschließlich draußen ab, weil es im Haus keinen Platz zum Spielen gab. Und unter dieser Enge, diesem äußerst reduzierten Innenleben, haben wir irgendwie doch gelitten.
Aber ich will das nicht dramatisieren; denn draußen war es natürlich auch schön, da hatten wir viele Möglichkeiten. Es gab ja - wie gesagt- noch keine Autos. In Horst-Süd hatte damals lediglich der Arzt ein Auto, und ansonsten wüßte ich gar nicht, wer dort noch mit einem Auto durch die Gegend gefahren wäre. Also gehörte die Straße uns. Und diese Straße wurde damals gerade asphaltiert, so dass wir die herrlichste Rollschuhlaufbahn hatten. Wir sind auch in den vielen Baustellen herumgeturnt und wurden dann abends oder am nächsten Tag ausgeschimpft, wenn die Bauarbeiter uns dabei erwischt hatten. Ich möchte überhaupt sagen, dass wir trotz allem eine sehr schöne und reiche Kindheit hatten. Besonders gut erinnere ich mich noch an die Zeit vor dem Weihnachtsfest. Da hat an den langen Abenden die ganze Familie zusammen gesessen, es wurde gesungen, und es wurden Geschichten erzählt. Vor allem Gespenstergeschichten, und dann war ich immer froh, dass meine Eltern bei mir waren. Was damals für uns Kinder immer eine ganz große Rolle gespielt hat, war das Gefühl der Geborgenheit.
Wir konnten uns wirklich noch geborgen fühlen. In aller Regel waren die Frauen damals noch nicht berufstätig, sondern mussten die Familie und vor allem ihre Männer versorgen; denn wenn die von der Zeche nach Hause kamen, waren sie total fertig. In dem einen Raum, in dem sich unser gesamtes Familienleben abspielte, stand ein Sofa, und das wurde vom Vater beschlagnahmt, wenn er von der Schicht kam. Da hat er dann jeden Tag erst einmal zwei oder drei Stunden geschlafen, und wir Kinder mussten dann entweder ganz leise sein oder eben nach draußen gehen.
- Wenn man von den Bergleuten spricht, dann sieht man immer nur die Arbeit der Männer. Der Bergbau ist eben ein typischer Männerberuf. Wie sah eigentlich der Arbeitstag einer Frau aus?
Der war sicherlich auch sehr schwer. Die Frauen der Bergleute hatten eben nicht nur das zu versorgen, was man heute den Haushalt nennt. Die Bergleute brachten damals zum Beispiel noch ihre Arbeitskleidung zum Waschen nach Hause, und das war dann jedes Mal eine elende Plackerei, weil es Waschmaschinen noch nicht gab. Außerdem mussten die Frauen immer die Gartenarbeit verrichten und die Tiere versorgen. Auch die Ehefrauen der Bergleute hatten wirklich von morgens bis abends zu tun.
- Sie sprachen gerade davon, dass es damals noch viel mehr gemeinsames Handeln oder Solidarität unter den Leuten gab. Spielt da nicht doch auch eine gewisse Verklärung der Vergangenheit mit, in der natürlich alles immer besser war, als es heute ist?
Nein, das glaube ich nicht. Ich will das einmal so ausdrücken: Wenn ich an meine Kindheit in der Siedlung zurückdenke, dann kommt es mir immer noch so vor, als wenn ich dort unter lauter Verwandten gewohnt hätte. Genau so war das: jeder Mensch auf der Straße kam mir damals wie ein Verwandter vor. Das kann man heute eigentlich gar nicht mehr nachvollziehen, wie man zu fremden Menschen eine so starke Beziehung haben kann. Aber das hatte eben ganz stark mit dem Berufsleben der Bergleute zu tun; man war unter Tage aufeinander angewiesen, und das hatte Konsequenzen auch für den privaten Bereich. Hinzu kam die isolierte Situation; denn zu anderen Berufsgruppen hatten die Leute im allgemeinen gar keinen Zugang.
Man sah diese Trennung übrigens auch in der Schule. Die Grundschule besuchten alle Kinder damals wie heute noch unabhängig vom Beruf des Vaters. Ich kann mich noch erinnern, dass wir immer sehr große Klassen hatten, zwischen 40 und 50 Kinder. Nach dem vierten Schuljahr waren dann aus meiner Klasse aber nur drei Jungen für das Gymnasium bestimmt: der Sohn des Pastors, der Sohn des Doktors, und der dritte war der Sohn eines Bergmanns. Der war allerdings auch schlauer als alle anderen zusammen, so dass man wohl gar nicht umhin konnte, ihn auch zum Gymnasium zu schicken und später studieren zu lassen. Aber dieser Junge war wirklich eine Ausnahme. Die meisten der Kinder von Bergleuten sind damals übrigens in irgendein Handwerk gegangen. Ich weiß eigentlich niemanden, der auch wieder Bergmann geworden ist. Denn das haben die Bergleute - und auch mein Vater - immer gesagt: Meine Kinder sollen einmal etwas Besseres werden. Auf keinen Fall sollen sie auch Bergleute werden, es ist viel zu schwer und zu gefährlich, da unten zu arbeiten.
Damals konnte ich mir das allerdings noch gar nicht so recht vorstellen; aber vor ein paar Jahren bin ich mit der Gruppe der Gelsenkirchener Autoren einmal auf der Zeche „Consol“ eingefahren, und da war ich allein schon durch die Grubenbesichtigung völlig erschöpft. Für mich war das eine ganz wichtige Erfahrung; denn bei dieser Grubenfahrt habe ich mich meinem verstorbenen Vater sehr nahe gefühlt. Ich habe plötzlich verstanden, was er zeit seines Lebens für uns geleistet hat.
Das Schlimmste für mich war die Dunkelheit in der Grube. Ich habe vorher gar nicht gewusst, dass es eine solche Dunkelheit überhaupt gibt. Als wir wieder nach oben kamen, habe ich den jungen Bergleuten gesagt: Wenn mein Mann Bergmann wäre, dann würde ich den nur noch verwöhnen. Doch, das war so; mir taten diese Leute plötzlich leid.
- Im Augenblick sieht es um den deutschen Bergbau nicht sehr gut aus. Glauben Sie noch an eine Zukunft des Bergbaus, oder ist das alles nicht schon Geschichte?
Es ist schon sehr traurig, dass in einer Stadt wie Gelsenkirchen, die immer vom Bergbau gelebt hat, davon kaum noch etwas existiert. Und ob dieser Rest noch eine Zukunft hat, das kann ich nicht sagen. Es ist aber eine Tatsache, dass man in der Vergangenheit in Gelsenkirchen nie sonderlich stolz darauf war, eine Bergarbeiterstadt zu sein. Unsere Stadtväter haben sich doch zeitweilig geradezu geniert, von der „Stadt der tausend Feuer“ zu reden. Das finde ich schlimm; man hat zur eigenen Identität oft gar nicht stehen wollen und immer ein anderes Image gesucht. Dabei hat mir dieser Name immer gefallen: „Stadt der tausend Feuer“: wo Feuer ist, da ist schließlich auch Wärme, da sind Menschen, da ist Arbeit. Aber anscheinend wollte man in Gelsenkirchen immer etwas Besseres sein. Genau wie unsere Väter immer gesagt haben: unsere Kinder sollen einmal etwas Besseres werden, so redeten und reden unsere Stadtväter. Dieses Image der Arbeiterstadt soll wohl einfach nicht sein.
Dabei hatte ich selber eigentlich nie das Gefühl, dass wir zu bedauern sind. Ich habe mich unter den sog. kleinen Leuten immer sehr wohl gefühlt. Diese Menschen hatten immer ihre eigene Moral, sie waren einfach anständig, auch wenn sie von außen oft anders beurteilt wurden. Auch mein Vater war ein unglaublich moralischer Mensch. Er liebte Literatur und Musik, aber ich weiß noch genau, dass er Goethe nur deshalb nicht mochte, weil der in seinen Augen einen unmoralischen Lebenswandel geführt hatte. Wagner lehnte er ab, weil der in seinen Augen Gedankengut verbreitet hatte, das problemlos von den Nazis übernommen werden konnte.
Diese engen Maßstäbe galten natürlich auch im privaten Leben. Kinder sind ihren Eltern gegenüber zumeist sehr kritisch, und ich kann wirklich behaupten, dass mein Vater auch nie die Unwahrheit gesagt hat. Er hat gesagt, was er dachte. Vor allem hat er nie hinterrücks über andere Leute geredet. Es ist z.B. einmal vorgekommen, dass ich als Kind irgendwelche Einkäufe für meine Mutter erledigt hatte, und versehentlich hatten die mir dort zuviel Wechselgeld zurückgegeben. Ich hatte das natürlich sofort bemerkt und kam ganz freudestrahlend nach Hause. Mein Vater hat sofort verlangt, dass ich dieses Geld zurückbringe. Aber solche Dinge gelten nicht nur für mein Elternhaus. Ich glaube, die kleinen Leute hatten insgesamt eine ganz feste Vorstellung von Moral. Und schon aus diesem Grund bin ich sogar froh darüber, in einem solchen Milieu aufgewachsen zu sein.
Diese moralische Haltung galt übrigens auch Ausländern und Fremden gegenüber. Die gab es damals zwar noch nicht in dem Ausmaße wie heute, aber ich erinnere mich noch genau daran, dass mein Vater einmal etwas gelesen hatte über Farbige und dann meinte: Wenn es möglich wäre, würde ich am liebsten ein paar farbige Kinder adoptieren und großziehen. Das imponiert mir noch heute, vor allem wenn ich die augenblickliche Ausländerfeindlichkeit bei uns sehe. Je mehr ich über solche Dinge nachgedacht habe, um so stolzer war ich darauf, in einem solchen Milieu aufgewachsen zu sein. Denn oft ist es doch leider so: Je höher jemand hinaus will, um so korrupter wird er. Und wenn er erst ein Haus hat, dann will er unbedingt das zweite Haus haben, nach dem Zweitwagen noch den Drittwagen. Dabei geht das wirklich Wichtige im Leben verloren. Ich habe z.B. sehr bewusst den Krieg miterlebt, und der wichtigste und ergreifendste Tag in meinem Leben war der, als es endlich hieß: wir haben Frieden, dieser verdammte Krieg ist endlich vorbei. Das war einfach überwältigend. Mit der Armut haben wir leben können; aber diese Angst bei den Bombenangriffen war unerträglich gewesen, weil man nie wusste, ob man am nächsten Tag noch leben würde.
- Wie war das Leben in der Siedlung eigentlich während der Nazi-Zeit? Ging da die Solidarität unter den Bergleuten nicht verloren?
Das ist wirklich ein ganz interessantes Thema. Wir hatten damals als einer der ersten Haushalte in Horst-Süd ein Radio, das hatte mein Vater noch selbst zusammengebastelt. Bei zwei Ereignissen kam dann jeweils die ganze Nachbarschaft zu uns: wenn ein Fußballspiel übertragen wurde, und wenn Hitler redete. Und da waren die Reaktionen doch sehr verschieden. Mein Vater war von Anfang an gegen den Nationalsozialismus; aber dadurch hatte er schon in der engsten Verwandtschaft andauernd Streit. Ein Onkel kam z.B. plötzlich mit SA-Uniform an, und auch der Nachbar marschierte eines Tages stolz mit Stiefeln und SA-Uniform über die Straße. Der Riss ging wirklich quer durch die gesamte Bergarbeiterschaft. Die einen waren Sozialdemokraten - Kommunisten gab es eigentlich nur wenige -, die anderen waren Sympathisanten des Nationalsozialismus. Aber wie bereits gesagt, diese Trennung verlief sogar durch einzelne Familien. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass meine Tante einmal an einer Informationsveranstaltung der Nazis teilgenommen hat, und von dem Zeitpunkt an war sie total begeistert von diesen Ideen. Wenn sie dann zu uns kam, hat sie oft von Hitler und dessen Ideen geschwärmt, und mein Vater hat ihr natürlich immer Kontra gegeben. Die schlimmsten Familienstreitereien waren dadurch eigentlich vorprogrammiert. Und doch kann man auch im nachhinein nicht so einfach trennen in gut und böse. Meine Tante z.B. besaß einen kleinen Lebensmittelladen, in dem ich auch während meines Pflichtjahres gearbeitet habe. Während des Krieges kamen nun oft polnische Zwangsarbeiter vorbei. Meist schauten die erst ängstlich in den Laden hinein, und wenn keine Kundschaft da war, dann kamen sie herein und bettelten um Brot. Und da hat meine Tante, die doch so überzeugt war von den Nazis, immer zu mir gesagt: Gib du den Leuten Brot, du bist erst 15, dir können sie noch nichts, wenn sie dich erwischen. Sie selber hat sich dann aus Angst immer verdrückt, weil sie natürlich streng bestraft worden wäre. Einerseits war sie also sehr wohl für die Ideen des Nationalsozialismus; aber andererseits ist sie doch auch immer menschlich geblieben. Ich glaube, die wirkliche Gefahr des Nationalsozialismus hat sie überhaupt nicht erkannt. Aber das kam ja leider bei allen erst viel später.
Diese politische Spaltung hat aber - jedenfalls so weit ich das beurteilen kann - nie zu Denunziationen oder ähnlichen Gemeinheiten unter den Leuten geführt. Es war doch einfach so, dass sich die Leute in der Siedlung von Kindheit an kannten und somit sehr stark miteinander verbunden waren. Ich habe nie gehört, dass da einer den anderen etwa bei der Polizei angeschwärzt hätte. Trotz sehr unterschiedlicher politischer Meinungen hat man sich auch weiterhin akzeptiert. Das lief eher so ab: die einen haben gesagt, ihr Nazis seid alle verrückt, ihr habt doch gar keine Ahnung, und dann haben die anderen ihre Argumente vorgebracht: Guck doch mal, was der Hitler schon alles für die Arbeiter getan hat, und wenn dieser Krieg erst einmal vorbei ist, dann geht es uns allen viel besser. So ungefähr muss man sich das vorstellen. Aber dass da die Kameraden, die tagsüber zusammen gearbeitet haben, sich gegenseitig denunziert hätten, das habe ich jedenfalls nie erlebt. In anderen Kreisen ist so etwas sicherlich vorgekommen; unter den Bergleuten nicht.
Es war allerdings auch so, dass man zunächst einmal ja auch gar nicht erfuhr, was wirklich los war. Wir Kinder ohnehin nicht. Wir hatten doch kaum etwas anzuziehen, und plötzlich bekamen wir alle eine tolle Uniform verpasst. Natürlich waren wir schon deshalb begeistert. Und von all dem, was wirklich dahintersteckte, hatten wir gar keine Ahnung. Das wurde einem erst im nachhinein klar, aber da war es bereits viel zu spät, und man konnte es selber kaum glauben. Mein Vater hat allerdings im Laufe der Zeit die ganze Sache doch immer mehr durchschaut. Und dann ist es wohl schon so gewesen, dass er vorsichtiger wurde und auch schon mal den Mund hielt; denn trotz allem war es natürlich jedem klar, was zumindest passieren konnte, wenn man sich mit seinen Bemerkungen zu weit aus dem Fenster lehnte.
- Dieses Ruhrgebiets-Milieu, über das wir schon die ganze Zeit sprechen und das sie z.B. in dem Gedicht „Meine Stadt“ beschreiben, gibt es das eigentlich noch? Oder ist das nicht schon zum verklärten Klischee geworden?
Dieser Text ist mittlerweile rund 17 Jahre alt, und natürlich hat sich in der Zwischenzeit einiges verändert im Ruhrgebiet. Gelsenkirchen ist z.B. viel grüner geworden, im Text wird die Stadt doch sehr grau geschildert. Wenn ich dieses Gedicht heutzutage z.B. in Schulen vorlese, dann sagen die Kinder immer: Das stimmt doch gar nicht! Unsere Stadt ist in Wirklichkeit viel schöner! Manchmal werden sie sogar richtig böse und sagen: Schreiben Sie doch auch mal ein Gedicht, in dem all das Schöne unserer Stadt vorkommt! Das habe ich natürlich auch getan, es gibt schließlich auch Texte von mir, in denen ich Gelsenkirchen oder das ganze Ruhrgebiet viel positiver dargestellt habe. Ich denke da z.B. an das Gedicht „Heimatbeschreibung“. Mit diesem Text sind übrigens auch die Kinder immer einverstanden, wenn ich in Schulen lese. Das gefällt uns schon besser, sagen die dann, da erkennt man unsere Stadt schon eher.
- Das Gedicht „Meine Stadt“ beschreibt Gelsenkirchen auf eine Art und Weise, dass auch ich z.B. sagen kann: Ja, das ist meine Stadt. Auf der anderen Seite sehe ich aber, dass vieles von dem, was sie beschreiben, verloren geht bzw. schon verlorengegangen ist. Und diese Veränderungen sehe ich keineswegs nur positiv. In dem Text sagen Sie selber doch auch, dass eben dieses Bild der Stadt das Leben sei, dessen Pulsschlag Sie durchströmt.
Sicherlich ist da schon eine ganze Menge verlorengegangen, und es hat sich eben nicht alles zum Positiven gewandt. Ein ganz bestimmtes Lebensgefühl ist z.B. verlorengegangen, das sich nur schwer beschreiben lässt. Die Menschen sind viel einsamer geworden, man schließt heute die Tür zu und sieht oft selbst den nächsten Nachbarn wochenlang nicht. Die Menschen sind heute beruflich viel mehr eingespannt, und zwar Männer und Frauen, sogar schon die Kinder in der Schule. Trotz kürzerer Arbeitszeit - früher haben die Männer viel länger arbeiten müssen - haben die Menschen heute keine Zeit mehr. Für sich selber nicht, und für andere noch weniger. Die Menschen teilen heute ihr Leben nicht mehr miteinander, die Freuden nicht und die Leiden schon gar nicht. Um es einmal so auszudrücken: wenn ich heute von einem anderen Menschen etwas will, dann muss ich dafür bezahlen. Heutzutage regiert das Geld.
Ich frage mich selber oft, woher diese Entwicklung eigentlich kommt. Zum einen kann man es sicher dadurch erklären, dass die Menschen nicht mehr so dicht beieinander und schon dadurch auch nicht mehr miteinander wohnen. Man stellt eben heute nicht mehr den Stuhl abends vor das Haus, setzt sich dort hin, strickt oder liest, der nächste kommt dazu, erzählt etwas, der dritte kommt, und schließlich hat man einen ganzen Kreis von Menschen, die sich noch etwas zu erzählen haben und gemeinsam etwas unternehmen. So war es früher. Heute würde mich doch jeder dumm angucken, wenn ich mich hier mit dem Stuhl vors Haus setzte, mal abgesehen davon, dass es ja auch gar nicht möglich ist wegen des Verkehrs auf der Straße.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Fernsehen. Man muss doch heute schon fast Angst haben, jemanden abends anzurufen, weil man ihn nämlich höchstwahrscheinlich beim Fernsehen stört. Eine Bekannte rief mich neulich an und fragte als erstes: Sitzt du gerade vor dem Fernseher? Dann lege ich wieder auf. Mittlerweile muss man erst einmal klarstellen, dass einem der andere Mensch wichtiger ist als jedes Fernsehprogramm. Die Massenmedien isolieren die Menschen immer mehr. Heutzutage kann man sich zwar jedes Fußballspiel im Fernsehen anschauen, aber früher hat man auf der Straße selber Fußball gespielt. Und dort, auf der Straße, haben die großen Ruhrgebietsvereine wie Schalke die Talente entdeckt. Das war doch sogar noch bei Olaf Thon so. Dessen Großeltern haben übrigens auch nebenan in unserer Siedlung gewohnt, und der Olaf ist wirklich noch als Straßenfußballer entdeckt worden. Und ob man das nun wahrhaben will oder nicht: auch bei einem ursprünglichen Arbeiterverein wie Schalke 04 geht es heute ausschließlich ums Geld, um diese scheußliche Form von Menschenhandel.
- Sie haben eine ganze Reihe von Texten zum Thema Bergbau geschrieben, und in jedem dieser Texte spürt man, dass sie eine starke emotionale Bindung zu diesem Milieu haben. Können Sie sich das Ruhrgebiet eigentlich gänzlich ohne Bergbau vorstellen?
Muss man sich denn da noch viel vorstellen? Der Bergbau ist doch schon weitgehend aus dieser Region verschwunden. Ich bin zwar nicht mehr unmittelbar davon betroffen, da niemand aus meiner Familie im Bergbau arbeitet; aber es macht mich eben doch betroffen, wenn ich aus meinem Fenster auf den Förderturm der Zeche „Nordstern“ sehe und weiß, das dieses Gelände, auf dem früher jedes Jahr hunderte von jungen Leuten ausgebildet wurden, nun völlig tot da liegt. Die Identifikation mit der Zeche, mit dem Bergbau ganz allgemein, ist auf jeden Fall geblieben. Wenn ich z.B. in der Vorweihnachtszeit von irgendwoher nach Hause komme und schon von weitem den Tannenbaum auf dem Förderturm von „Nordstern“ sehe, dann ist der für mich immer noch das Symbol für Heimat schlechthin. Und das hat auch mit Gefühlsduselei nichts zu tun; das ist einfach ein Symbol für einen ganz wichtigen Teil meines Lebens. Und eben nicht nur meines Lebens. Der Bergbau hat diese ganze Region und auch die Menschen des Ruhrgebiets geprägt. Unter Tage hat es z.B. nie eine Diskriminierung anderer gegeben, keine Apartheid, weil unter Tage alle schwarz waren, ob sie nun Türken, Deutsche, Polen oder sonstwas waren. Und diese Kameradschaft und Toleranz haben auch nie nach Ende der Schicht am Zechentor aufgehört. Gerade im Hinblick auf solche Dinge ist das Ende des Bergbaus besonders schade.
Und natürlich wegen ganz konkreter Probleme, wegen der Arbeitsplätze, die im und um den Bergbau schon weggefallen sind oder noch verloren gehen. Ich hoffe zwar, dass das Ruhrgebiet auch eine gute Zukunft hat, weil die Menschen hier nie aufgegeben und es immer verstanden haben, wieder auf die Beine zu kommen; aber im Augenblick sehe ich diese Zukunft noch nicht. Am schlimmsten ist die hohe Arbeitslosigkeit. Wer will es einem Langzeitarbeitslosen denn verübeln, dass er irgendwann einfach den Mut verliert? Die Menschen hier sind gewohnt, hart zu arbeiten und anzupacken, und nun vermittelt man ihnen das Gefühl, Menschen zweiter oder dritter Klasse zu sein und nicht mehr dazu zu gehören. Lediglich noch sein Geld beim Sozialamt abholen zu dürfen, das ist einfach erniedrigend und menschenunwürdig.