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4. Ich würde sofort eine Umschulung machen

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Anonym, 64 Jahre, Steiger i.R.

Ich war mit Leib und Seele Bergmann; aber wenn ich heute noch einmal wählen müsste, würde ich im Bergbau nicht mehr anfangen.

Ich werde in diesem Jahr 64; 1948 habe ich mit 16 Jahren im Bergbau angefangen. Allerdings nicht hier, sondern in der ehemaligen DDR. Und auch eher der Not gehorchend als dem eigenen Triebe. Wir kommen ursprünglich aus Schlesien und sind nach dem Krieg in Mitteldeutschland hängen geblieben. Ich bin damals zum Gymnasium gegangen und war mehr oder weniger Miternährer unserer Familie. Mein Vater war sehr früh während des Krieges verstorben, und ich hatte noch drei jüngere Schwestern. Schließlich ließ sich das alles nicht mehr miteinander vereinbaren; ich bin nachts losgezogen, habe Kohlen geklaut, Kartoffeln geklaut, und vormittags bin ich in der Schule eingeschlafen. Ich bin nach der Mittleren Reife von der Schule gegangen und habe im Bergbau angefangen, weil man drüben - ähnlich wie hier über den zweiten Bildungsweg - ein Praktikum von drei Jahren machen und dann in Freiberg oder Mansfeld Bergbau studieren konnte. Angefangen habe ich in Staßfurt im Salzbergwerk, Steinsalz und Kali. In den drei Jahren des Praktikums musste man damals alle Sparten des Bergbaus durchlaufen; das gab es damals drüben ja noch, Kupfer-, Schiefer-, Steinkohlenbergbau. Ende der 50er Jahre ist das dort allerdings alles kaputt gegangen. Schließlich habe ich versucht, hier im Westen im Steinkohlenbergbau ein mir noch fehlendes Praktikum zu absolvieren, von dem ich hoffte, dass es dann auch drüben anerkannt würde. Ich hatte drüben einen guten Freund, der war Bergrat in Staßfurt am dortigen Bergamt; dessen Freund wiederum war hier Werkchef auf "Bismarck". Mit dem habe ich mich dann in Verbindung gesetzt und habe auch die Zusage bekommen, falls das Durchgangslager in Bochum-Hiltrop zustimme, könne ich im Ruhrbergbau anfangen. Also habe ich meinen Urlaub eingereicht, um mir hier vor Ort alles einmal anzusehen. Und als ich zu meinem Fahrsteiger kam, sagte der nur: Sie tragen sich doch mit Fluchtgedanken. Sie wollen doch nur in den Westen rüber. Die hatten also meine Post abgefangen. Das war übrigens Anfang 1948. Ich muss noch hinzufügen, dass die Betriebsräte auf der Schachtanlage in Staßfurt so rot waren, wie es roter nicht ging; und bei denen kam ich ohnehin nie auf den grünen Zweig. Ganz offensichtlich hatten die mich schon auf ihrer Liste vorgemerkt, und bei der kleinsten Kleinigkeit sollte ich dann dran sein. Ich wusste das von einem guten Bekannten, der ebenfalls im Betriebsrat saß und mir immer mitteilte, was dort hinter meinem Rücken gegen mich lief.

Im Juli 1948, kurz nach der Währungsreform, wurden in Aue, im Uranbergbau, Bergleute gebraucht. Ich kam zur Zeche, hatte Mittagsschicht, musste zum Betriebsführer, und der sagte mir: Melden Sie sich mal beim Fahrsteiger, der hat für Sie eine Mitteilung! Dann bekam ich einen Zettel, Sie haben für zwei Tage Marschverpflegung und Decken mitzubringen; morgen früh um sechs Uhr melden Sie sich hier auf dem Zechengelände und werden von dort mit dem Lkw nach Aue gebracht. Dort können Sie ja dann Ihr Praktikum beenden. Das Praktikum war natürlich nur das offizielle Mäntelchen, um mich dort hinzuschicken. Aue stand damals schon in einem sehr schlechten Ruf. Der Uranbergbau wurde dort mit geradezu mittelalterlichen Mitteln betrieben. Auf die Gesundheit der Menschen wurde nicht die geringste Rücksicht genommen. An dem Abend bin ich dann nach Hause gekommen, habe zu meiner Mutter gesagt: für mich ist die Zeit hier abgelaufen, habe meinen Rucksack genommen und bin mit dem letzten Zug aus Staßfurt rausgefahren in Richtung Westen, so weit wie ich kam. Bei Nacht und Nebel bin ich dann die letzten 20 Kilometer bis zur Grenze gelaufen; auf DDR-Seite gab es ja diese sog. Sperrzone an der Grenze, die man überhaupt nur mit Sonderausweisen betreten durfte. Ich bin bis kurz vor die Grenze bei Helmstedt gekommen; noch auf östlicher Seite hatte ich einen guten Bekannten wohnen, der im Westen im Braunkohletagebau arbeitete. Das war damals noch möglich; die Arbeiter pendelten jeden Tag über die Grenze. Diesem Bekannten habe ich mich anvertraut und habe dort noch einige Stunden schlafen können. Er meinte, du nimmst morgen früh mein Fahrrad, meinen Rucksack, ziehst meine Kleidung an, und dann fährst du einfach rüber. Ich weiß es noch ganz genau, es war ein schreckliches Wetter, regnerisch, für die Jahreszeit viel zu kühl, und als ich an die Grenze kam, dachte ich, mein Herz bleibe jeden Augenblick stehen. Dann war aber doch alles ganz einfach, die Vopos spielten Skat, und ich war drüben. Hinter der Grenze habe ich mir erstmal eine Zigarette angesteckt, und dann war das ein Gefühl wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten an einem Tag.

In Helmstedt wohnte wieder ein guter Bekannter von mir aus Schlesien, der auch im Braunkohlebergbau arbeitet. Der hat mir 20 Mark gegeben, und das war 1948 natürlich viel Geld. 18 Mark kostete dann die Fahrkarte nach Gelsenkirchen, zwei Mark blieben mir, um noch ein paar Briefe zu schreiben - das Porto betrug damals 20 Pfennig. Nachdem ich mich in Gelsenkirchen auf der Zeche "Bismarck" gemeldet hatte, bin ich schließlich mit 20 Pfennig in der Tasche im Durchgangslager Bochum-Hiltrop eingetroffen. Ich hatte die Zusicherung, auf "Bismarck" anfangen zu können, aber durch dieses Lager musste ich dennoch.

Am 2.August 1948 habe ich dann tatsächlich auf "Bismarck" angefangen zu arbeiten, hier in Erle auf der alten Schachtanlage. Gewohnt habe ich zwei Jahre lang im Lager am Forsthaus, wo heute der Fußballplatz von Erle 08 liegt. Dann bin ich auf die Suche gegangen nach einem Kosthaus und habe das in Erle auf der Waldstraße auch gefunden. Dort habe ich neun Jahre mit einem Kollegen zusammen gewohnt und war dort wirklich wie bei Muttern untergebracht. Bis 1956 habe ich dann auf der Schachtanlage hinter dem Kanal an der Uechtingstraße gearbeitet, habe in der Zwischenzeit meine Bergvorschule gemacht, weil das, was ich drüben an Ausbildung schon absolviert hatte, hier im Westen nicht zählte. Nach der Bergvorschule habe ich auf "Hugo" angefangen, habe in Essen die Steigerschule besucht, war im Oktober 1958 Lehrsteiger, und im April 1959 habe ich als Steiger auf "Hugo-Ost" angefangen. Dort bin ich bis zu meiner letzten Schicht 1986 geblieben. Ich musste frühzeitig ausscheiden, weil ich einen schweren Herzinfarkt bekommen habe und danach grubenuntauglich war.

Ich sagte gerade schon, ich war mit Leib und Seele Bergmann. Früher hätte ich mir das selber nicht vorstellen können; denn als wir noch in Schlesien wohnten und ich dort zur Schule ging, da war der Bergbau für mich doch ganz weit weg. Nicht unbedingt räumlich; von uns aus waren es vielleicht 60 Kilometer bis zu den ersten Gruben in Gleiwitz. Aber mit dem Bergbau war für mich immer etwas fast Mystisches verbunden, die Gefahr, die Tiefe, das Dunkle, und das alles war absolut nichts für mich. Es gab auch in unserer gesamten Familie nicht einen einzigen, der jemals etwas mit dem Bergbau zu tun gehabt hätte. Da gab es eigentlich nur Geschäftsleute, Kaufleute. Mein erster Berufswunsch als Junge war übrigens, Förster zu werden; das bot sich eigentlich auch an, weil mein Vater Inspektor auf einem Gut war. Den Ausschlag für den Bergbau hat letztlich nur die Situation nach dem Krieg gebracht, die sich vor allem auf einen Begriff reduzieren lässt: Hunger. Hunger bis in die Kniekehlen. Und natürlich die Verpflichtung meiner Familie gegenüber. Der Bergbau lag plötzlich einfach nahe: Das begann mit dem Deputat, das es damals gab. Das waren 100 Zentner Briketts, und die hatten damals drüben einen enormen Wert: für drei Zentner Brikett gab es zwei Zentner Kartoffeln. Dann bekam ich unbegrenzt Rohbraunkohle, so dass wir selber die Briketts gar nicht zum Feuern brauchten, sondern alle verkaufen konnten. Ferner gab es zwei Flaschen Schnaps und 100 Zigaretten im Monat; es gab Sonderzuteilungen an Verpflegung, mal eine Kiste Harzer-Roller, mal Margarine oder Marmelade zusätzlich. Jedes halbe Jahr gab es Stoff für einen Anzug oder irgendetwas anderes. Es gab jeden Tag - wie hier damals auch - die zwei Doppelten, also Butterbrote, bei der Anfahrt, außerdem einen Topf Suppe. Ich hatte zudem einen guten Bekannten, der auf der Zeche in der Küche arbeitete, und der gab mir immer noch einen Topf Suppe extra, den ich nach Hause mitnehmen konnte. Solche Gründe waren für mich damals ausschlaggebend, um in den Bergbau zu gehen. Hinzu kam, dass es auch kaum eine Alternative gab; es bestand fast keine Möglichkeit, irgendeinen anderen Beruf zu erlernen. Außerdem bot der Bergbau auch noch die Chance, dass ich weiterlernen konnte: Grundausbildung, drei Jahre Praktikum, anschließend noch einmal drei Jahre Schulbesuch, um dann als Bergingenieur zu arbeiten.

Zunächst einmal war es also einfach die Not nach dem Krieg, die mich zum Bergbau gebracht hat. Aber das erklärt noch nicht, weshalb ich schließlich mit Leib und Seele Bergmann war. Ich hatte wirklich ein fast unverschämtes Glück: Meine erste Schicht habe ich auf der Braunkohlengrube "Löderburg" verfahren, wo die Braunkohle, die nur 60 Meter tief lag, im Tiefbau abgebaut wurde. Ringsum gab es überall nur Tagebau, nur auf dieser Grube Tiefbau. Gleich am ersten Tag wurde ich einem alten Meisterhauer zugeteilt, der ein so gestandener Bergmann war, wie man ihn sich nur vorstellen kann. Und der hat es eben verstanden, mich für den Bergbau zu begeistern. Ich war außerdem sehr lern- und wissbegierig, und das gefiel ihm. Ich habe rund ein halbes Jahr bei ihm die Ausbildung geradezu genossen, und in der Zeit war er für mich fast wie ein Vater. Wir haben vieles mitgemacht, z.B. einen Wassereinbrauch am Heiligen Abend, bei dem wir schon meinten, jetzt könnten wir unser letztes Vaterunser beten. Oder auch einen Gebirgsschlag, bei dem fast 500 Meter Strecke zusammengebrochen sind und wir in einer kleinen Nische festsaßen. Und trotz solcher Dinge habe ich bei diesem Mann nie das Gefühl gehabt, Angst haben zu müssen. Wie er dieses Gefühl rübergebracht hat, kann ich gar nicht erklären. Dieser Mann war einfach mit dem Berg verwachsen; der wusste auf jede Frage, die der Berg stellte, eine Antwort. Leicht war die Arbeit allerdings nicht. Die Zeche war schon ziemlich alt, fast 250 Jahre; während des Krieges hatte man schon einmal moderne Maschinen im Einsatz gehabt, aber das hatte sich letztlich nicht rentiert. Die Kohle musste also von Hand gemacht werden. Außerdem gab es nur offenes Geleucht, eine Karbidlampe über dem Kopf. Der Schacht war wie gesagt 60 Meter tief, es durfte keine Seilfahrt durchgeführt werden; nur die Kohle durfte am Seil nach oben gezogen werden, wir mussten morgens über Leitern 60 Meter nach unten, mittags über Leitern wieder nach oben. Und das alles mit Rucksack, in dem wir unsere Marschverpflegung verstaut hatten, manchmal ein paar Kartoffeln, oder eine Wasserrübe, denn Brot war ja knapp. Auf der Rückfahrt sollte der Rucksack eigentlich leer sein; aber dann steckte z.B. ein 1,60 m langer Holzstempel von 15 cm Durchmesser, klein gesägt, im ehemaligen Luftwaffenrucksack, und das Gewicht schleppte man mittags über 60 Meter nach oben.

Es war wirklich sehr mühsam. Ich sagte gerade schon, dass ich mich heute nicht mehr für den Bergbau entscheiden würde. Der Stand der Mechanisierung im heutigen Bergbau ist dafür ein wichtiger Grund. Mittlerweile hat auch der Computer dort schon Einzug gehalten, und ... ich weiß gar nicht, wie ich das nun sagen soll ... Die Arbeit des Bergmanns ist völlig unpersönlich geworden. Man drückt heute nur noch auf den Knopf, durch den Schildausbau ist man zudem nach oben so abgesichert, dass normalerweise gar nichts mehr passieren kann. Und das hat auch Konsequenzen für das Verhältnis der Leute untereinander. Heute fehlt einfach die Kameradschaft. Früher saß man mit 60 Mann nebeneinander und hat die Kohle herausgemacht, und da war man auf den Alfred rechts und den Max links neben sich angewiesen. Heute drückt jemand auf den Knopf, der Hobel läuft los, und wenn Schicht ist, dann wird der Hobel wieder abgestellt. So ungefähr läuft das. Es bleibt gar keine Zeit mehr für ein Gespräch, es wird auch nichts mehr gemeinsam geplant. Wenn wir z.B. früher aus der Grube kamen und noch bei einer Flasche Bier in der Steigerkaue zusammensaßen, dann hat man sich noch über Probleme und Erfolge bei der Arbeit ausgetauscht. So etwas ist heute gar nicht mehr möglich. Und wahrscheinlich wollen die Leute das heute auch gar nicht mehr. Gerade für die jüngeren Bergleute ist der Bergbau nur noch ein Broterwerb, vor ein paar Jahren noch ein recht sicherer, heute einer mit vielen Fragezeichen, aber mehr ist diese Arbeit nicht. Und für mich war der Beruf des Bergmanns eben doch immer viel mehr. Unter den Leuten passierte damals einfach noch mehr, und auch das Verhältnis Steiger - Kumpel war noch ein anderes. Der Steiger war von der Leistung der Kumpel abhängig, und die Kumpel vom Steiger; denn für gute Leistung gab es auch gutes Geld. Oder wenn Gefahr im Verzuge war - ich habe auf "Bismarck" zweimal unter einem Bruch gelegen-, dann waren alle Kollegen da. Oder besser gesagt: alle Kumpel. Das ist nämlich das richtige Wort dafür.

Infolge der Mechanisierung ließ die Kameradschaft natürlich auch schon deshalb nach, weil wir immer weniger Leute im Streb hatten. Heute sind drei oder vier Mann im Streb, früher saß da Kumpel an Kumpel. Auf "Hugo-Ost" wurde die erste Schrämmaschine übrigens 1958 eingesetzt; es gab da aber auch weiterhin zunächst noch jede Menge Handbetriebe, wo also die Kohle mit dem Abbauhammer gemacht wurde, evtl. durch Sprengarbeiten aufgelockert wurde. Damals hat der Hauer auch noch von Hand ausgebaut, um sich nach oben abzusichern. Dann kamen die ersten Stahlstempel anstelle der Holzstempel, schließlich die Hydraulikstempel. Anfang der 70er Jahre kam dann der Schildausbau. Erst zu der Zeit konnte man nämlich Leitungen im Streb verlegen für die Hydraulikflüssigkeit; denn das war ja problematisch: man kann nicht 250 Atü durch eine x-beliebige Leitung jagen. Außerdem mussten diese Leitungen mit dem Abbauvorschritt zu bewegen sein. Insgesamt ist der Bergbau in den letzten Jahrzehnten wesentlich sicherer geworden; aber die dazu notwendige Mechanisierung hatte ganz eindeutig zur Folge, dass die ursprüngliche Kameradschaft unter den Leuten immer mehr verschwand.

Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der Bergleute ging auch weit über das Arbeitsleben hinaus. Wenn ich an die ersten Jahre auf "Bismarck" denke, da ging man nach der Schicht erstmal in die Zechenkantine. Die gab es praktisch bei jeder Zeche; direkt neben dem Zechentor lag irgendein Gasthaus. Da wurde dann ein Halber und ein Schnaps genommen, und dann ging es gemeinsam nach Hause. Man hat sich auch über das Privatleben ausgetauscht, sich seine Sorgen erzählt. Und wenn es mal wieder gut gelaufen war im Streb und man eine Mark zusätzlich verdient hatte, dann sagte der eine oder andere: Lass uns mal heute zu Hause einen draufmachen! Dann wurde in der Zechenwohnung in der Auguststraße - zwei Zimmer, in denen sich eigentlich alles abspielte - ein großer Pott Kartoffeln gekocht, eine anständige Portion Matjes dazu, ein Kasten Bier, und dann wurde mit mehreren Familien zusammen gefeiert. In den neun Jahren, als ich in Logis war, da spielte sich ein Großteil des Lebens auch noch im Hof oder auf der Straße ab. Wenn man heute durch die Waldstraße geht, dann sieht man dort nur isolierte Fenster, Rollläden davor, und auf der Straße spielt sich gemeinsames Leben überhaupt nicht mehr ab. Mein Kollege hatte sich früher einen Schallplattenspieler gekauft, ich mir ein Radio, und Sonntagsmorgens machten wir in unserer Dachkammer das Fenster auf, es wurde richtig Power gegeben, und die ganze Waldstraße lag im Fenster und hat mitgeträllert. Heute würde gleich jeder schreien: Mach das Fenster zu! Diese Entwicklung kam natürlich auch durch die Einführung des Fernsehens; das Fernsehen hat vieles von dem kaputt gemacht, was es damals noch an gemeinsamem Leben unter den Leuten gab.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bergbaufamilien resultierte natürlich auch aus der Tatsache, dass der Bergbau damals eben noch viel gefährlicher war als heute und es dementsprechend mehr Unfälle gab. Und durch solche Unfälle kam man dann zwangläufig in die Familien hinein. Auf "Bismarck" habe ich es z.B. einmal erlebt, dass wir in einer Woche drei tödliche Unfälle im Revier hatten; und bei allen drei Unfällen war ich mit als Sargträger eingeteilt. Damals wurden die getöteten Bergleute übrigens noch in den Wohnungen der Familien aufgebahrt. Der letzte, den wir in der besagten Woche beerdigen mussten, wohnte in Resser-Mark, und wir haben ihn von dort mit dumpfem Trommelwirbel bis zum Hauptfriedhof begleitet. Meine Frau war damals als Lehrmädchen in einer Fleischerei auf der Cranger Straße angestellt, und sie kann sich auch noch gut daran erinnern, wie diese Trauerzüge die Cranger Straße hinaufzogen. Und durch diese schrecklichen Ereignisse wurde man jedesmal mit in die betroffenen Familien hineingezogen und hat die Not miterlebt, die plötzlich über die Leute hereingebrochen war. Wenn heute noch jemand tödlich verunglückt, dann spielt sich alles vor der Leichenhalle ab, und es dauert - wenn man die Leute nicht näher kennt - vielleicht eine Stunde, dass man sich Gedanken macht über den Kollegen, über die Familie; aber dann läuft alles wieder auseinander. Damals hat man noch konkret erlebt, wie es in den betroffenen Familien zuging. Nach der Beerdigung war es dann immer so, dass die Musikkapelle und die in Kluft erschienenen Bergleute sich formierten und mit Marschmusik die Cranger Straße wieder hinunterzogen. Anschließend ging es in die erstbeste Kneipe, und dort wurde dann das Fell versoffen. Aber wirklich versoffen.

Derartige Rituale gehörten früher einfach dazu. Wobei ich einschränkend sagen muss, dass das Standesbewusstsein der Bergleute hier im Ruhrgebiet längst nicht so stark ausgeprägt war wie z.B. in Mitteldeutschland. Da hatte der Bergbau eben eine viel längere Tradition, und die Leute waren auch bodenständiger. Hier im Ruhrgebiet waren die Belegschaften doch von Beginn an bunt zusammengewürfelt: Ostpreußen, Schlesier, und von den 50er Jahren an, als wir zu wenige Leute im Bergbau hatten, kamen die Gastarbeiter, Italiener, Spanier, dann die Türken. Und doch sind all diese Menschen im Ruhrgebiet integriert worden. Ich habe selber auf der Arbeit mit Türken, Italienern, Spaniern die besten Erfahrungen gemacht. Vor allem mit den Menschen, die zuerst gekommen sind, gerade von den Türken. Und die aus Spanien, Belgien oder Italien kamen, das waren doch z.T. Bergbaulegionäre, die auch schon vorher im Bergbau gearbeitet hatten. Zu vielen hatte ich ein Verhältnis, wie man es sich besser nicht vorstellen kann. Da muss ich eine kleine Episode nebenbei erzählen: Im vergangenen Jahr gehe ich in Buer durch die Stadt, und plötzlich springt ein Türke auf mich zu, umarmt mich, die Tränen kommen ihm, und er ruft: Steiger, du lebst ja noch! Der wusste von meinem schweren Infarkt und sagte immer wieder: Du lebst ja noch! Ich muss sagen, diese Anteilnahme nach Jahren war für mich so überwältigend, dass auch mir in dem Augenblick die Tränen kamen. Solch ein Zusammengehörigkeitsgefühl gab es eben unter Tage, weil man genau wusste, dass jeder auf den anderen angewiesen ist.

Natürlich gab es auch mal Spannungen. Die ersten Türken z.B., die hier hinkamen, waren zumeist weltoffene Menschen. Die dann später kamen - ich will jetzt nichts Böses gegen diese Leute sagen - stammten meistens aus dem Osten der Türkei, und sie hatten es in aller Regel schwerer. Sie hatten eine ganz andere Mentalität, und oft haben sie sich regelrecht abgeschottet. Das wurde zumeist schon am Sprachverhalten deutlich: Die ersten wollten schon von sich aus Deutsch lernen; unter denen, die später kamen, waren viele, die sagten: Nein, meine Muttersprache ist Türkisch. Sie konnten schließlich zwar verstehen, was man ihnen gesagt hat; aber darüber hinaus haben sie sich keine Mühe gegeben, Deutsch zu lernen. In den letzten Jahren hatten wir auch des öfteren Probleme während des Ramadan. Die Leute aßen ja von morgens sechs Uhr bis abends 18 Uhr nichts, sollten aber die gleiche Leistung bringen wie die deutschen Kollegen. Da gab es dann auch schon mal Reibereien. Schließlich musste vonseiten der Zeche darauf Rücksicht genommen werden, wir haben akzeptiert, dass das eben zu ihrem Glauben gehört, und dann hat sich alles eingespielt. Man kann auf jeden Fall sagen, dass die Türken immer Kumpel waren. Das waren sie sogar sehr.

Und es ist auch Unfug, wenn heutzutage mit ausländerfeindlichen Parolen argumentiert wird wie: Wenn die Ausländer alle gehen, dann haben die Deutschen alle wieder Arbeit. Auf den Bergbau trifft das schon gar nicht zu; denn man darf sich doch da nichts vormachen: der deutsche Bergbau ist endgültig auf dem sterbenden Ast. Bei den Kosten, die unser Bergbau im Augenblick verschlingt, sind wir schon lange nicht mehr konkurrenzfähig, können wir mit unseren Preisen auf dem Weltmarkt gar nicht mehr existieren. Natürlich frage ich mich auch, ob man das alles einfach so zugrunde gehen lassen darf; denn selbst wenn unsere Kohle viel zu teuer ist, so steht hinter dem deutschen Bergbau doch ein unglaubliches und in der ganzen Welt gefragtes technisches Know-how, das man im Zweifelsfall natürlich ebenfalls aufgeben würde. Darf man das wirklich jetzt alles zugrunde gehen lassen? Und mit der Stillegung der letzten Zeche machen wir uns vollständig abhängig vom Ausland. Letzte Woche ging außerdem noch folgendes durch die Presse: Wenn das Bestreben, alle Kernkraftwerke stillzulegen, tatsächlich realisiert wird, dann müssten wir 19 Kohlekraftwerke bauen, um nur diese Lücke zu schließen. Das sind Dinge, die man nicht einfach vom Tisch wischen kann. Da müssen endlich verlässliche Entscheidungen getroffen werden. Wir können auch nicht weiterhin sagen: alles was stinkt oder irgendwelche Risiken in sich birgt, das bauen wir einfach ab; denn auf unseren Wohlstand, auf den Lebensstandard, die Bequemlichkeit wollen wir doch auch nicht verzichten. Wenn überhaupt, dann kann eine Änderung der augenblicklichen Situation nach meiner Meinung nur noch von oben kommen, von der Politik, und daran glaube ich nicht. Vonseiten der Bergleute sehe ich keine realistische Möglichkeit, noch eine Änderung herbeizuführen oder gar zu erzwingen. Schon deshalb nicht, weil ja die Größe der Belegschaft und damit die Macht der Bergleute immer mehr schrumpfen. Ich sehe nur die eine Chance, dass die politische Entscheidung getroffen wird, eine bestimmte Menge der Energieversorgung auf jeden Fall durch einheimische Kohle sicherzustellen. Die Anlagen, die jetzt noch existieren, sind schließlich unsere besten Anlagen, und Kohlevorräte sind auch noch für Jahrzehnte vorhanden, so dass wir in Krisenzeiten nicht vollständig von anderen abhängig wären. Unter rein betriebswirtschaftlichen Aspekten würde sich so etwas natürlich nicht rechnen; das wäre überhaupt nur möglich, wenn der Staat dahintersteht und diese Sache auch weiterhin subventioniert. Und eben das kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen. Ich kenne die ehemalige DDR recht gut, ich habe auch noch Verwandte drüben; die Wende habe ich wirklich herbeigesehnt, und ich weiß auch, welche Kosten allein da noch auf uns zukommen werden. Und irgendwann sind einfach die Grenzen staatlicher Finanzierungsmöglichkeiten erreicht. Auch da darf man sich doch nichts vormachen.

Wie gesagt: aus meiner Sicht ist der Bergbau hier am Ende. Ich habe eine ganze Reihe von Bekannten, die noch aktiv tätig sind, wir haben ein regelmäßiges Treffen ehemaliger Steiger, insgesamt erfährt man also noch recht viel über die augenblickliche Situation. Und da stehe ich mit meiner Meinung auch nicht allein. Wir wissen doch alle, was der Bergbau unter Tage kostet. Als ich z.B. 1960 den ersten Streb eingerichtet habe, da hat das ungefähr 1 Million Mark gekostet. Heute kommt man für den gleichen Streb nicht unter 20 Millionen Mark weg. Gut, heute braucht man für den gleichen Streb nur noch ein Fünftel der Leute oder sogar noch weniger, die Personalkosten sind also vielleicht geringer; aber das wird durch die immensen Kosten für die Maschinen wieder ausgeglichen. Heute wird doch nichts mehr mit Panne und Hacke gemacht; da stehen computergesteuerte Maschinen unter Tage, für deren Bedienung man schon fast das Abitur benötigt, um es mal so auszudrücken. In diesem Zusammenhang ist es natürlich erstaunlich, dass der Bergmann sich im Laufe der Jahre in diese neue Technik immer hineindenken konnte; wir haben zwar vonseiten der Zeche Zusatzausbildungen angeboten, aber im großen und ganzen ist der Bergmann immer mit der Technik gewachsen.

Aber was heute zählt, sind allein die Gesetze der Marktwirtschaft. Und da ist das alles eben eine einfache Rechnung. Wenn ein Unternehmer die Wahl hat zwischen einer Tonne Koks für 240 Mark und einer Tonne Koks für 90 Mark, dann ist doch wohl klar, welche Entscheidung er trifft. Und moralische Bedenken zählen auf dem Markt gar nichts. Als ich vor ein paar Wochen in der Gewerkschaftszeitung einen Bericht über die Kinderarbeit im kolumbianischen Bergbau gelesen habe, da kamen mir wirklich die Tränen. Deren Kohle wird hier bei uns verfeuert, weil die Tonne davon nur 50 Mark kostet. Aber das wird man nicht ändern. Selbst wenn wir hier sagen würden, diese Kohle nehmen wir nicht, weil sie durch Kinderarbeit gewonnen wurde, dann kaufen andere sie trotzdem; und morgen am Tag ist auch für uns wieder ein neuer Markt da, auf dem die Kohle zum gleichen Preis zu beziehen ist und wo wir uns von neuem fragen müssten, unter welchen Bedingungen denn diese Kohle gewonnen wurde.

Was in der augenblicklichen Situation für unsern Bergbau besonders dramatisch ist, das ist die Tatsache, dass man den Abbau der Förderung und der Belegschaft in Zukunft nicht mehr in dem Maße sozial absichern kann, wie man das bisher getan hat. Bisher ist ja noch niemand wie man so sagt ins Bergfreie gefallen; aber in Zukunft wird das nicht mehr möglich sein. Durch Verlegungen auf andere Zechen kann das kaum noch geschehen, und vor allem ist das Durchschnittsalter der Belegschaften heute derart niedrig, dass auch an irgendwelche Regelungen über den frühzeitigen Ruhestand nicht zu denken ist. Als wir die ausländischen Arbeitnehmer hierhin holten, da hatten wir z.B. auf "Hugo" noch eine ganz andere Altersstruktur. Das Durchschnittsalter lag damals bei 50 Jahren, die Belegschaft war völlig überaltert, und ohne die Ausländer hätten wir schon damals gar nicht weitermachen können. Damals war doch niemand von der jungen Generation noch bereit, gefährliche oder schmutzige Arbeit zu machen. Und natürlich gab es noch genügend andere Arbeitsplätze in der Industrie. Wir haben damals auch große Einbrüche gehabt, als z.B. in Bochum die Opel-Werke aufmachten, als VW in Kassel aufmachte. In der Zeit sind viele aus dem Bergbau abgewandert, vor allem junge und gut ausgebildete Leute waren von einem Tag auf den anderen weg.

Die augenblickliche Situation hat natürlich auch Konsequenzen für das Arbeitsklima. Was ich aus Gesprächen mit aktiven Kollegen mitbekomme, geht in die Richtung: Ich mache zwar meine Arbeit, aber mehr auch nicht. Der Tag X kommt doch sowieso. Und was ich auch tue, ich kann das nicht verhindern. Mit dem größten Engagement kann ich den Bergbau nicht retten. Diese Haltung habe ich in Gesprächen oft gehört. Und wenn ich mich einmal in die Situation eines heutigen Bergmanns hineinversetze, dann wüsste ich, was ich tun würde: Ich würde sofort eine Umschulung machen; denn eine Alternative gibt es doch gar nicht. Es sei denn, man will warten, bis man auf die Straße gesetzt wird. Man muss dabei auch sehen, dass den Bergleuten in puncto Umschulung im Augenblick noch einiges geboten wird. Die RAG zahlt doch sogar zum Unterhaltsgeld des Arbeitsamtes noch bis zur vollen Höhe des ursprünglichen Gehalts dazu. Und auch das wird wohl nicht ewig so bleiben.

Ich muss gestehen, dass ich, bedingt durch meine Krankheit, damals doch schnell einen gewissen Abstand zum Bergbau gewonnen habe. Oder anders ausgedrückt: Meine Erinnerungen beziehen sich noch auf die besseren, die relativ sorglosen Zeiten des Bergbaus. Es begann eigentlich erst nach 1985 sehr kritisch zu werden, fast kriminell. Ganze Anlagen wurden einfach geschlossen, die Belegschaften auf andere Zechen verteilt, persönliche Bande zerrissen. So etwas kann man doch nicht machen! In Kamen wird die Zeche zugemacht, die Leute müssen von heute auf morgen nach "Hugo", die Familien bleiben aber dort wohnen. Den Vater karren wir jeden Tag mit dem Bus hin und her, eine Stunde hin, eine Stunde zurück; so ein Mann ist jeden Tag mindestens zehneinhalb Stunden von zu Hause weg, und trotz all seiner Bemühungen werden sich seine Gedanken immer nur um die Frage drehen: Und wann macht "Hugo" dicht? Vor allem bei den etwas älteren wird es so gehen. Die jüngeren haben immer noch die Chance zur Umschulung, bei den älteren ist diese Unsicherheit, diese Existenznot wahrscheinlich ganz erheblich. Und so etwas lässt sich auch nicht auf den Arbeitsplatz begrenzen; das hat auch Konsequenzen für das Privatleben, für die eigene Familie.

Im Augenblick geht im Ruhrgebiet eben nicht nur der Bergbau kaputt, nicht nur einzelne Zechen. Da hängt doch viel mehr dran, eine ganze Tradition, zwischenmenschliche Beziehungen. Ich bin passionierter Radfahrer und fahre sehr viel kreuz und quer durch das Ruhrgebiet, und dann wird einem das Verschwinden des Bergbaus ganz deutlich vor Augen geführt. Plötzlich ist auch noch diese Zeche verschwunden, steht jener Förderturm nicht mehr. Vor ein paar Tagen bin ich mit meiner Frau auf den Rungenberg geklettert, und von da oben habe ich ihr gezeigt, da war mal ein Schacht, dort auch, da war diese Kokerei, die uns jedesmal die Wäsche so zugesaut hat, dass wir sie gleich reinholen und noch einmal waschen konnten. Da hinten war ein Zechengasthaus. Und plötzlich wird einem klar, das ist eigentlich schon alles weg. Und was noch besteht, das geht nun auch noch scheibchenweise den Bach runter. Schade ist das. In Mitteldeutschland, in Staßfurt, habe ich so etwas schon einmal erlebt. Auch dort habe ich erleben müssen, dass alles, was mir über den Bergbau vertraut war, nun weg ist. Die Zeche ist geschlossen, die Braunkohlengrube existiert nicht mehr. Und damit ist eine ganze Region gestorben.

Derart gravierend kann ich mir die Entwicklung für das Ruhrgebiet natürlich nicht vorstellen, dazu ist diese Region viel zu groß. Staßfurt war ein Fleckchen von 25000 Einwohnern, hier reiht sich Großstadt an Großstadt. Und es hat sich hier ja auch schon einiges getan. Wenn ich bloß an den alten Schacht 2/6/9 von "Bismarck" denke, da steht doch heute nur noch die alte Kaue, und ringsum ist ein Industriegebiet entstanden, in dem man nichts mehr erkennt von dem, was da früher einmal war. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass in einigen Familien das Geld im Augenblick verdammt knapp wird; und dann bin ich doch immer wieder überrascht, wofür andere Leute aber noch Geld haben. Noch immer fahren viele Leute dreimal im Jahr in Urlaub, und dann fragt man sich doch: Wo kommt denn das Geld her?

Ich bin engagierter Gewerkschaftler gewesen, aber man muss in diesem Zusammenhang auch mal etwas gegen die Gewerkschaft sagen. Die haben es sich über Jahrzehnte einfach zu leicht gemacht. Da ging es immer nur um mehr Lohn. Wäre es denn so schlimm gewesen, schon viel früher einmal zu sagen, wir verzichten nun auf dieses etwas mehr an Lohn? Natürlich nicht um dem Unternehmer zu noch mehr Reichtum zu verhelfen, sondern um die Wirtschaft insgesamt in Gang zu halten und die Arbeitsplätze für alle zu sichern. Und wenn wir mal eine Nullrunde einschalten, ist das wirklich so schlimm? Denn wenn wir es nicht tun, müssen doch wieder diejenigen bezahlen, die ohnehin nichts haben, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger.

Nur wenn man dann wieder in der Presse liest, der und der Politiker bekommt allein für sein Pöstchen als Aufsichtsratsvorsitzender eine Million Mark ....

Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg

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