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3. Ich möchte lebenden Bergbau, nicht Bergbau-Geschichte

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Wolfgang Neuhaus, 53 Jahre, Betriebsrats-Vorsitzender i.R.

Ich bin 53 Jahre alt und habe 39 Jahre auf dem Bergwerk "Hugo" gearbeitet, zuletzt war ich dort Betriebsratsvorsitzender. Gelernt habe ich Maschinenschlosser für den Untertage-Bereich. Als ich auf der Zeche anfing, hatte der Beruf des Bergmanns keinen besonderen Ruf, aus meiner Sicht war er allerdings völlig verkannt. Dies wurde zum erstenmal ganz deutlich, als der Bergbau sich aus dem Süden des Ruhrgebiets völlig zurückzog und Opel in Bochum eine Fabrik aufbaute. Viele Bergleute haben damals bei Opel angefangen und sind anschließend zum Bergbau zurückgekehrt. Die Arbeit in der Fabrik war ihnen zu eintönig, nicht abwechslungsreich genug. Der Beruf des Bergmanns war meiner Meinung nach in der Öffentlichkeit verkannt, weil er öffentlich gar nicht sichtbar ist. Das ganze Arbeitsleben spielt sich schließlich unter Tage ab. Und in Wirklichkeit ist dieses Arbeitsleben sehr interessant, weil der Bergbau lebt: Damals haben sich im Bereich der Kohlegewinnung die Arbeitsplätze tagtäglich um zwei bis drei Meter verschoben, heute sogar um sechs bis acht Meter pro Tag. Jeden Tag ist man eigentlich vor neue Aufgaben gestellt, können unerwartete Dinge auf einen zukommen, neue Herausforderungen, auf die man reagieren muss. Man sagt ja auch: Vor der Hacke ist es duster. Hinzu kommen Fragen des Arbeitsschutzes, der Sicherheit, die große Kollegialität, die Verantwortung füreinander und die Tatsache, eigentlich jeden Tag an einer anderen Ecke gebraucht zu werden. Das zeichnet den Bergmann aus, in gewissem Rahmen eine unwahrscheinliche Eigenständigkeit, die andere so nicht erreichen. Der Bergmann muss sich viel zutrauen und anpacken können. Deutlich wird das doch auch im übertägigen Bereich, z.B. in den Bergarbeitersiedlungen. Da wird geschafft, gewerkelt, gearbeitet, die Leute können einfach zupacken.

- Sie erwähnten gerade die besondere Kollegialität unter den Bergleuten. Gibt es im Bergbau wirklich ein ganz besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl?

Wo Menschen auf engem Raum zusammenarbeiten, können natürlich immer Kameradschaften entstehen. Im Bergbau kommt die große Verantwortung hinzu, die unter Tage jeder für den anderen trägt. Und so etwas wird auch in das Privatleben hineingetragen. Das gaben natürlich auch schon die alten Siedlungen her, und außerdem waren die - heute würde man vielleicht sagen: Hobbys - weit verbreitet und gleich geartet: neben der Tierhaltung vor allem der Taubensport. Ich habe bei uns auf der Zeche mal in alten Akten herumgewühlt und dabei festgestellt, dass noch in den 30er Jahren seitens der Zeche der Umfang der Tierhaltung unter den Bergleuten nachgehalten wurde. Und wenn diese Zahlen sich erhöht hatten, wurde das jeweils mit Stolz zur Kenntnis genommen. Es war einfach so, dass in den Siedlungen auch der Bereich der Freizeit weitgehend gemeinsam gestaltet wurde, und auch das hatte zur Konsequenz, dass so etwas wie Kollegialität und Kameradschaft doch in besonderem Maße entstanden. Heutzutage gibt es all das nur noch in geringem Maß. Die Gesellschaft hat sich schließlich insgesamt verändert, außerdem wurden keine neuen Siedlungen mehr gebaut. Im Wohnungsbau ist man übergegangen zu meist mehrgeschossigen Miethäusern, und damit entstanden ganz andere soziale Verhaltensweisen, und es verschwand die ursprüngliche Atmosphäre, die das Leben in den Siedlungen geprägt hatte. Ferner darf man bei dieser Entwicklung die Rolle der Massenmedien, vor allem des Fernsehens, nicht vergessen.

- In einem Zeitungsbericht der WAZ werden Sie mit den Worten zitiert: "Ich möchte lebenden Bergbau, keine Bergbaugeschichte." Sollte das einen frommen Wunsch zum Ausdruck bringen, oder halten Sie das für eine realistische Perspektive?

Der deutsche Bergbau wurde - zumindest in den letzten Jahren - bestimmt durch die Politik. Und das wird auch wohl so bleiben. Unter dieser Vorgabe ist es in der Tat nicht einfach, von einer Zukunftsperspektive zu reden. Die Politik muss mitspielen, die Bürger müssen mitspielen. Unter dem Aspekt der Bedeutung unserer Kohle als Rohstoff bin ich der Ansicht, dass es hier mit dem Bergbau weitergehen muss. Nach meiner Ansicht muss es für den deutschen Bergbau eine Zukunft geben, eine recht lange sogar noch. Wenn man Sorgen und Ängste um den eigenen Arbeitsplatz hat, orientiert man sich natürlich vor allem an bestimmten Daten und Zahlen, und dann komme ich zu dem Ergebnis, dass über einen sehr langen Zeitraum noch Steinkohle benötigt wird, zur Verstromung, zur Wärmeerzeugung und zu all dem, was aus Steinkohle noch produziert wird. Ich bin also trotz allem eher optimistisch. Wenn man die Entwicklungen der letzten Zeit betrachtet, dann muss man doch die Unsicherheitsfaktoren bei den Energien erkennen, die wir im Augenblick importieren. Nehmen wir z.B. unsere Gasversorgung aus Russland: Ist die auf dem Hintergrund der politischen Instabilität dort wirklich so sicher? Oder nehmen wir den ehemaligen Ostblock insgesamt: Wenn in den jetzt veränderten Staaten die Wirtschaft einmal ans laufen kommen sollte, dann werden die ihre eigenen Energien in viel größerem Ausmaße selber benötigen und nicht mehr zu Tiefstpreisen exportieren. Wir würden uns dann wohl andere Märkte suchen müssen und spätestens, wenn wir diese Märkte nicht mehr finden, fragen, wo wir noch eigene Rohstoffe und Bodenschätze haben. Wir werden wieder auf unsere eigenen Rohstoffe zurückgreifen müssen, unabhängig davon, ob die Kosten dafür etwas höher sind oder nicht.

- Als Sie in den 50er Jahren im Bergbau abgefangen haben, hätten Sie sich da vorstellen können, dass es einmal mit dem Bergbau in Deutschland zu Ende geht?

So etwas konnte ich damals gar nicht beurteilen. Ich hatte allerdings gerade ausgelernt, da hatten wir schon die ersten Feierschichten. Ganz konkret hatten wir hier auf dem Bergwerk in den Jahren '58 und '59 einmal 32, einmal 35 Tage arbeitsfrei, weil wir unsere Produkte schon damals nicht loswerden konnten. Eigentlich hat die Krise aber schon 1956-57 begonnen, zumindest im politischen Bereich; denn damals sind auf Bundesebene die Entscheidungen gefallen zum Aufbau der Kernenergie und zur verstärkten Nutzung von Öl. Beide Produkte, die man damals für den deutschen Markt zugelassen hat, waren schon zu jener Zeit viel billiger als unsere eigene Energie. Das war der eigentliche Einstieg in die Krise des Bergbaus. Damals hatten wir noch fast 700000 Beschäftigte im Bergbau; heute sind wir noch knapp über 110000 Beschäftigte.

- Hat sich durch die augenblickliche Krise das Arbeitsklima auf der Zeche verschlechtert?

Nein. Insgesamt spannt die augenblickliche Situation natürlich an, weil sie ja doch die Gefahr in sich birgt, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Verständlicherweise kostet diese Unsicherheit jeden ein paar Nerven. Aber auf das Verhältnis untereinander hat das keine negativen Auswirkungen. Unter dem Gesichtspunkt der Kostenminimierung ist der Druck im Betrieb zwar gestiegen, es gibt viel mehr Situationen von Stress oder sogar Dauerstress, und dementsprechend gibt es natürlich auch mehr Reibungspunkte; und doch hat, was früher Gültigkeit hatte, auch heute noch Gültigkeit. Mit der Einschränkung allerdings, dass sich die Gesellschaft insgesamt verändert hat. Wir sind alle größere Egoisten geworden, das verspürt man schon. Wenn ich einmal davon ausgehe, dass wir, schon eine ganze Zeit in der Bergbaukrise steckend, immer noch Anwerbung von ausländischen Mitarbeitern betrieben haben, weil die andere Industrie boomte und die Bergleute in größerem Maße den Bergbau verlassen haben, als der Bergbau das damals verkraften konnte, dann kommen wir in der Zusammensetzung, in der wir uns im Bergbau heute befinden, eigentlich ganz hervorragend miteinander aus. Das betrifft alle Nationalitäten. In den 50er Jahren kamen Italiener und Spanier, Anfang der 60er Jahre Jugoslawen, Türken, Marokkaner, Tunesier. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe sind ja die Türken gewesen, die wir noch bis '72, '73 angeworben haben. Selbst die letzten, die wir angeworben haben, sind mittlerweile also schon über 20 Jahre hier. Und die Verantwortung unter Tage hat bei allen Kollegen das Zusammensein und das Zusammenhalten geprägt. Wir kommen gut miteinander aus.

- Im Bergbau gibt es also keine Ausländerfeindlichkeit?

Nein, im Untertagebereich gibt es so etwas nicht. Da gibt es natürlich Reibungspunkte, unter Deutschen und Ausländern, unter Deutschen und Deutschen, aber die gibt es auch unter den Ausländern selber. Gerade bei den türkischen Kollegen kann man hin und wieder sehr deutlich spüren, aus welchen Regionen ihres Heimatlandes sie kommen, da gibt es nämlich erhebliche Unterschiede. Aber in aller Regel bleibt alles bei verbalen Auseinandersetzungen, und großartige Drohungen wie "Warte mal bis vor dem Zechentor!" - was ich schon während meiner Ausbildung hier und da gehört habe, - hört man eigentlich selten.

Auf unserer Anlage hatten wir maximal 26 verschiedene Nationalitäten, und man muss einfach sehen, dass wir ohne die ausländischen Kollegen den Bergbau damals nicht mehr hätten weiterführen können. Wir haben heute einen Ausländeranteil, der sogar noch höher ist als vor 10, 15 Jahren; das hängt damit zusammen, dass auch die Kinder in der zweiten und teilweise schon dritten Generation ihre Ausbildung bei uns beginnen. Insgesamt beträgt der Anteil der Ausländer an der Gesamtbelegschaft knapp 30 Prozent. Ich kann mir nicht vorstellen, dass, wenn bei uns die ausländischen Kollegen nicht mehr da wären, dafür Deutsche in den Bergbau hineingingen. Die Arbeit ist nach wie vor schwer, sie verlangt jedem einzelnen viel ab. Hinzu kommen die Klimabedingungen, die sich mit jedem Meter ändern, den wir weiter in die Teufe gehen; es ist da oft nicht nur warm, es ist wirklich heiß, und auch Staub gibt es nach wie vor da unten. Kurzum: ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass diejenigen, die heute bei uns arbeitslos sind, im Zweifelsfall unter Tage arbeiten würden. Wobei wir allerdings bestimmte Symptome aus der Vergangenheit kennen: früher kam es oft vor, dass wir jeweils in den Wintermonaten sog. Saisonarbeiter hatten. So wie die Sonne höher stieg, waren diese Leute verschwunden, im Herbst waren sie wieder da. Das lief einfach unter dem Motto: auf der Zeche ist es wenigstens nicht kalt, und man hat ein Dach über dem Kopf. Sogar ein sehr dickes. Mehrere hundert Meter.

- Können Sie die Stimmung unter den ausländischen Mitarbeitern angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation und der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit beurteilen?

Da muss man deutliche Unterschiede machen. Ich nehme noch einmal die stärkste Gruppe, die türkischen Kollegen. Die ersten sind ja bereits Anfang '63 gekommen. Sie sind in einem bestimmten Alter hier hingekommen und haben zumeist schon große Kinder mitgebracht. Es sind mittlerweile über 30 Jahre vergangen, dort wird jung geheiratet, so dass wir im Augenblick tatsächlich schon von der dritten Generation sprechen können. Ganz allgemein weckt das, was wir heute an Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik beobachten, Ängste bei diesen Menschen. Das verspürt man deutlich. Oft sagen sie, selbst wenn wir im Arbeitsleben und teilweise auch im Privatleben gut miteinander auskommen, dann gibt es diese Ausländerfeindlichkeit eben immer noch. Viele der türkischen Kollegen hatten anfangs gedacht, ohnehin wieder in die Türkei zu gehen; aber das wurde und wird natürlich von Jahr zu Jahr schwieriger. Bei der Anwerbung hat sicherlich niemand auch nur geahnt, dass daraus ein ganzes Arbeitsleben in Deutschland wird. Wir sitzen immer noch mit denjenigen Kollegen zusammen, die ihre letzte Schicht verfahren, und seit Mitte der 80er Jahre waren auch die ersten ausländischen Kollegen dabei. Und bei dieser Gelegenheit habe ich dann den einen oder anderen gefragt, was er denn nun machen will und ob der ursprünglich beschriebene Weg wieder nach Hause auch durchgeführt wird. Und dann haben eine ganze Reihe der Männer gesagt, ich will eigentlich immer noch nach Hause; aber die Frau geht sowieso nicht mit, weil die Kinder hier sind und hier Arbeit haben. Und damit ist eigentlich entschieden, dass ich auch hier bleiben muss. Sie nehmen sich dann meistens vor, einen Teil des Jahres hier, einen Teil in der Türkei zu verbringen. Einerseits wollen die älteren ihre Verbindungen, die sie noch zur Türkei haben, aufrecht erhalten; andererseits bleibt so der Kontakt zur Familie bestehen. Denn die Familie will in aller Regel nicht wieder zurück. Dieser Weg ist ihnen einfach durch die Entwicklung und durch die Zeit versperrt. Es gibt eine ganze Reihe türkischer Kollegen, die immer gesagt haben, wir gehen hier auf jeden Fall wieder weg. Und sie sind alle noch hier. Einige haben mir sogar gesagt: Anscheinend habe ich in meinem Leben alles falsch gemacht. Für die Zeit nach meinem Arbeitsleben habe ich mir in der Heimat ein Haus gebaut, oft ein zweites Haus gebaut, manchmal sogar in einem Urlaubsgebiet auch noch eine Ferienwohnung gekauft, und jetzt steht das alles da, und ich muss hier bleiben. Und die Kinder haben überhaupt kein Interesse daran, das alles einmal anzunehmen. Diese Menschen werden hier bleiben trotz der Angst, die sie wegen der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit bei uns haben.

- Sie sagten, die Stimmung unter den Kollegen sei angespannt. Was überwiegt: Hoffnung oder Resignation?

Ich weiß gar nicht, ob ich hier eine richtige Beschreibung der Situation finden kann. Ich will das mal so sagen: wenn wir auch als Bergbau in den letzten Jahren sehr klein geworden sind, so haben wir doch jährlich eigentlich immer drei- bis viermal so viele Bewerbungen für Ausbildungsplätze gehabt als wir Auszubildende haben einstellen können. Und das ist nach meinem Dafürhalten doch ein Zeichen für etwas Sicherheit, die wir ganz offensichtlich immer noch vermitteln. Ich rede nicht unbedingt von Vertrauen in absolute Zukunft, wo man sagen müsste, ihr könnt hier bis zu eurer Rente arbeiten. Im Augenblick haben wir auf "Hugo" zusätzliche Probleme, weil auch unser Bergwerk nun direkt von der Krise betroffen ist, konkret durch die Entscheidung, dass wir im letzten Jahr ein Verbund-Bergwerk geworden sind. Und eine solche Entscheidung bringt halt schwierige Veränderungen für jeden mit sich. Aber trotz aller problematischer Diskussionen haben wir immer noch doppelt so viele Bewerber für Ausbildungsplätze, als wir einstellen können. Die Ausbildung auf der Zeche wird immer noch als hervorragend angesehen, und selbst diejenigen, die in den bergmännischen Bereich gehen, sehen ganz offensichtlich für die Zeit nach ihrer Ausbildung noch eine Zukunft.

Wir haben ja politisch eine Beschreibung in der Kohlerunde bis zum Jahr 2005, auch wenn die Politik zur Zeit ihr gegebenes Wort nicht unbedingt einhalten will. Wer sich mit Energiepolitik oder auch Fragen der Großindustrie befasst, der weiß, dass hier Beschreibungen für einen langen Zeitraum nach vorn getätigt werden müssen, damit Planungssicherheit gegeben ist. Kraftwerke z.B. stellt man nicht von heute auf morgen irgendwohin, sie brauchen eine Vorlaufzeit, die wegen der stetig wachsenden Beteiligung der Öffentlichkeit immer länger wird. Mittlerweile vergehen zwischen ersten Überlegungen und der Realisierung eines solchen Vorhabens zwischen 10 und 15 Jahre. Die Politik muss also Orientierungen nach vorne geben; bei der Kohle hat sie das - trotz aller augenblicklichen Diskussionen - schließlich auch getan. Und diese relativ lange Zeitspanne kann auch ein Gefühl von Sicherheit vermitteln; vor allem muss man das vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Situation sehen: In welcher Branche gibt es denn heute überhaupt noch eine verlässliche Arbeitsplatzgarantie über Jahre hinaus? Außerdem hat es die IGBE bis heute verstanden, eine Politik zu betreiben, die sich tatsächlich an den Menschen orientiert. Trotz aller Schwierigkeiten wurde bis heute noch niemand einfach entlassen, es wurden immer Ersatzarbeitsplätze im Bergbau gesucht. Bis heute ist das jedenfalls gelungen. Und natürlich gibt auch das den Bergleuten ein Stück Sicherheit und lässt vielleicht auch junge Leute denken, es lohnt sich immer noch, dort anzufangen. Und wenn nun die Beschreibungen der Politiker bis zum Jahr 2005 eingehalten werden, dann wird es hier auch über diesen Zeitpunkt hinaus noch Bergbau geben. Ich hoffe sogar, dass wir dann auch noch in der Größenordnung existieren, in der wir uns heute bewegen. Und diese Hoffnung beruht auf Zahlen und Fakten, an denen wir uns orientieren müssen. Wie lange ist bei jetzigem Verbrauch und bei heute erschlossenen Vorräten noch Gas vorhanden, Öl vorhanden, Steinkohle vorhanden? Wie lange müssen wir die Kernenergie noch sehr kritisch betrachten? Gerade in den letzten Tagen haben wir doch erlebt, dass es bezüglich der Sicherheit und der Zumutbarkeit dieser Energie erhebliche Differenzen zwischen Bundes- und Landespolitik gibt. Außerdem steht wohl fest, dass die regenerierbaren Energien den großen Sprung nach vorne nicht machen werden, den einige erhofft hatten. Wasser, Sonne und Wind haben, glaube ich, im Augenblick in der Bundesrepublik einen Anteil von nur knapp zwei Prozent des gesamten Primärenergieaufkommens, und man schätzt vorsichtig ein, dass dieser Anteil sich auf vielleicht fünf oder sechs Prozent bis zum Jahr 2010 oder 2020 steigern lassen wird. Und wenn man sich nun noch vorstellt, dass die Kernkraftwerke in absehbarer Zeit außer Betrieb genommen werden müssten, dann braucht man auch für diesen Bereich Ersatz durch andere Energien. Allein aufgrund der Situation anderer Energiearten sehe ich eine reelle Chance für unsere Kohle.

- Wer trägt nach Ihrem Dafürhalten die Schuld an der augenblicklichen Krise des Bergbaus?

Wenn ich davon ausgehe, dass Politik auch gestalterisch tätig sein kann, dann ist die Verantwortung für die augenblickliche Krise in sehr starkem Maß bei der Politik zu suchen. Ich gewinne allerdings immer mehr den Eindruck, dass die Politik bei uns von der Industrie bestimmt wird. Oder noch deutlicher gesagt: Händler bestimmen heute unsere Politik. Und damit ist eine solche Situation, in der wir uns befinden, nicht verwunderlich. Das hat übrigens gar nichts mit der deutschen Einheit zu tun, und es ist auch Unsinn, wenn immer wieder gesagt wird, es sei kein Geld mehr vorhanden, wir müssen umdenken. Geld ist in diesem Land in Masse vorhanden, es müsste nur anders verteilt werden. Zumindest auf Zeit müsste die Politik nun einfach den Mut haben, finanzielle Mittel so umzuverteilen, dass es den Menschen hier hilft. Dass man vor allem nicht länger mit der Angst der Menschen vor der Arbeitslosigkeit spielen kann, wie man das im Augenblick tut. Denn was daraus resultiert, spüren wir ja nun in immer stärkerem Maße: Gewalt und Kriminalität nehmen in erschreckendem Maße zu.

- Konkret bedeutet das doch: die Kohle muss Ihrer Meinung nach auch in Zukunft subventioniert werden?

Ja natürlich, subventioniert werden muss immer, wobei diese Subventionen aber näher zu beschreiben sind. Sind es direkte Steuern, oder sind es indirekte Steuern?, wenn man das einmal so bezeichnen will. Der sog. Kohlepfennig ist ja eine Gesetzesvorgabe, die jeden Stromverbraucher trifft. Unsere Subventionen werden also nicht von den direkten Steuern genommen. Richtig ist natürlich, dass unsere Kohle heute mehr als dreimal so teuer ist wie die Kohle, die auf dem Weltmarkt zu beziehen ist. Aber diesen Vergleich kann man so nicht einfach stehen lassen, darüber muss man diskutieren. Nur die Preise zu vergleichen, ist ein großer Fehler. Wenn ich nur einmal unsere Normen zum Arbeitsschutz, zur Sicherheit betrachte, dann frage ich mich, ob diese Normen, die ja mit großen Kosten verbunden sind, auch anderswo gelten. Ferner wäre zu denken an viele soziale Komponenten, die für die Bergleute hier selbstverständlich sind. Das Vergleichen des Preises allein ist eine große Ungerechtigkeit, solange eben diese anderen Dinge außer acht gelassen werden. Man denke nur daran, dass in Kolumbien die Kinderarbeit im Bergbau an der Tagesordnung ist. Und da macht ja auch keiner einen Hehl draus, das wissen alle, auch die, die bei uns politisch die Verantwortung tragen. In dem Alter, in dem wir erst den Höhepunkt unserer Schaffenskraft erreichen, sind die Menschen in Kolumbien schon verbraucht. Aber um einen möglichst niedrigen Kohlepreis zu haben, nimmt man so etwas hin. Genauso nimmt man hin, dass internationale Arbeitsnormen, Sicherheitsvorschriften, Arbeitszeitbegrenzungen und alles, was in den sozialen Bereich hineingehört, in keiner Weise eingehalten wird; man blicke nur nach Südafrika oder China. Es herrschen unglaubliche Zustände für die Arbeitnehmer in diesen Ländern, die aber gar nicht erst in unser Blickfeld geraten, wenn wir ausschließlich den Weltmarktpreis zum Kriterium nehmen. Ferner muss man noch berücksichtigen, unter welchen Bedingungen abgebaut wird. In Australien z.B. wird Steinkohle fast ausschließlich im Tagebau abgebaut, d. h. man nimmt dort nur die verkaufsfähigen Produkte aus den riesigen Kohleflözen und hinterlässt eine Landschaft, die den Braunkohlegebieten in der ehemaligen DDR entspricht. Dort sprach man ja völlig zu Recht von Mondlandschaften. Der Raubbau an der Natur wie in Australien ist eine Katastrophe, die hier schon aufgrund sehr strenger und damit wieder kostensteigernder Umweltschutzbestimmungen gar nicht möglich wäre. Und auch dies müsste bei der Bestimmung eines ehrlichen Kohlepreises mit in Rechnung gestellt werden. Erst wenn man all diese Faktoren berücksichtigt, kann man einen fairen Preisvergleich anstellen. Und so etwas ist Aufgabe von Politik, nicht von Händlern, die den Weltmarkt beherrschen.

Es sieht doch im Augenblick konkret so aus, dass allein die großen Industrienationen über Wohl und Wehe und Not und Elend auf dieser Welt entscheiden. Und alle Prognosen sagen eigentlich, dass trotz aller Zuwächse die Armut auf der Welt eben nicht abgeschafft wird. Die Länder der Dritten Welt werden Länder der Dritten Welt bleiben, die Zuwächse, die etwa im Energiebereich auf 50 bis 60 Prozent in den nächsten 20 Jahren geschätzt werden, verbraucht man anderswo. In den armen Ländern wird auch weiterhin nur Ausbeutung stattfinden, ihre Rohstoffe, ihre Arbeitskräfte werden billig benutzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass es ein großer Irrtum ist, zu meinen, eine solche Ausbeutung armer Länder betreiben zu können, während man sich hier gänzlich dem Sektor "Dienstleistung" widmet. Das ist - neben allen moralischen Bedenken - schon deshalb ein Irrtum, weil auch wir die Menschen dafür nicht haben; denn dann müssten wir ein Volk von ausschließlich hochqualifizierten, studierten Menschen sein. Zur Welt kommen aber Gottseidank immer noch ganz normale Menschen. Wir brauchen also auch hier weiterhin industrielle Produktion, um all diese Menschen in Arbeit zu bringen. Oder aber wir nehmen in Kauf, dass ein Großteil der Bevölkerung einfach auf der Straße liegt. Erste Anzeichen für eine solche Entwicklung sind ja auch schon sichtbar; es wurde schon oft gesagt, die Armut werde hier zunehmen und ebenso der Reichtum in den Händen weniger. Hier wäre also wieder die Politik gefragt: Inwieweit kann sie steuern, inwieweit kann sie ausgleichen?

- Wird durch den Abbau der industriellen Produktion bei uns nicht auch die Einflussmöglichkeit der Arbeitnehmervertreter immer geringer?

Da ist leider etwas dran, das kann man auch nicht so einfach wegwischen. Wir haben doch eigentlich mit den Gewerkschaften, mit der Vernunft der Gewerkschaften, diesen Wohlstand erreicht. Dadurch dass diejenigen, die über das Kapital verfügen, immer mächtiger geworden sind und die internationale Verflechtung des Kapitals die Macht des Geldes heutzutage schon fast unendlich erscheinen lässt, ist der Druck auf die Beschäftigten und damit auf die Gewerkschaften immer stärker geworden. Bei uns ist durch die Vereinigung und das Wegbrechen des Marktes im gesamten Osten eine Situation entstanden, die das Kapital aus meiner Sicht schamlos ausnutzt. Die Daumenschrauben werden im Augenblick mit einer Brutalität angesetzt, die man vorher von Arbeitgeberseite in diesem Land nicht gekannt hat. Der Zerfall der Großindustrie geht in der Tat ganz eindeutig auf Kosten von Arbeitnehmerinteressen; denn in jedem kleinen oder mittleren Unternehmen ist die Abhängigkeit des einzelnen doch viel größer, es wird insgesamt mehr von der Hand in den Mund gelebt. Die Sicherheit, die die Großindustrie dem Arbeitnehmer trotz allem geben konnte, geht verloren. Diese Entwicklung verändert die Gesellschaft in eine Richtung, über die man sich Sorgen machen sollte. Vor allen Dingen ist unsere Zeit so schnelllebig, und noch bevor man überhaupt irgendetwas überbringen kann, ist man schon überrannt. Hier ist natürlich an die Verantwortung jedes einzelnen zu appellieren, auch wenn einige so etwas anscheinend schon nicht mehr hören können: Inwieweit kann jeder einzelne über die Parteien, über die Gewerkschaften an der Gestaltung dieses Staates mitwirken, um ihn nicht denen zu überlassen, die eigentlich mächtig genug sind, die Richtung einfach vorzugeben? Wenn diese Verantwortung nicht oder besser: nicht mehr wahrgenommen wird, sehe ich eine große Gefahr. Nicht nur vonseiten der Arbeitgeber; auch die Politik unternimmt in der letzten Zeit doch ständig den Versuch, in die Tarifautonomie einzugreifen.

- Haben Sie in Ihrer Funktion als Betriebsrat in der augenblicklichen Situation eher Engagement oder ein Gefühl der Ohnmacht bei Ihren Kollegen bemerkt?

Ohnmacht ist vielleicht nicht der richtige Begriff; aber das Gefühl der Abhängigkeit führt ab und zu in Diskussionen schon zu der Haltung: Da hilft ja doch nichts mehr, wir können nichts mehr daran ändern. Und dann ist da eben ein Faktor, der ganz wichtig ist: die Zeit. Man muss einfach Geduld haben. Etwas von einer Stunde auf die andere ändern wollen, das funktioniert nicht. Auch in ein paar Wochen sind Veränderungen nicht herbeizuführen, erst recht nicht, wenn man dies im Rahmen der legalen Möglichkeiten gestalten möchte. Es scheint mir so, dass ein Großteil derer, die in absoluter Abhängigkeit leben, diese Geduld inzwischen einfach nicht mehr haben und auch nicht mehr einsehen wollen, dass man nur mit Geduld weiterkommt. Und dann stellt sich natürlich schnell solch eine Haltung ein: Es hilft ja doch nichts, die anderen sind die Stärkeren. Das verspürt man schon, und zwar schon über einen sehr langen Zeitraum. Man stellt in Diskussionen aber auch immer wieder fest, dass es sehr wohl Engagement gibt unter den Bergleuten, dass einige Leute sehr gute Gedanken entwickeln, wie man aktiv Einfluss nehmen könnte. Das ist übrigens auch immer eine Frage der Zeit: Bei uns im Bergbau wird rund um die Uhr gearbeitet; wann bekommt man also mal alle Leute zusammen, um derartige Fragen zu diskutieren? Und dann darf man nicht außer acht lassen, dass die Gesellschaft sich in den letzten Jahren erheblich gewandelt hat. Heutzutage ist jeder so stark mit sich selber, mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass viele Leute kaum noch die Zeit finden, über die eigentlich wichtigen Dinge zu reden.

- Bis jetzt konnte der Abbau der Belegschaft im Bergbau immer sozial abgefedert werden. Wird das in Zukunft noch so möglich sein?

Nein. Der Bergbau ist damals ja ziemlich ungeordnet in die Krise gegangen. Um dies zu ordnen, ist für den Bereich der Ruhr vor rund 25 Jahren die Ruhrkohle gegründet worden, in die viele Altgesellschaften einen skelettierten Bergbau eingebracht haben. D. h. was in den Altgesellschaften gewinnträchtig war, ist im Regelfall nicht in die Ruhrkohle eingegangen. Und doch hat es die Ruhrkohle von 1969 bis heute geschafft, die gesamten Anpassungsmaßnahmen, Reduzierung der Förderung und der Belegschaft, für die betroffenen Menschen sozial verträglich zu gestalten. Betriebsbedingte Kündigungen hat es noch nie gegeben. Nun ist der Bergbau allerdings an seine Grenzen gekommen. Selbst wenn man heute weitere Maßnahmen wie die Anpassung, also die Frührente, ergreifen wollte, dann wäre das schon wegen des Durchschnittalters der Belegschaft gar nicht mehr möglich. Die Belegschaft ist in den vergangenen Jahren immer jünger geworden. Der letzte Tarifabschluss hat dann wegen der dramatischen Situation schon erhebliche Einkommenseinbußen für die Belegschaft gebracht, damit über mehr Freizeit alle in Beschäftigung bleiben können. Man sieht heute ganz deutlich, dass wir an Grenzen gekommen sind und dass die Sozialverträglichkeit ein Ende hat.

- Würden Sie heute noch einem jungen Menschen empfehlen, im Bergbau anzufangen?

Das kommt darauf an, für welchen Bereich sich die Leute entscheiden. Für die handwerklichen Berufe würde ich eine Ausbildung auf der Zeche immer empfehlen, einfach weil diese Ausbildung hervorragend ist. Bezogen auf den rein bergmännischen Bereich hätte ich allerdings Probleme, heute noch Empfehlungen auszusprechen. Einfach weil die Politik nicht verlässlich ist. Mein eigener Sohn ist bereits seit 14 Jahren unter Tage tätig, er fühlt sich dort wohl, kann eigenständig und kreativ arbeiten und möchte eigentlich auch im Bergbau bleiben. Ich habe ihm auch noch nie gesagt, dass es Zeit wäre, den Bergbau zu verlassen. Vor allem weil ich den Glauben an die Zuverlässigkeit der Politik noch nicht ganz verloren habe und weiß, dass wir alle vier bzw. fünf Jahre zur Wahl gehen. Es gibt unter den Politikern nämlich auch noch Leute mit Phantasie, die gestalten können und den Menschen bei ihren Überlegungen noch an vorderster Stelle sehen, Leute die vor allem wissen, dass es in jeder Beziehung besser ist, in Arbeit zu investieren als Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich sehe doch immer noch den Silberstreif am Horizont, auch wenn es manchmal über einen längeren Zeitraum ganz schön dunkel aussieht.

Die Seele des Ruhrgebiets wäre dann weg

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