Читать книгу Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi - Thomas Kanger - Страница 10
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ОглавлениеDie Frau, die Elina öffnete, roch nach Fusel. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück.
»Ich heiße Elina Wiik und bin von der Polizei in Västerås«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. »Sie müssen Elisabeth Åkesson sein.«
»Ja, das bin ich. Kommen sie herein.«
Elina betrat den Vorraum. Auf dem Fußboden lagen Frauenschuhe verstreut. Eine Jacke war von ihrem Bügel gerutscht und lag in der Ecke. Elisabeth Åkesson führte Elina in die Küche und zündete sich dort sofort eine Zigarette an. Elina setzte sich an den Tisch. Der Geruch eines überquellenden Aschenbechers stieg ihr unangenehm in die Nase.
»Entschuldigen Sie«, sagte Elisabeth Åkesson und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich hab ein wenig getrunken. Das tue ich sonst nicht, aber ich bin so traurig über den Tod meines Vaters. Und er ist auf so schreckliche Weise gestorben. Wie ist es passiert? Wer hat das getan?»
Sie ging nervös in der Küche auf und ab.
Elina musterte sie. Sie wirkte bedeutend älter als ihre Schwester, obwohl sie drei Jahre jünger war, und trug Jeans und ein Top.
»Mein Beileid«, sagte Elina. »Man kann sich kaum einen grausameren Tod vorstellen. Aber jetzt brauche ich Ihre Hilfe, um den Täter zu finden. Würden Sie sich bitte setzen?«
Elisabeth Åkesson ging zum Vorratsschrank, holte eine Flasche Wodka heraus und stellte sie auf den Tisch. Elina streckte rasch die Hand aus und griff nach der Flasche. Ohne den Blick von Elisabeth Åkesson zu wenden, stellte sie die Flasche auf den Fußboden neben das rechte Stuhlbein.
»Was machen Sie da?«, protestierte Elisabeth Åkesson. »Wollen Sie mir das Trinken verbieten?«
»Das können Sie später tun. Nicht jetzt.«
Die Frau setzte sich und begann zu weinen.
»Ich halte das nicht aus, ich halte es einfach nicht aus.«
Elina wartete schweigend. Elisabeth Åkesson beruhigte sich schneller als erwartet. Sie stand auf, putzte sich die Nase und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Entschuldigung«, sagte sie schniefend. »Bitte, entschuldigen Sie. Ich bin im Moment so labil. Ich bin gar nicht mehr ich selber.«
»Nur wenige Menschen würden in einer solchen Situation die Fassung bewahren. Vielleicht wird es ein wenig leichter, wenn wir über ihn sprechen?«
»Was wollen Sie wissen?«
»Wie war er als Vater?«
»Was meinen Sie?«
Es klang eher wie eine Anklage als eine Frage. Eine Anklage gegen Wiljam Åkesson.
»Ich weiß es nicht«, sagte Elina. »War er dominant?«
»Er versuchte über mein Leben zu bestimmen. Erst hat er uns verlassen, dann wollte er alles bestimmen. Bei Annelie hat er es geschafft, aber nicht bei mir. Haben Sie sie schon getroffen? Sie ist so perfekt. Es war sein Wunsch, dass sie Diplombetriebswirtin wird. Und das ist sie geworden. Er wollte, dass sie bei ABB arbeitet. Das tut sie. Er hat ihr sogar vorgeschrieben, wen sie heiraten soll. Diese rote Socke, diesen Kerl mit dem sie zusammen ist. Für mich hatte er nicht so große Pläne. Ich war nur die unbedeutende Kleine. Ich sollte Sekretärin oder Buchhalterin oder irgend so was Langweiliges werden. Aber ich hab mich geweigert. Da hat er wohl gedacht, dass aus mir nichts werden würde, und hat den Kontakt zu mir abgebrochen. Außer, wenn er manchmal ...«
Sie brach mitten im Satz ab.
»Manchmal was?«, hakte Elina nach.
»Sie verstehen schon, Sie sind ja Polizistin. Ich trinke zu viel. Ich habe wenig Selbstbewusstsein, auch wenn man das vor Fremden nicht gern zugibt. Er ist hin und wieder hergekommen, hat meine Wohnung durchsucht und alle Flaschen ausgeleert, die er fand. Er besaß einen eigenen Schlüssel und hat nicht mal geklingelt. Und dann hielt er mir Standpauken. Dass ich aufhören soll zu trinken und so weiter. Statt mich einfach zu akzeptieren, wie ich bin. Das wäre viel besser gewesen als sein ständiges Gemecker.«
»Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?«
»Ich erinnere mich nicht genau. Vielleicht vor etwas mehr als einem Monat.«
»Und was haben Sie am Mittwoch vergangener Woche gemacht?«
»Keine Ahnung. Ich war wohl zu Hause. Oder in irgendeinem Pub. Warum fragen Sie danach?«
»Versuchen Sie sich zu erinnern. Haben Sie Mittwochabend jemanden getroffen?«
»Ich weiß ja nicht mal, wo ich war. Wie soll ich dann wissen, ob ich jemanden getroffen habe? Ich treffe immer Leute.«
Elina erhob sich. Sie brachte es nicht über sich, die Flasche wieder auf den Tisch zu stellen.
»Vielen Dank für das Gespräch. Ich muss jetzt gehen.«
»Ich dachte, Sie wollten mit mir über meinen Vater sprechen.«
»Vielleicht ein anderes Mal. Auf Wiedersehen.«
Vor der Haustür holte Elina tief Luft und trat auf die Straße. Sie drehte sich zum Küchenfenster um. Elisabeth Åkesson war nicht zu sehen.
Henrik Svalberg parkte das Auto vor Wiljam Åkessons Haus, direkt vor der Absperrung. Es war fünf Uhr nachmittags, es war Donnerstag und er hatte warten wollen, bis die Leute von der Arbeit nach Hause kamen.
»Wir arbeiten uns vom Haus systematisch vor«, sagte er zu Jan Niklasson, der neben ihm stand. »Oder was meinst du?«
»Klingt vernünftig«, meinte Niklasson. »Nimm du die linke Straßenseite, dann fang ich mit der rechten an. Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als die ganze Gegend abzuklappern.«
Jan Niklasson war der ältere und erfahrenere von beiden, außerdem war er Kriminalinspektor. Svalberg hatte sich um denselben Posten beworben wie Elina und musste nun weiter als Kriminalassistent ausharren. Svalberg gehörte jedoch zum Ermittlungsteam, während Niklasson nur am Anfang dabei sein sollte. Beide taten also, als würde Svalberg die Tür-zu-Tür-Befragung leiten.
Svalberg ging zu dem Haus, das gegenüber von Åkessons lag. Es war ein großes gelbes Holzhaus und er betrachtete eine Weile die Fassade. Sein Blick bekam etwas Träumerisches. So ein Haus würde er sich niemals leisten können, nicht einmal, wenn er die ersehnte Stelle bekäme.
Ein Audi und ein kleiner Volkswagen standen in der Auffahrt. Svalberg ging zur Haustür und klingelte. Eine Frau in Jeans öffnete; sie war blond und ungeschminkt. Er hielt ihr seinen Ausweis hin.
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte Svalberg und stellte sich vor. »Ich ermittle in dem Mord an Ihrem Nachbarn. Haben Sie möglicherweise etwas beobachtet, was uns weiterhelfen könnte?«
»Vielleicht«, sagte die Frau. »Aber wie soll ich wissen, was Ihnen bei den Ermittlungen helfen könnte? Vielleicht stellen Sie lieber konkrete Fragen.«
Svalberg schwieg verlegen.
»Ich bin Journalistin«, fuhr sie fort. »Allgemeine Fragen ziehen in der Regel wenig aussagekräftige Antworten nach sich. So meine ich das. Aber kommen Sie herein, dann werden wir weitersehen. Ich heiße Agnes Khaled. Mein Mann ist Palästinenser, falls Sie sich über den Nachnamen wundern.«
Svalberg zog seine Schuhe im Vorraum aus und wurde in die Küche geführt, wo sie ihm einen Stuhl anbot.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, fragte sie.
»Ja, gerne«, erwiderte Svalberg. »Sagen Sie mir, wann Sie Åkesson das letzte Mal gesehen haben.«
Zu seinem Erstaunen lachte sie.
Er rutschte nervös auf dem Stuhl herum. Er war es nicht gewohnt, dass Zeugen sich über seine Verhörtechnik lustig machten.
»Ich habe ihn an demselben Abend gesehen, an dem er ermordet wurde«, sagte sie dann lässig.
»Und wann genau?«, fragte Svalberg. Er versuchte seine Verwunderung darüber zu verbergen, dass sie ihrer Sache so sicher war, was den Mordabend anging.
»Es war Viertel vor sechs. An dem Abend ist er gleichzeitig mit mir nach Hause gekommen. Wir haben einander gegrüßt. Wir kennen uns ... kannten einander. Freundschaftlich als Nachbarn, beruflich in unseren jeweiligen Funktionen – als Journalistin und Politiker. Åkesson akzeptierte es, dass ich ihm als Journalistin häufig insistierende Fragen stellte. Hinterher war er nie sauer auf mich.«
»Und freundschaftlich? Bedeutet das, dass Sie ihn gut kannten?«
»Darf ich Ihnen einen Rat geben? Ich meine, unter Profis?«
Svalberg sah sie leicht verwirrt an.
»Formulieren Sie diese Frage neu«, fuhr sie fort. »Formulieren Sie es doch so: ›Wie gut kannten Sie ihn?‹ Dann bin ich gezwungen, das Niveau unserer freundschaftlichen Beziehung mit eigenen Worten zu definieren. Wenn man wie Sie eben fragt, ob ich ihn gut kannte, riskieren Sie, dass Sie nur ein Ja oder ein Nein als Antwort erhalten. Aber was verrät Ihnen das eigentlich? Was bedeutet es, jemanden ›gut‹ zu kennen. Offene Fragen! Das ist elementare Interviewtechnik. Oder Verhörtechnik, wenn man Polizist ist.«
»Darf ich Ihnen meinerseits einen Rat geben«, sagte Svalberg nun mit erhobener Stimme. »Bleiben Sie bei der Sache. Wenn Sie das tun, verspreche ich Ihnen, dass ich versuchen werde, offene Fragen zu stellen.«
Sie goss Kaffee ein.
»Zucker, Milch?«
»Schwarz«, sagte Svalberg knapp.
»Okay. Wir kannten uns wie Nachbarn, die Distanz zueinander wahren. Grüßten uns und redeten manchmal übers Wetter. Dann wieder kam es vor, dass etwas in der Politik geschah, über das ich Informationen von ihm wollte. Oder er wollte mit mir über etwas diskutieren, was ich geschrieben hatte. Übrigens haben wir uns immer nur draußen unterhalten. Ich habe nie sein Haus betreten und er ist nie bei mir gewesen.«
»Und woher wissen Sie, dass Sie ihn gerade am Mordabend gesehen haben?«
»Ich muss zugeben, dass ich mir nicht ganz sicher bin. Aber ich habe darüber nachgedacht und versuche zu analysieren, was ich gesehen habe.«
»Das möchte ich gern hören«, sagte Svalberg in dem Bemühen, wieder die Oberhand zu gewinnen. »Aber unterscheiden Sie bitte zwischen dem, was Sie wirklich gesehen haben und den Schlussfolgerungen, die Sie daraus ziehen.«
Agnes Khaled lächelte.
»Vielleicht habe ich Sie unterschätzt. Ich werde versuchen, mich daran zu halten. Aber die Dinge hängen zusammen. Er kam also um viertel vor sechs nach Hause. Das weiß ich mit Sicherheit. Nicht auf die Minute, aber fast. Gewöhnlich machte er noch einen Spaziergang, wenn das Wetter nicht zu schlecht war. Den ganzen Abend blieb sein Auto in der Auffahrt stehen. Wie Sie sehen, kann ich von meiner Küche aus auf sein Haus blicken, und hier habe ich mich fast die ganze Zeit aufgehalten. Er hat weder drinnen Licht gemacht, noch hat er die Außenbeleuchtung eingeschaltet.«
»Das Letzte müssen Sie mir erklären.«
»Åkesson hielt es wie die meisten von uns hier. Er machte im Haus und draußen Licht an, wenn er wegging. Um vorzutäuschen, dass jemand zu Hause ist. Wegen möglicher Einbrecher. Und wenn er zu Hause war, ließ er auch überall Licht brennen. Draußen, damit es ein wenig gemütlicher wirkte, nehme ich an. Drinnen, weil man Licht braucht, wenn es draußen dunkel ist. Mit anderen Worten, bei ihm brannte abends immer Licht. Aber nicht an diesem Abend. Und es blieb dunkel, bis Sie kamen. Meine Schlussfolgerung ist also einfach: Er wurde ermordet, bevor es einen Grund oder eine Gelegenheit gab, das Licht anzuknipsen.«
»Und wann wäre das?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Als es anfing zu dämmern natürlich. Spätestens gegen halb acht.«
»Also wurde er zwischen Viertel vor sechs und halb acht ermordet? Ist das Ihre Folgerung?«
»Wenn es nicht durch die Obduktion widerlegt wird, ist es gut geraten.«
»Er hat nicht viel Zeit gehabt, sein Leben als Pensionär zu genießen«, sagte Svalberg düster. »War an dem Abend jemand bei Ihnen hier im Haus? Ihr Mann?«
»Der war verreist. Ich war allein.«
»Haben Sie einen Schuss gehört?«
»Nein. Darüber habe ich erst hinterher nachgedacht, als ich las, dass er erschossen worden ist. Aber ich habe nichts gehört.«
»Dann habe ich nur noch eine Frage an Sie. Haben Sie jemanden gesehen? Sie verstehen bestimmt, was ich meine.«
»Den Mörder? Auch darüber habe ich nachgedacht. Hier fahren ja Autos vorbei und Leute sind unterwegs aus allen möglichen Gründen. Da ist es schwer zu erraten, ob etwas nicht in Ordnung ist. Ich habe jedenfalls nichts Auffälliges bemerkt. Auf Åkessons Grundstück habe ich auch niemanden gesehen, daran würde ich mich erinnern. In diesem Punkt kann ich Ihnen leider nicht helfen.«