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|14|4. Eine Systematik des Kriminalromans
ОглавлениеZwei Untergattungen des Kriminalromans
Es gibt zwei Grundtypen oder Strukturmodelle (Tiefenstrukturen) des Kriminalromans, den Detektivroman und den Thriller. Wenn von „Grundtypen“ oder „Strukturmodellen“ gesprochen wird, dann ist die Rede von Modellen, also Abstraktionen, die allein durch bestimmte Merkmalskataloge definiert sind. Da literarische Texte keine Abstraktionen sind, kann es hundertprozentige Umsetzungen dieser Modelle nicht geben. Konkrete, real vorliegende Texte entsprechen nie ganz den beiden Strukturmodellen, obwohl die Annäherungen mitunter groß sind, was besonders für den Detektivroman als formelgeleitete Untergattung gilt.
Die Strukturmerkmale des Detektivromans
Der Detektivroman (Rätselroman, whodun[n]it, analytic detective fiction, mystery story, clue-puzzle story, roman policier) wird analytisch erzählt, d.h. das Verbrechen ist schon passiert, wenn die Handlung des Romans anfängt. Der Detektivroman erzählt immer zwei Geschichten, die Geschichte der Ermittlung oder der Aufklärung des Verbrechens (was tut der Detektiv) und die Vorgeschichte des Verbrechens (wer hat aus welchen Gründen und wie das Verbrechen begangen). Diese „Doppelstruktur“ (Todorov 1998 [1966], 209) aus „Verbrechensgeschichte“ und „Aufklärungsgeschichte“ (Schulze-Witzenrath 1998 [1979] ist das definierende Strukturmerkmal der Detektivromans. Die Zeitachsen der beiden Geschichten sind gegenläufig: Die Geschichte der Ermittlung bewegt sich auf die Zukunft zu (was tut der Detektiv als Nächstes), die Geschichte des Verbrechens geht zurück in die Vergangenheit (was hat der Täter getan). Der Detektivroman folgt der Formel: Verbrechen (Rätsel) – Detektion – Lösung. Die Detektion oder Ermittlung bietet dem Detektiv die Gelegenheit, seine jeweils spezifische Methode anzuwenden und kann – mit verschiedenen Gewichtungen – aus den Elementen: genaue Beobachtung des Tatorts und/oder der Leiche, Verhör der Verdächtigen, sowie Bewertung der gesammelten Informationen und Schlussfolgerungen aus den Indizien bestehen.
Der Detektiv
Die Detektivfigur steht im Mittelpunkt des Detektivromans. Als Identifikationsfigur bietet der Detektiv den Lesern die Gelegenheit, sich in die Welt des Detektivromans hineinzuversetzen und die Rolle des positiven Helden zu übernehmen. Es hängt freilich stark von der Ausgestaltung der Figur ab, inwieweit dieses Angebot angenommen wird. Die Funktion des Detektivs ist es, als Agent oder Träger der Ermittlung zu dienen. Diese Rolle kann er auf ganz unterschiedliche Arten ausfüllen. Am einen Extrem liegt der Detektiv als reine Denkmaschine, als Instrument der Informationsverarbeitung und der logischen Schlüsse. Ein solcher Detektiv bewegt sich kaum und sammelt nur Informationen, die andere ihm zukommen lassen – oft durch die Zeitung oder andere Informationsmedien (armchair detective). Die meisten Detektive arbeiten jedoch aktiv mit an der Informationsbeschaffung und verwenden die oben genannten Elemente der Ermittlungsarbeit. Traditionellerweise war der Detektiv ein Exzentriker und Außenseiter, man denke nur an die prototypischen Detektivfiguren C. Auguste Dupin (bei Edgar Allan Poe) oder Sherlock Holmes (bei Arthur Conan Doyle). Gerade bei der Gestaltung der Detektivfigur haben sich in neuerer Zeit jedoch große Wandlungen vollzogen. Dieser Wandel in der Figur des Detektivs geht Hand in Hand mit einer Erweiterung des Schemas des Detektivromans und |15|mit der Verwendung von modernen erzählerischen Verfahren, wie weiter unten noch ausgeführt wird.
Schauplätze und Personenkreis
Die Handlung ist auf einen mehr oder weniger abgeschlossenen Schauplatz (das einsame Landhaus, das College, die Insel, das Schiff, der Zug, das Flugzeug) beschränkt. Dafür wurde der Begriff des „closed room“ („umgrenzten Raumes“, Egloff 1974, 37) geprägt. Die Zahl der Verdächtigen ist auf einen kleinen Kreis von Personen beschränkt und der Täter gehört zu diesem Kreis. Der Detektivroman hat also eine eher „geschlossene“ Struktur, da er einer festen Formel folgt und da der Ort der Handlung und die Zahl der beteiligten Personen eng begrenzt sind.
Rätselspannung und Zukunftsspannung
Der Detektivroman erzeugt zunächst einmal eine Rätselspannung (mystery), die sich auf das analytisch Erzählte, das Vergangene richtet: Was ist (schon) passiert und wer hat es getan? Dazu kommt jedoch auch eine „Zukunftsspannung“ (Suerbaum 1971 [1967], 446), die auf die zweite, chronologisch, „progressiv“ oder vorwärts laufende Zeitachse des Detektivromans gerichtet ist: Wie wird der Detektiv die Lösung finden? Werde ich (der Leser) die Lösung finden? Werde ich die Lösung vor dem Detektiv (oder zumindest vor der Auflösung am Ende) finden?
Spielcharakter
Der Detektivroman hat also Ähnlichkeiten mit einem Wettbewerb oder mit einer Denksportaufgabe, er stellt eine intellektuelle Herausforderung (was besonders von Intellektuellen immer als Rechtfertigung für die Lektüre von Detektivromanen herangezogen wurde). Oft wurde auch der Vergleich mit einem Kreuzworträtsel herangezogen. Als formelgeleitete Gattung und als literarisches Spiel folgt der Detektivroman bestimmten Regeln, deren Status allerdings diskutierbar ist (vgl. Kap. IV.3).
Die Watson-Figur
Dem Detektiv steht oft (aber nicht immer) ein Gefährte zur Seite, der ihm bei der Aufklärung seiner Fälle hilft. Dieser Gefährte, heute üblicherweise nach dem „friend and colleague“ von Sherlock Holmes als „Watson-Figur“ benannt, ist eine Kontrastfigur und kann verschieden Funktionen haben, die in Kapitel IV erläutert werden.
Falsche Fährten (red herrings)
Der Detektivroman inszeniert auch einen Wettbewerb zwischen Täter und Detektiv: Der Täter versucht, seine Identität im Geheimen zu lassen und den Detektiv auf falsche Fährten zu locken. Dazu verwendet er sogenannte „red herrings“ (ein Ausdruck, der auf die Fuchsjagd zurückgeht, bei der ein Fisch über die Spur des Fuchses gezogen wurde, um die verfolgenden Bluthunde von der Fährte abzubringen). Red herrings sind Indizien oder Hinweise, die vom Täter absichtlich gestreut werden, um die Ermittlung in eine falsche Richtung zu lenken und vom wahren Täter abzulenken.
Wertung des Detektivromans
Interessanterweise ist mehrfach argumentiert worden, dass der Detektivroman nicht zur („hohen“) Literatur gehören kann, weil er eine „Variationsgattung“ bzw. Schemaliteratur ist (Suerbaum 1998 [1967], 87;Vogt 2010, 24), weil das den Lesererwartungen widersprechen würde (Sayers 1980 [1929], 77) und weil die ihm angemessene Rezeptionshaltung das nicht zulässt (Schulze-Witzenrath 1998 [1979], 231). All dies schließt freilich nicht aus, dass es sehr gute (und natürlich auch sehr schlechte) Detektivromane gibt.
Die Strukturmerkmale des Thrillers
Der Thriller (auch [psychologischer] Verbrechensroman genannt) wird hauptsächlich synthetisch (chronologisch) erzählt. Der Ablauf der Handlung erfolgt größtenteils linear von der Gegenwart in die Zukunft. Das schließt |16|die Verwendung von Anachronien wie Rückblicke (nach Genette: Analepsen) und besonders Vorausdeutungen (Prolepsen) zur Spannungserzeugung zwar nicht aus, solche Durchbrechungen des linearen zeitlichen Ablaufs sind jedoch meist nur kurze Einschübe. Die Strukturformel des Thrillers lautet: Hinführung zum Verbrechen (Motivation des Täters, Planung) – Verbrechen – Verdunkelung des Verbrechens (oft durch weitere Verbrechen). Der Thriller beginnt nicht wie der Detektivroman mit dem Verbrechen als vollendeter Tatsache, sondern entwickelt erst die Motivation des Täters und die Planung des Mordes. In Thrillern wie Strangers on a Train (1950) oder The Talented Mr. Ripley (1955) von Patricia Highsmith wird dieses Strukturelement auf eindrucksvolle Weise entfaltet. Das Verbrechen selber geschieht dann geradezu zwangsläufig, es ist das Resultat der zuvor entwickelten Motivationen und Planungen. Die Versuche des Täters, seine Täterschaft geheim zu halten bzw. von seiner Tat abzulenken, machen einen wichtigen Teil der Struktur des Thrillers aus und führen oft zu weiteren Verbrechen, die das Geschehen zu einer Spirale der Gewalt machen können. Besonders im Spionage- oder Agentenroman (spy thriller, etwa bei Ian Fleming oder John Le Carré) folgt der Thriller einer Erzählstruktur, die Vladimir Propp schon als eine der Grundtypen (bzw. „Funktionen“ bei Propp 1975 [1929], 26) des Märchens festgestellt hatte: Der Held und sein Gegenspieler (in den James Bond Romanen oder Filmen z.B. also James Bond und ein Agent von „SPECTRE“) kämpfen um den Sieg (die Rettung der Welt vor einem terroristischen Anschlag). In diesem Erzählmodell geht es nicht wie im Detektivroman darum, die Wahrheit zu entdecken, sondern darum, welcher der beiden Gegner am Ende sieghaft aus ihrem Zweikampf hervorgeht. Mit einem Thriller meint man also „zumeist Handlungsverläufe, die nach dem Muster des Wettstreits aufgebaut sind“ (Schärf 2013, 112). Weil dieses Modell der Struktur der Abenteuererzählung folgt, verwendet es auch mehr action-Elemente, also Handlungselemente, die sich durch direktes körperliches (und gewaltsames) Eingreifen auszeichnen, wiederum im Gegensatz zum Detektivroman, der die Gedankentätigkeit des Ermittlers in den Vordergrund stellt.
Rätselspannung und Angstspannung
Während der Detektivroman vorwiegend „Geheimnis- oder Rätselspannung“ (Suerbaum 1998 [1967], 89) und jene Art von Zukunftsspannung erzeugt, die auf die Ermittlung des Täters gerichtet ist, sind im Thriller die auf die weiterführende Handlung gerichtete Zukunftsspannung (was wird [noch] passieren?) und die Angstspannung [suspense] primär. Der Text erzeugt Fragen wie: Wird das Verbrechen wirklich so wie geplant passieren? Hat das Opfer vielleicht noch eine Chance? Wen wird es noch treffen? Wird der Täter entdeckt und zur Rechenschaft gezogen? Im Detektivroman ist die Spannung ein intellektuelles Phänomen, im Thriller dagegen ist sie etwas, das die Leser auf einer sehr viel emotionaleren und affektbehafteten Ebene betrifft. In der Tradition der Rhetorik wurde Spannung mit dem Wechselspiel von Furcht und Hoffnung (spes und metus) gleichgesetzt (Anz 2002, 150). Dies entspricht der Erzeugung von Spannung im Thriller, nicht aber der im Detektivroman, wo man Spannung eher als Mangel an Information definieren könnte (Wer war der Täter?).
Täter oder Opfer statt Detektiv
Im Thriller stehen nicht der Detektiv und seine Fähigkeiten der Deduktion im Mittelpunkt des Interesses sondern der Täter und/oder das Opfer. Detektivfiguren spielen, wenn sie überhaupt auftreten, nur eine Nebenrolle. Der |17|oder die Täter stehen entweder einem Gegenspieler gegenüber oder einer Umwelt, vor der sie ihr verbrecherisches Geheimnis verbergen müssen. In den geneinsam von Pierre Boileau (1906–1989) und Thomas Narcejac (1908–1998) verfassten Kriminalromanen werden auf programmatische Weise die jeweiligen Opfer in den Mittelpunkt der Handlung gerückt.
Psychologische Vertiefung der Figuren
Im Detektivroman sind die Figuren in erster Linie Verkörperungen von Funktionen (der Detektiv, die Verdächtigen, der Täter). Genauere Beschreibungen ihrer Gedanken oder Gefühle oder überhaupt Einblicke in ihr Bewusstsein sind nicht nur unerwünscht, sie gelten sogar als Fehler. Sogar die Motivationen der Täter werden nur in ganz allgemeinen Kategorien wie Geldgier, Eifersucht, Angst vor sozialem Ostrazismus und dergleichen erfasst. Im Thriller dagegen werden solche Motivationen viel stärker in den Mittelpunkt gerückt. Sie werden breiter beschrieben, im jeweiligen sozialen Kontext und eventuell auch im Vorleben der Täter, besonders ihrer Kindheit, verortet und als Ausdruck zeithistorischer Umstände (z.B. die wirtschaftliche Depression in den USA während der dreißiger Jahre) verstanden.
Offene Struktur
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass zwar auch der Thriller einem mehr oder weniger ausgeprägten Schema folgt, dass seine Struktur aber weitaus offener ist als die des Detektivromans. Im Gegensatz zu diesem zeigt der Thriller eine Welt, die ihre Bedrohlichkeit aus der Unabgeschlossenheit seiner Strukturelemente bezieht. Die Zeitachse ist nach vorn gerichtet, in eine Zukunft, die grundsätzlich unbestimmt ist, nicht in eine Vergangenheit, die bei allem Schrecken doch schon abgeschlossen ist. Demgemäß bezieht sich die Spannung auf das, was noch passieren kann, nicht auf das, was schon passiert ist. Der Kreis der Täter ist nicht beschränkt, der Täter kann ein Jedermann, ein Mensch aus der Masse, ein ganz durchschnittlicher Mensch sein (und ist dies auch oft). Der Tatort ist zwar naturgemäß ein ganz bestimmter Ort, der Schauplatz der Handlung des Thrillers ist aber nicht beschränkt auf einen inselartigen Ausschnitt der Welt. Im Thriller bewegen sich die Figuren durch die Welt und erzeugen so eine Dynamik, die ihre Offenheit demonstriert. In Kapitel IV.5 wird näher auf die Geschichte und die Variationsbreite des Thrillers eingegangen.